Meiner auch
Die Wahrscheinlichkeit, dass der deutsche Kanzler schneller scheitert, als er denkt, steigt. Schade.
Hans-Hermann Tiedje, 22.11.2025, 7 Min
Der Mann berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. Vielleicht nicht bei allen, aber bei mir. Ich kenne Friedrich Merz fast 25 Jahre, und ich habe immer eine hohe Meinung von ihm gehabt. Ich habe ihn mir als Kanzler gewünscht, leider kam Merkel dazwischen.
Heute ist diese Dame die Spukgestalt der Union. In den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft hat sie Fehler über Fehler gemacht, die jedermann – auch der Dümmste – heute begreift, die sie aber in der Rückschau nicht erkennen kann oder will. Mediziner nennen so etwas Amnesie, darunter leiden nicht nur Politiker.
Friedrich Merz ist unverändert ein begnadeter Redner. Er kann Sachverhalte auf den Punkt bringen, er kann nachvollziehbar argumentieren, er kann zuhören. Aber er neigt zu spontanen Ankündigungen, die ihm unmittelbar danach um die Ohren fliegen.
Viel versprochen, wenig gehalten
Kurz vor der Bundestagswahl im Februar verkündete Merz quasi ein Dogma: Die Schuldenbremse bleibt! Ob Sie es glauben oder nicht: Deshalb habe ich ihn gewählt. Nicht einmal vierzehn Tage nach der Wahl dann der Schuldenhammer: eine Billion «Sondervermögen», also neue Schulden.
Was soll ich als Wähler davon halten? Ist Merz über Nacht so viel schlauer geworden? Bei seiner Intelligenz eher unwahrscheinlich. Hat er die Wähler angeschwindelt? Falls nein: Kam über Nacht die Erkenntnis über ihn, oder wie oder was? Falls ja: Wie oft, glaubt er, kann er so etwas dem Wähler noch zumuten?
Friedrich Merz wollte die AfD halbieren. Das war seine Ansage. Jetzt liegt die Alternative für Deutschland, gegründet als Alternative zur unseligen Merkel, vor der Union, auf jeden Fall aber auf Augenhöhe. Merz ist Kanzler, aber in welchen schlimmen Abhängigkeiten?
Die größte ist Die Linke. Früher SED, dann SED-PDS, danach PDS, dann Die Linkspartei, heute besagte Die Linke. Die SED war die Partei, in deren Auftrag Zehntausende Sozialdemokraten ihrer Freiheit beraubt und misshandelt wurden und Unzählige an Mauer und Todesstreifen hinterrücks erschossen.
Sigmar Gabriel, vormals Vorsitzender und das letzte Großkaliber der SPD, sagte im Frühjahr 2025 in Leipzig öffentlich über Heidi Reichinnek, die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag: «Die redet heute den gleichen Scheiß wie ich vor dreißig Jahren.» Und auf diese Linke stützt sich die Merz-Union, zum Beispiel bei der Wahl von Verfassungsrichtern. Wie tief kann sie noch sinken? Auch das wird darüber entscheiden, was aus CDU und CSU wird.
Merz und seine Ankündigungen. Beispiel: der Marschflugkörper Taurus. Als Oppositionsführer stellte er der Ukraine diese Abwehrwaffe in Aussicht, seit er Kanzler ist, hat sich’s ausgeflogen. Abschreckung sieht anders aus. Und Glaubwürdigkeit auch.
Merz ist, völlig zu Recht, ein massiver Gegner der Publikumsbelästigungssprache Gendern. Merz 2022 im ZDF: «Privat kann jeder gendern, wie er will. Aber Fernsehzuschauer, die Gebühren bezahlen müssen, haben einen Anspruch darauf, dass sich Moderatoren an die Regeln der deutschen Sprache halten. Gendern ist damit nicht vereinbar, und 80 Prozent der Bevölkerung wollen das auch nicht.» Bravo! Ja, und was bedeutete das nun konkret?
Die Damen und Herren Moderatoren von ARD und ZDF ziehen ihr Ding weiter durch. Ob Merz etwas sagt oder in Lübeck ein Fahrrad umfällt: In diesen Kreisen spielt der Zuschauer sowieso keine Rolle, und die Merz-Union nimmt es in den Gremien klaglos zur Kenntnis.
Nächstes Beispiel: Für Saarbrücken zum Tag der Deutschen Einheit hatte Merz eine «Ruckrede» in Aussicht gestellt. Ich habe genau zugehört: Es wurde keine Ruckrede, nicht einmal eine Seifenblase oder wenigstens ein Bäuerchen. Es wurde eine Rede, wie sie die Deutschen vom Bundespräsidenten seit Jahren zu Weihnachten hören und sehen.
Merz und die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen: Er wollte die Staatsfinanzierung abschaffen. Aber abgeschafft wurde nichts. Und das Bürgergeld? Wird umbenannt, und für die Neufinanzierung der Renten wird eine Kommission eingesetzt, die in einem Jahr zusammentritt. Was soll das? Die Kommission hat aber auch nur die gleichen Zahlen wie die Regierung. Wenn die Junge Union heute gegen die Rentenpolitik des Kanzlers rebelliert, vertritt sie die Überzeugungen, die früher diejenigen von Merz waren. Da war er aber noch nicht Kanzler.
Zur Entschuldigung des Kanzlers: Die Funktionärspartei SPD hängt Merz am Bein wie ein Mühlstein. Ihre Klientel, die Arbeiterschaft, hat sie längst aus den Augen verloren. Zwei Drittel der Arbeiter wählen heute die AfD. Das ist auch eine Flucht vor der SPD. Der Parteigründer August Bebel hatte diese Maxime: «Wer nicht arbeitet (gemeint ist: aber arbeiten kann), soll nicht essen.»
Wer heute so etwas in der SPD sagt, wird geächtet. Solange die Arbeiter die SPD wählten, waren sie gute Menschen und Demokraten. Jetzt, bei der AfD, sind sie auf einmal «Nazis». Warum sollten sie zur SPD zurückkehren? Wer glaubt, dass die heutige Funktionärs-SPD noch einmal zu alter Stärke kommt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.
Deutschland braucht einen Macher, keinen Redner
Wobei wir beim «Stadtbild» wären. Das ist ein Volltreffer von Friedrich Merz. Diejenigen, die sich über diese Formulierung empören, sind vielleicht in Berlin am Alexanderplatz in der Mehrheit, aber nicht in Deutschland. Zum Stadtbild gehörten früher nämlich nicht Poller vor Weihnachtsmärkten, die heute von woken und anderen Menschen zur Sicherheit lieber «Wintermärkte» genannt werden. Über Kriminalität und ihre Sichtbarkeit in großen Städten muss niemand diskutieren. Und über Ursachen und Gründe auch nicht.
Summa summarum: Die SPD wird schwach bleiben, eher noch schwächer werden. Aber Merz wird das nichts nutzen. Anstatt den CEO der Bundesrepublik Deutschland zu verkörpern, spielt er lieber den Oberaußenminister. Ich finde, Johann Wadephul mit seiner bedächtig wohltuenden Art hat den richtigen Posten. Was muss da der Bundeskanzler als Komparse in Sharm al-Sheikh herumstehen? Wieso werden Gaza 200 Millionen Euro Aufbauhilfe zur Verfügung gestellt?
Mit 200 Millionen Euro könnte man in Deutschland viel bewegen, vor allem Wahlen. Die werden über die Innenpolitik entschieden und die Lösung der Probleme vor Ort. Da kommt Merz nicht voran. Wir brauchen keine Kommissionen, keine Appelle, wir brauchen keine Arbeitskreise, wir brauchen den oder die Macher.
Dass Merz richtig denkt, steht außer Frage, aber ist er ein Macher? Oder weicht er Problemen aus? Sein selbstgewählter Umgang mit der AfD spricht dafür. Der führt in die Irre, und zwar ihn selbst. Vernünftig wäre gewesen, die «Brandmauer» oder die «roten Linien» zu definieren. Was die Union von der AfD erwartet: Parteiausschluss von echten Nazis, Abstand zu Putin, ein Ja zur Nato und zur EU als Fundament in Finanzfragen und Fällen der Menschenrechte.
Dann hätte die AfD sich entscheiden können. So kommt es zu der absurden Situation, dass die Union Gesetzesvorschläge nicht einbringt, weil die AfD zustimmen könnte. Ein CDU/CSU-Vorschlag wird nicht dadurch schlecht, dass die AfD zustimmt, weil sie zur gleichen Erkenntnis gekommen ist. Eine solche Politik führt garantiert zu weiterem Wählerverdruss – auf Kosten der Union.
Am 11. November wurde Friedrich Merz 70 Jahre alt. Er ist jetzt ein halbes Jahr Regierungschef. Es könnte sein, dass er der längste Kanzler (1,98 Meter Körpergröße) der Bundesrepublik wird mit der kürzesten Regierungszeit.
Die Nagelprobe kommt schnell, nämlich am 6. September 2026. Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Letzte Umfragen: AfD 40 Prozent, CDU 26, Linke 11, BSW 6, SPD ebenfalls 6. Wenn das BSW einen Schritt Richtung AfD unternimmt, ist es selbst in der Regierung, und die AfD stellt den Ministerpräsidenten.
Ob Merz bei solchen Zahlen noch Kanzler bleibt? Zwei gegenwärtige Ministerpräsidenten, die sich sicher für geeignet halten, warten garantiert auf den Ruf der Geschichte. Markus Söder und Hendrik Wüst. Bei Frauen ist Wüst schon heute doppelt so beliebt wie Merz.
Söder und Wüst haben schon vor 18 Jahren, als sie beide noch politisch Auszubildende waren, gemeinsam eine Denkschrift verfasst. Titel: «Moderner bürgerlicher Konservatismus. Warum die Union wieder mehr an ihre Wurzeln denken muss». Man könnte dieses Papier auch als Leitfaden auf dem Weg zur Macht lesen.
Merz hat sich verstrickt in der «Brandmauer». Andere beschwören «rote Linien». Weil aber die AfD in den neuen Bundesländern so stark ist und die Union sich so selbstbewusst gibt: Warum redet sie da nicht gleich vom «Eisernen Vorhang» – der diskriminiert noch mehr. Da weiß vor allen Dingen zwischen Elbe und Oder gleich jeder, was gemeint ist.
Am klügsten hat sich in diesem Tohuwabohu der Begriffe die langjährige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff geäußert. Sie schlug vor, «dass man Brandmauern nicht gegen bestimmte Parteien errichtet, sondern gegen rechts- und verfassungswidrige Entscheidungen und gegen ungeeignete Kandidaten, die nicht verlässlich auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen». Wie wäre es, wenn man sich mit dieser Erkenntnis einmal näher beschäftigt?
Aber wenn nun alles nicht greift? Dann geht die Union den Weg der Democrazia Cristiana. 48 Jahre, von 1945 bis 1993, bestimmte die Schwesterpartei von CDU und CSU Italiens Politik, heute steht sie auf der Resterampe mit 8 Prozent. Das Schlimme für Italiens Christlichdemokraten: Italien ist auch unter Berlusconi und Meloni (im öffentlichrechtlichen Rundfunk wird sie meist als Postfaschistin eingeordnet) nicht untergegangen.
Noch hat Merz nicht verloren, aber das Land schon wieder ein halbes Jahr. Noch ist Merz nicht gescheitert, aber es wird Zeit, dass er zum Macher wird, wenn er es denn kann. Mit Großkanzlern wie Adenauer oder Kohl wird er nicht konkurrieren, dafür ist er schon zu alt. Aber er könnte sich ein Vorbild nehmen: Der letzte Kanzler, der für Deutschland etwas Großes geleistet hat, war Gerhard Schröder. Von 2002 bis 2005.
Hans-Hermann Tiedje war Chefredakteur von «Bild» und persönlicher Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und ist Anteilseigner der Kommunikationsagentur WMP Eurocom AG in Berlin.
Friedrich Merz ist unverändert ein begnadeter Redner. Er kann Sachverhalte auf den Punkt bringen, er kann nachvollziehbar argumentieren, er kann zuhören. Aber er neigt zu spontanen Ankündigungen, die ihm unmittelbar danach um die Ohren fliegen.
Viel versprochen, wenig gehalten
Kurz vor der Bundestagswahl im Februar verkündete Merz quasi ein Dogma: Die Schuldenbremse bleibt! Ob Sie es glauben oder nicht: Deshalb habe ich ihn gewählt. Nicht einmal vierzehn Tage nach der Wahl dann der Schuldenhammer: eine Billion «Sondervermögen», also neue Schulden.
Was soll ich als Wähler davon halten? Ist Merz über Nacht so viel schlauer geworden? Bei seiner Intelligenz eher unwahrscheinlich. Hat er die Wähler angeschwindelt? Falls nein: Kam über Nacht die Erkenntnis über ihn, oder wie oder was? Falls ja: Wie oft, glaubt er, kann er so etwas dem Wähler noch zumuten?
Friedrich Merz wollte die AfD halbieren. Das war seine Ansage. Jetzt liegt die Alternative für Deutschland, gegründet als Alternative zur unseligen Merkel, vor der Union, auf jeden Fall aber auf Augenhöhe. Merz ist Kanzler, aber in welchen schlimmen Abhängigkeiten?
Die größte ist Die Linke. Früher SED, dann SED-PDS, danach PDS, dann Die Linkspartei, heute besagte Die Linke. Die SED war die Partei, in deren Auftrag Zehntausende Sozialdemokraten ihrer Freiheit beraubt und misshandelt wurden und Unzählige an Mauer und Todesstreifen hinterrücks erschossen.
Sigmar Gabriel, vormals Vorsitzender und das letzte Großkaliber der SPD, sagte im Frühjahr 2025 in Leipzig öffentlich über Heidi Reichinnek, die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag: «Die redet heute den gleichen Scheiß wie ich vor dreißig Jahren.» Und auf diese Linke stützt sich die Merz-Union, zum Beispiel bei der Wahl von Verfassungsrichtern. Wie tief kann sie noch sinken? Auch das wird darüber entscheiden, was aus CDU und CSU wird.
Merz und seine Ankündigungen. Beispiel: der Marschflugkörper Taurus. Als Oppositionsführer stellte er der Ukraine diese Abwehrwaffe in Aussicht, seit er Kanzler ist, hat sich’s ausgeflogen. Abschreckung sieht anders aus. Und Glaubwürdigkeit auch.
Merz ist, völlig zu Recht, ein massiver Gegner der Publikumsbelästigungssprache Gendern. Merz 2022 im ZDF: «Privat kann jeder gendern, wie er will. Aber Fernsehzuschauer, die Gebühren bezahlen müssen, haben einen Anspruch darauf, dass sich Moderatoren an die Regeln der deutschen Sprache halten. Gendern ist damit nicht vereinbar, und 80 Prozent der Bevölkerung wollen das auch nicht.» Bravo! Ja, und was bedeutete das nun konkret?
Die Damen und Herren Moderatoren von ARD und ZDF ziehen ihr Ding weiter durch. Ob Merz etwas sagt oder in Lübeck ein Fahrrad umfällt: In diesen Kreisen spielt der Zuschauer sowieso keine Rolle, und die Merz-Union nimmt es in den Gremien klaglos zur Kenntnis.
Nächstes Beispiel: Für Saarbrücken zum Tag der Deutschen Einheit hatte Merz eine «Ruckrede» in Aussicht gestellt. Ich habe genau zugehört: Es wurde keine Ruckrede, nicht einmal eine Seifenblase oder wenigstens ein Bäuerchen. Es wurde eine Rede, wie sie die Deutschen vom Bundespräsidenten seit Jahren zu Weihnachten hören und sehen.
Merz und die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen: Er wollte die Staatsfinanzierung abschaffen. Aber abgeschafft wurde nichts. Und das Bürgergeld? Wird umbenannt, und für die Neufinanzierung der Renten wird eine Kommission eingesetzt, die in einem Jahr zusammentritt. Was soll das? Die Kommission hat aber auch nur die gleichen Zahlen wie die Regierung. Wenn die Junge Union heute gegen die Rentenpolitik des Kanzlers rebelliert, vertritt sie die Überzeugungen, die früher diejenigen von Merz waren. Da war er aber noch nicht Kanzler.
Zur Entschuldigung des Kanzlers: Die Funktionärspartei SPD hängt Merz am Bein wie ein Mühlstein. Ihre Klientel, die Arbeiterschaft, hat sie längst aus den Augen verloren. Zwei Drittel der Arbeiter wählen heute die AfD. Das ist auch eine Flucht vor der SPD. Der Parteigründer August Bebel hatte diese Maxime: «Wer nicht arbeitet (gemeint ist: aber arbeiten kann), soll nicht essen.»
Wer heute so etwas in der SPD sagt, wird geächtet. Solange die Arbeiter die SPD wählten, waren sie gute Menschen und Demokraten. Jetzt, bei der AfD, sind sie auf einmal «Nazis». Warum sollten sie zur SPD zurückkehren? Wer glaubt, dass die heutige Funktionärs-SPD noch einmal zu alter Stärke kommt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.
Deutschland braucht einen Macher, keinen Redner
Wobei wir beim «Stadtbild» wären. Das ist ein Volltreffer von Friedrich Merz. Diejenigen, die sich über diese Formulierung empören, sind vielleicht in Berlin am Alexanderplatz in der Mehrheit, aber nicht in Deutschland. Zum Stadtbild gehörten früher nämlich nicht Poller vor Weihnachtsmärkten, die heute von woken und anderen Menschen zur Sicherheit lieber «Wintermärkte» genannt werden. Über Kriminalität und ihre Sichtbarkeit in großen Städten muss niemand diskutieren. Und über Ursachen und Gründe auch nicht.
Summa summarum: Die SPD wird schwach bleiben, eher noch schwächer werden. Aber Merz wird das nichts nutzen. Anstatt den CEO der Bundesrepublik Deutschland zu verkörpern, spielt er lieber den Oberaußenminister. Ich finde, Johann Wadephul mit seiner bedächtig wohltuenden Art hat den richtigen Posten. Was muss da der Bundeskanzler als Komparse in Sharm al-Sheikh herumstehen? Wieso werden Gaza 200 Millionen Euro Aufbauhilfe zur Verfügung gestellt?
Mit 200 Millionen Euro könnte man in Deutschland viel bewegen, vor allem Wahlen. Die werden über die Innenpolitik entschieden und die Lösung der Probleme vor Ort. Da kommt Merz nicht voran. Wir brauchen keine Kommissionen, keine Appelle, wir brauchen keine Arbeitskreise, wir brauchen den oder die Macher.
Dass Merz richtig denkt, steht außer Frage, aber ist er ein Macher? Oder weicht er Problemen aus? Sein selbstgewählter Umgang mit der AfD spricht dafür. Der führt in die Irre, und zwar ihn selbst. Vernünftig wäre gewesen, die «Brandmauer» oder die «roten Linien» zu definieren. Was die Union von der AfD erwartet: Parteiausschluss von echten Nazis, Abstand zu Putin, ein Ja zur Nato und zur EU als Fundament in Finanzfragen und Fällen der Menschenrechte.
Dann hätte die AfD sich entscheiden können. So kommt es zu der absurden Situation, dass die Union Gesetzesvorschläge nicht einbringt, weil die AfD zustimmen könnte. Ein CDU/CSU-Vorschlag wird nicht dadurch schlecht, dass die AfD zustimmt, weil sie zur gleichen Erkenntnis gekommen ist. Eine solche Politik führt garantiert zu weiterem Wählerverdruss – auf Kosten der Union.
Am 11. November wurde Friedrich Merz 70 Jahre alt. Er ist jetzt ein halbes Jahr Regierungschef. Es könnte sein, dass er der längste Kanzler (1,98 Meter Körpergröße) der Bundesrepublik wird mit der kürzesten Regierungszeit.
Die Nagelprobe kommt schnell, nämlich am 6. September 2026. Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Letzte Umfragen: AfD 40 Prozent, CDU 26, Linke 11, BSW 6, SPD ebenfalls 6. Wenn das BSW einen Schritt Richtung AfD unternimmt, ist es selbst in der Regierung, und die AfD stellt den Ministerpräsidenten.
Ob Merz bei solchen Zahlen noch Kanzler bleibt? Zwei gegenwärtige Ministerpräsidenten, die sich sicher für geeignet halten, warten garantiert auf den Ruf der Geschichte. Markus Söder und Hendrik Wüst. Bei Frauen ist Wüst schon heute doppelt so beliebt wie Merz.
Söder und Wüst haben schon vor 18 Jahren, als sie beide noch politisch Auszubildende waren, gemeinsam eine Denkschrift verfasst. Titel: «Moderner bürgerlicher Konservatismus. Warum die Union wieder mehr an ihre Wurzeln denken muss». Man könnte dieses Papier auch als Leitfaden auf dem Weg zur Macht lesen.
Merz hat sich verstrickt in der «Brandmauer». Andere beschwören «rote Linien». Weil aber die AfD in den neuen Bundesländern so stark ist und die Union sich so selbstbewusst gibt: Warum redet sie da nicht gleich vom «Eisernen Vorhang» – der diskriminiert noch mehr. Da weiß vor allen Dingen zwischen Elbe und Oder gleich jeder, was gemeint ist.
Am klügsten hat sich in diesem Tohuwabohu der Begriffe die langjährige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff geäußert. Sie schlug vor, «dass man Brandmauern nicht gegen bestimmte Parteien errichtet, sondern gegen rechts- und verfassungswidrige Entscheidungen und gegen ungeeignete Kandidaten, die nicht verlässlich auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen». Wie wäre es, wenn man sich mit dieser Erkenntnis einmal näher beschäftigt?
Aber wenn nun alles nicht greift? Dann geht die Union den Weg der Democrazia Cristiana. 48 Jahre, von 1945 bis 1993, bestimmte die Schwesterpartei von CDU und CSU Italiens Politik, heute steht sie auf der Resterampe mit 8 Prozent. Das Schlimme für Italiens Christlichdemokraten: Italien ist auch unter Berlusconi und Meloni (im öffentlichrechtlichen Rundfunk wird sie meist als Postfaschistin eingeordnet) nicht untergegangen.
Noch hat Merz nicht verloren, aber das Land schon wieder ein halbes Jahr. Noch ist Merz nicht gescheitert, aber es wird Zeit, dass er zum Macher wird, wenn er es denn kann. Mit Großkanzlern wie Adenauer oder Kohl wird er nicht konkurrieren, dafür ist er schon zu alt. Aber er könnte sich ein Vorbild nehmen: Der letzte Kanzler, der für Deutschland etwas Großes geleistet hat, war Gerhard Schröder. Von 2002 bis 2005.
Hans-Hermann Tiedje war Chefredakteur von «Bild» und persönlicher Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und ist Anteilseigner der Kommunikationsagentur WMP Eurocom AG in Berlin.

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen