18 November 2025

Der andere Blick - Der aktuelle Rentenstreit lässt das eigentliche Problem ausser acht: Ein Systemwechsel ist dringend notwendig (NZZ=

Der andere Blick
Der aktuelle Rentenstreit lässt das eigentliche Problem ausser acht: Ein Systemwechsel ist dringend notwendig (NZZ)
Statt Flickschusterei an einem maroden System zu betreiben, sollte die Koalition die Chance auf eine echte Rentenreform ergreifen. Es geht längst um mehr als Generationengerechtigkeit. Es geht um den Wirtschaftsstandort Deutschland.
von Susann Kreutzmann 18.11.2025, 4Min
Der Wirtschaftsweise Martin Werding hat der derzeitigen Regierung ein vernichtendes Zeugnis im Rentenstreit ausgestellt. Dieser sei «kein seriöser Umgang mit dem Alterungsprozess» und dem, was noch auf die Deutschen zukomme, sagte er kürzlich. Das ist keine Übertreibung.
Die Debatte über eine Festschreibung des Rentenniveaus lässt das wirkliche Problem ausser acht. Es geht um Flickschusterei an einem völlig überholten und kaputten Rentensystem.
Solange nicht wirklich eine tiefgreifende Reform angegangen wird, muss die Rentenkasse jedes Jahr mit dreistelligen Milliardenbeträgen gestützt werden – zugleich steigen die Beiträge immer weiter. Volkswirtschaftlich ist das ein Ritt auf der Rasierklinge, der nicht gutgehen kann.
Die Abgeordneten der Jungen Union haben durchaus recht, wenn sie auf eine Zusatzbelastung von etwa 120 Milliarden Euro ab dem Jahr 2031 verweisen und deshalb den von der sozialdemokratischen Arbeitsministerin Bärbel Bas vorgelegten Gesetzentwurf ablehnen. Für sie ist vor allem die Frage offen, ab welchem Ausgangsniveau die Rente nach diesem Stichtag berechnet wird.
Doch es ist völlig unerheblich, wann welche Sicherungslinien eingebaut werden. Beim jetzigen Rentensystem zieht immer eine Gruppe den Kürzeren: die jüngeren Einzahler. Das System ist nicht nur finanziell unhaltbar, es ist auch komplett ungerecht geworden.
Das Umlageverfahren funktioniert nicht mehrDas vor rund achtzig Jahren von der Adenauer-Regierung eingeführte Umlageverfahren basiert auf der irrigen Annahme, dass die Zahl der Erwerbstätigen im Verhältnis zu den Ruheständlern gleich bleibt. Und es geht von einer stetig wachsenden Wirtschaftsleistung aus. Das mag in den 1960er Jahren, der Zeit des Wirtschaftswunders, noch funktioniert haben. Doch schon danach begann es zu bröckeln.

Das 1957 von dem Wirtschaftsprofessor Wilfrid Schreiber erdachte Umlageverfahren, das auf einem sogenannten Generationenvertrag basiert, war damals ein grosser Fortschritt. Bei Einführung lag das Rentenniveau bei 70 Prozent des Bruttoeinkommens.

Damals ging die Rechnung noch auf: Sechs Erwerbstätige erwirtschafteten die Rente von einem Ruheständler. Heute ist das Verhältnis auf weniger als zwei zu eins geschrumpft: 33,4 Millionen Erwerbstätige zahlen in die Rentenkasse ein und finanzieren rund 22 Millionen Pensionisten.

Das Umlageverfahren ist zum kostspieligen Bremsklotz geworden. Rund 30 Prozent der Ausgaben der Rentenkasse übernimmt der Steuerzahler, derzeit etwa 122 Milliarden Euro pro Jahr. Dabei hatte Wilfrid Schreiber Steuergeld in der Rentenkasse einst strikt ausgeschlossen.

Die Rente ist wohl das eklatanteste Beispiel in der Sozialpolitik, vor dem Politiker jahrzehntelang die Augen verschlossen haben. Denn die demografische Entwicklung und damit das Auseinanderbrechen des Generationenvertrages kamen nicht über Nacht, sie kündigten sich an.
Parteien beschenken ältere Wähler

Der Bundesregierung ist das Problem durchaus bekannt. Kanzler Friedrich Merz verweist im gegenwärtigen Streit auf eine noch einzusetzende Rentenkommission, die über die grossen Reformen nachdenken soll. Doch es gibt bereits Gutachten, wie auch vom Sachverständigenrat, die Alternativen aufzeigen und diese vorgerechnet haben. Das Problem liegt, wie in der Politik so oft, nicht in der Erkenntnis, sondern in der Umsetzung. Es fehlt der Mut, den Deutschen wirklich etwas zuzumuten.

Das jetzige Rentensystem wird auch deshalb wie eine heilige Kuh gehütet, weil es Pfründen sichert. Bei den Sozialdemokraten ist der Anteil der über 60-jährigen Wähler überproportional hoch, er steigt bei den über 70-Jährigen nochmals an. Die Angst vor Altersarmut oder gar Rentenkürzungen, die per Gesetz ausgeschlossen sind, verfängt hier besonders.

Bei der Union sieht es nur ein wenig besser aus. Auch die Wähler von CDU und CSU sind älter. Die Christlichsozialen setzten ausserdem das kostspielige Wahlgeschenk einer Mütterrente durch, die rund 4,5 Milliarden Euro pro Jahr kostet.
Werding erwartet zehn bis fünfzehn harte Jahre

Wer aber denkt, Parteien mit einer jüngeren Wählerschaft seien beim Thema Rente zukunftsfester aufgestellt, der irrt gewaltig. Hier sticht besonders die AfD heraus, die ein Rentenniveau von 70 Prozent des letzten Nettoeinkommens anstrebt.

Die Linkspartei verspricht als «Sofortmassnahme» ein Anheben des Rentenniveaus auf 53 Prozent. Seriöse Finanzierungsvorschläge machen beide Parteien nicht. Wenn es um die Zukunft des Rentensystems geht, sind allerdings alle derzeit im Bundestag vertretenen Parteien blank. Hier hätte es einer FDP bedurft.

Nachdrücklich mahnt der Ökonom Martin Werding deshalb eine vorausschauende Politik an. Deutschland stünden zehn bis fünfzehn «relativ harte Jahre in der Rentenpolitik bevor», sagte er. Erst dann würde eine kapitalgedeckte Rente eine auskömmliche Zusatzversorgung hervorbringen. «Diesen Umschaltprozess muss man eben einmal angehen, sonst wird es nie was.»

Im derzeitigen Rentenstreit zwischen den jungen Abgeordneten und der restlichen Koalition geht es also um weit mehr als einen Generationenkonflikt. Es geht um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

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