Für diese Erkenntnis ist Cicero quer durch die Republik gereist, um Eindrücke zu sammeln und nach Ursachen zu forschen. Selbst wenn Sie nicht an diesen Orten leben, werden Sie Elemente der gezeigten Entwicklungen auch aus Ihrer Heimat kennen. Denn Deutschland befindet sich auf einem kontinuierlichen Pfad der Entfremdung, der die Bürger zum Rückzug ins Private nötigt. Diese Entfremdung hat viele Gesichter. Heute blicken wir in einige von ihnen.
Sonneberg – Ein einstiges Idyll
Beginnen wir unsere Reise in Sonneberg, einer Kleinstadt im fränkischen Thüringen. Fachwerkhäuschen zieren das schmucke Städtchen nahe der bayerischen Grenze, die Fußgängerzone mit ihren kleinen Fachgeschäften, Märkten und Cafés ist der Begegnungsort der knapp 23 000 Einwohner zählenden Kreisstadt. Unbedarfte, die an einem sonnigen Tag durch das Zentrum schlendern, begegnen einem Idyll.
Doch
wenn man mit den Menschen vor Ort spricht, dann bekommt man das Gefühl,
dass hier gar nichts mehr idyllisch ist. Die Stadt habe sich in den
vergangenen zehn Jahren stark verändert und sei kaum wiederzuerkennen,
sagen Anwohner. Ihr Hauptthema: Migration. „Früher gab es hier kaum
Ausländer, heute hört man nach Anbruch der Dunkelheit kein Deutsch mehr
auf der Straße“, sagt eine Frau, 43 Jahre alt, Mutter von vier Kindern.
Sofort schiebt sie Sätze der Beschwichtigung nach. Die Menschen hier
kennen das Spiel noch aus DDR-Zeiten. Damals gab es eine für die
Öffentlichkeit bestimmte Meinung und eben das, was man in vertrauter
Runde oder im Kreis der Familie sagte. Mittlerweile ist dieser Eiertanz
auch für Menschen im Westen zur Gewohnheit geworden. „Ich habe nichts gegen Ausländer“,
sagt sie und hält auf der Suche nach Worten kurz inne. Aber sie traue
sich abends nicht mehr ins Zentrum, weil sich dort zu dieser Zeit
ausschließlich junge fremde Männer aufhielten. Zudem sei es kaum noch
möglich, eine Sozialwohnung oder Termine beim Amt oder beim Arzt zu
bekommen. „Das ist alles sehr viel für uns, wir sind das halt nicht
gewohnt.“
Seit Beginn der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hat sich Deutschland sichtbar verändert, nicht nur in Sonneberg, sondern überall. Viele der öffentlichen Plätze der Bundesrepublik, ob Bahnhöfe, Parks oder Marktplätze, sind zu Mahnmalen des Versagens der deutschen Migrationspolitik geworden. Wo man auch hinkommt, nahezu überall beklagen sich Anwohner, oft hinter vorgehaltener Hand, über Gruppen von jungen männlichen Migranten, die augenscheinlich ohne Perspektive, Aufgabe oder Tagesstruktur öffentliche Plätze belagern. Was sollen sie auch anderes tun, wenn sie in überfüllten Unterkünften und in langwierigen Aufenthaltsverfahren gefangen sind, niederschwellige Jobangebote für sie fehlen und sie kaum eine Möglichkeit haben, hierzulande soziale Bindungen aufzubauen? Zumal es an sich ja auch nicht verwerflich ist, seine Freizeit im Stadtbild zu verbringen anstatt zu Hause im Wohnzimmer.
Auf der anderen Seite fällt Einheimischen
Gastfreundschaft schwer, wenn sie Neubürger nicht als Kollegen in der
Firma oder als Dienstleister kennenlernen, sondern als herumlungernde Männergruppen am örtlichen Bahnhof,
für deren Anwesenheit sie auch noch bezahlen müssen. Dieses Problem ist
für jeden Bürger sichtbar, gleichzeitig ist es nahezu unmöglich, es
ohne Stereotypisierung anzusprechen. Und so hat sich ein
gesellschaftliches Umfeld etabliert, das jene Menschen sanktioniert, die
sich offen über ihre Wahrnehmung äußern. Die Angst vor sozialer
Ausgrenzung macht viele Menschen im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos.
Sie schweigen, ziehen sich zurück und bleiben allein mit dem
schmerzlichen Gefühl des Kontrollverlusts über ihren vertrauten
Lebensraum – ganz so, als seien sie von einem Stück Heimat verlassen
worden.
Hinzu kommt, dass sich das Sichtbare mit dem medial Erlebbaren mischt, mit Nachrichten von Belästigungen, Messerattacken, Gruppenvergewaltigungen, Ehrenmorden und Terroranschlägen, mit Kriminalität also, die mit dem Thema Migration in Zusammenhang gebracht wird. Daraus entsteht Angst. Und diese Angst ist nicht ganz unberechtigt.
Offenbach – Das neue Deutschland?
Szenenwechsel. Offenbach. Bekannt als hartes Pflaster. Menschen deutscher Abstammung sind in der zehn Kilometer westlich von Frankfurt am Main gelegenen Großstadt mit ihren gut 130 000 Einwohnern in der Minderheit. Offenbach hat laut Statistischem Landesamt mit 39,8 Prozent den höchsten Ausländeranteil aller hessischen Kommunen, nach Angaben der Stadt haben 66,5 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund.
Dem Marktplatz mit seinen Nachkriegsgeschäftshäusern dürfte die zweifelhafte Ehre zuteilwerden, zu den architektonisch hässlichsten in Deutschland zu gehören. An der Bushaltestelle sitzen drei arabisch sprechende junge Männer, daneben stehen zwei Frauen in langen Gewändern und Kopftüchern, mehrere vorpubertäre Kinder wuseln um sie herum. Die angrenzende Schloßstraße wird beherrscht von einem Hochhaus, in dem sich in den beiden unteren Etagen Shishabars, Barbershops und ein Moschee-Verein befinden. In der Nachbarschaft ist auch der wohl prominenteste Offenbacher aufgewachsen, nämlich der durch eine derzeit laufende Netflix-Doku bekannte Rapper „Haftbefehl“, dessen Künstlername seine Jugend pointiert zusammenfasst.
Wer in Offenbach lebt oder öfter hier zu tun hat, der entwickelt die Gewohnheit, mit einer Portion Zynismus über die Zustände in dieser einstigen Hochburg der deutschen Lederindustrie zu sprechen. So wie Roman Pätzel und seine Kollegen von der Offenbacher Polizei, mit denen wir an diesem Abend unterwegs sind. Pätzel ist Beamter beim Gewerbeaußendienst der Stadt, zuständig unter anderem für illegales Glücksspiel. Heute Abend werden Kontrollen durchgeführt, beim „Offenbacher Landadel“, wie Pätzel und Kollegen ihre Klientel nennen. Es geht um Glücksspielautomaten, die oft von den Betreibern manipuliert werden, um gesetzliche Vorgaben zu umgehen.
Dabei hofft die Polizei auch auf „Beifang“, also polizeilich gesuchte Straftäter, die zufällig ins Netz gehen. 55 Personen werden in dieser Nacht kontrolliert, mehr als drei Viertel davon sind Nichtdeutsche.
Bei über 40 von ihnen finden sich zwar Einträge in den Polizeiakten,
vor allem Eigentums- und Drogendelikte, aber nach keinem wird derzeit
gefahndet. „Auf alte Geschichten sprechen wir die gar nicht erst an“,
sagt einer der Beamten. Lohnt sich nicht.
Spitzenreiter der Polizeieinträge ist der Wirt eines fensterlosen, extrem verrauchten Etablissements hinter Stahltüren im besagten Hochhaus in der Schloßstraße. Mehr als 30 Verfahren hat der 42-jährige Türke auf dem Kerbholz, beim ersten war er elf Jahre alt. Darunter: Körperverletzung, Geldfälschung, Hehlerei, illegaler Waffenbesitz, Raub, Erpressung, Betrug und Widerstand gegen Polizeibeamte. Offenbar nicht genug, um ihn dauerhaft hinter Gitter zu bringen. Als Pätzel seine manipulierten Glücksspielgeräte ausschaltet und versiegelt, leistet der Mann, ohnehin völlig benebelt, keinen Widerstand. Noch ein Verfahren mehr in seiner Akte. Offenbacher Landadel eben.
Der nächtliche
Blick hinter die heruntergekommenen Fassaden des Offenbacher Stadtbilds
offenbart eine Lebenswelt der zur Normalität gewordenen
Kleinkriminalität. Ihr Bezug zu Zuwanderung ist in der Mainmetropole
kaum ernsthaft zu leugnen. Und genau hier sitzt die Angst, die viele
Menschen in Deutschland beim Anblick jugendlicher Migranten im Stadtbild
haben: Sie befürchten, dass auch ihre Stadt, ihr Viertel, ihre Gemeinde kippt.
Sie haben Angst, irgendwann in ihrem eigenen kleinen Offenbach zu
leben. Darüber reden können sie meist nicht. Denn öffentlich wird über
kaum ein Thema so verklemmt und tabubehaftet diskutiert wie über den
Zusammenhang von Migration und Kriminalität.
Nun stellt sich die Frage, was passieren muss, damit Stadtviertel oder ganze Städte kippen. Ursächlich dafür ist meist nicht Migration, sondern der Niedergang von Industriezweigen und der damit verbundene soziale Abstieg der regionalen Mittelklasse. Doch es gibt auch andere Faktoren – und Frühwarnindikatoren. Einer davon ist der Verfall der Infrastruktur, der sich wie ein Virus der Verwahrlosung in der Bevölkerung ausbreitet.
Berchtesgaden – Infrastrukturelle Verwahrlosung befällt die Menschen
Szenenwechsel.
Berchtesgaden. Wer in die oberbayerischen Alpen reist, den erwartet
eine Region, die so schön ist, dass sie jährlich viele Millionen
Touristen anlockt. Doch das Berchtesgadener Land hat einen Schandfleck: den örtlichen Bahnhof.
An einem sonnigen Tag im November begrüßen uns unzählige Risse und
Flecken am Boden und an den Wänden. Manche der vielen Stellen, von denen
der Putz bröckelt, sind so groß wie Esstische. Überall freiliegende
Kabel, Schmierereien und Aufkleber-Kompositionen, die Gepäckbänder sind
ohnehin schon lange außer Betrieb. Und im Gleisbett wuchert das Unkraut
so fröhlich, als sei es guter Dinge, sich den Bahnhof von der
Zivilisation bald zurückholen zu können.
n der Bahnhofshalle arbeitet Iris Greiner im Kiosk, der so hell und
sauber ist, dass er in dem heruntergekommenen Gebäude wie ein
Fremdkörper wirkt. Greiner sieht dem Verfall des Bahnhofs also in
Zeitlupe zu. Vor einem Jahr, erzählt sie, seien sogar die Schalter für
immer geschlossen worden. Seitdem ist niemand mehr da, der zuständig
wäre, als hätte sich die Deutsche Bahn aus einem Krisengebiet
zurückgezogen.
Berchtesgaden ist sicherlich weit entfernt davon,
einen gesellschaftlichen Kipppunkt erreicht zu haben. Doch im
Alpenparadies zeigt sich im vergleichsweise Harmlosen, was im
Dramatischen überall in der Bundesrepublik erlebbar ist. Nämlich dass infrastrukturelle Verwahrlosung
auch die Menschen befällt. Die Berchtesgadener Bahnhofshalle ist zu
einem beliebten Treffpunkt von trinkenden, grölenden Jugendlichen
geworden, Greiner berichtet außerdem von einer 14-Jährigen im
Drogenrausch, die von der Bundespolizei aufgegriffen wurde. „Wäre schön,
wenn sich hier mal jemand kümmern würde“, sagt sie, glaubt aber wohl
selbst nicht mehr daran, dass bald Rettung naht.
Überall in der Republik werden Bahnhöfe als Orte des Niedergangs erlebt. Doch nicht nur das. Insgesamt verfällt Deutschlands Infrastruktur zusehends. Laut Bundesregierung sind 33 Prozent aller Fahrbahnkilometer auf Bundesstraßen und 19 Prozent auf Autobahnen reparaturbedürftig. Von 4000 sanierungsbedürftigen Brücken seien vergangenes Jahr gerade einmal 212 modernisiert worden. Öffentliche Plätze und Parks vermüllen, Straßenzüge verwahrlosen, und Bahnhöfe und U-Bahnstationen stellen für viele Bürger abends und nachts Angsträume dar. Und wenn mal etwas saniert oder repariert wird, dann ziehen sich die Maßnahmen über Monate, teils Jahre hin, sodass unbearbeitete Baustellen den Verkehr behindern. Deutschland lebt von der Substanz. Und diese Substanz hat ihre Belastbarkeitsgrenze spürbar überschritten.
Die kommunale Finanzkrise greift um sich
Woran liegt dieser eklatante Verfall? Ein Faktor ist Geld.
Denn für Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung vor Ort sind die Kommunen
zuständig – und die stehen finanziell vor dem Kollaps. „Wir erleben
gerade die größte kommunale Finanzkrise im Nachkriegsdeutschland“, sagt
Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetags. Gemeinsam mit den
Spitzen des Deutschen Landkreistags und des Deutschen Städte- und
Gemeindebunds wandte Jung sich vor kurzem an die Bundespolitik und
erklärte, dass sich „Defizite in nie gekannter Höhe“ aufgetürmt hätten,
dass die „föderale Finanzarchitektur völlig aus dem Gleichgewicht
geraten“ sei und sich die Kommunen in einer „bislang undenkbaren
Verschuldungsspirale“ befänden. Nothaushalte und Sparrunden seien an der
Tagesordnung.
Unter dieser chronischen Unterfinanzierung leidet der öffentliche Raum. Dann wird der Müll nur noch einmal die Woche statt täglich beseitigt, Straßenlaternen oder Sitzgelegenheiten werden nicht repariert, die Polizeipräsenz nimmt ab, die Infrastruktur verfällt, Parkanlagen und öffentliche Plätze werden vernachlässigt. All dies führe zu einem „schwindenden Vertrauen der Bürger, dass die Stadt sich kümmert“, erläutert der Geograf Klaus Mensing, Inhaber des Hamburger Stadtentwicklungsbüros Convent Mensing, gegenüber Cicero. „In den 1980ern hatten viele Städte noch solide Gewerbesteuereinnahmen, heute schrumpfen die Spielräume durch Sozialausgaben, Energiekosten und Bürokratie“, so Mensing.
Insbesondere die Ausgaben für Soziales
belasten die Kommunen, wie aus einer jüngst veröffentlichten Studie des
Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) hervorgeht. Städte
und Gemeinden in Deutschland geben mittlerweile 38 Prozent ihres
Gesamthaushalts für Soziales und Jugendarbeit aus, 1992 waren es noch
25 Prozent. Die Verwaltungskosten machen rund 20 Prozent des
kommunalen Budgets aus. Gleichzeitig investieren die Kommunen deutlich
weniger in Infrastrukturmaßnahmen wie Straßenbau, Abwasser und
Müllentsorgung. Hier seien die Ausgaben von 34 Prozent im Jahr 1992 auf
heute nur noch 20 Prozent gesunken. „Die Bürger zahlen den Ausbau der
Sozialleistungen der vergangenen Jahrzehnte heute mit kaputten Straßen
und maroden Schulen“, resümiert IW-Studienautor Björn Kauder.
Stadtbild. Das ist das, was die Bürger sehen, wenn sie vor die Tür gehen. Und wenn das Sichtbare einen scheinbar unaufhaltsamen Niedergang erlebt, dann macht das etwas mit den Menschen. Wenn die Straßen kaputt und vermüllt sind, Busse und Züge ständig ausfallen oder Baustellen über Monate oder Jahre den Alltag stören, ohne dass daran gearbeitet wird, dann mögen das auf den ersten Blick bloß nervige Harmlosigkeiten sein. Doch wiederkehrend werden dadurch Prozesse in Gang gesetzt, unbewusste Prozesse, die ihren Teil zur Erosion des gesellschaftlichen Gesamtgefüges beitragen. Warum ist das so? „Emotional reagieren die Menschen auf infrastrukturelle Verwahrlosung mit dem Gefühl, nicht mehr wertgeschätzt zu werden“, erläutert der Psychologe und Bestsellerautor Stephan Grünewald gegenüber Cicero. Eine funktionierende Infrastruktur im direkten Lebensumfeld sei nämlich notwendig, um dem Alltagsleben Stabilität und Routine zu geben. Erst dadurch könne ein Gefühl von Vertrautheit, Nähe und letztlich von Heimat entstehen. „Deswegen wird der Verfall der Infrastruktur unbewusst als Alltagssabotage erlebt“, so Grünewald, also als ein feindseliger Akt. Und wenn der eigene Wohnort zunehmend feindselig wird, dann reagieren viele Bürger darauf mit dem Rückzug ins Private.
Altenessen – Aus Stolz wurde Scham
Szenenwechsel.
Altenessen, eines der größten Viertel der Stadt Essen im Herzen des
Ruhrgebiets. Im gesamten Stadtgebiet haben knapp 40 Prozent der Menschen
einen Migrationshintergrund. Im nördlich der Innenstadt gelegenen
Altenessen, einem traditionellen Malocher-Kiez, dürfte die Zahl noch
höher liegen. Viele Jahrzehnte lang hat das hier keine Rolle gespielt.
Der Stadtteil war geprägt von einer nostalgischen Ruhrpottromantik. Der
Schacht hat die Menschen verbunden, ihre Identität als Zechenarbeiter
war größer als die Unterschiede, die sich aus ihrer Abstammung oder
ihrer Migrationsgeschichte ergaben. Psychologe Stephan Grünewald hat das
Viertel im vergangenen Jahr wissenschaftlich untersucht – und führt den
in den zurückliegenden Jahrzehnten eingetretenen Verfall des Stadtteils
auch auf den Niedergang der Infrastruktur und des Einzelhandels zurück.
„In Altenessen ist im Laufe der Zeit der sichere und wertschätzende Rahmen weggebrochen“, erläutert Grünewald. Viele Geschäfte stehen leer, die einst vitalen Lebensadern der Stadt verschwanden. Vermüllung und Verödung prägen seitdem das Stadtbild, Kriminalität, Armut, Drogen und No-go-Areas nahmen irgendwann überhand. Als die Polizeistation und das lokale Krankenhaus, in dem viele Altenessener geboren wurden, dichtmachten, sei aus der „vormals intakten sozialen Struktur zunehmend ein Gegeneinander“ geworden. „Aus dem Stolz, Altenessener zu sein, wurde Scham, aus Heimat wurde Befremdung“, so Grünewald. Und auf einmal wurde auch das Thema Migration, das in Altenessen zuvor kaum eine Rolle spielte, zu einem Problem.
Dort,
wo das Leben verschwindet, zieht irgendwann die Angst ein. Der Rückzug
ins Private setzt eine Abwärtsspirale in Gang, sagt der Dortmunder
Innenstadtentwickler Jens Nussbaum im Gespräch mit Cicero. „Je
mehr Menschen sich zurückziehen, desto weniger soziale Kontrolle gibt
es, was zu noch mehr Verwahrlosung führt, auf die noch mehr Menschen mit
Rückzug reagieren.“ Kämen erschwerende Faktoren hinzu, wie ein
schwieriges soziales Umfeld oder eine abnehmende Polizeipräsenz, dann
könnten Orte kippen. Nicht selten bilden sich dann Hotspots, geprägt von
Kriminalität, Obdachlosigkeit, Drogenhandel und organisierter Bettelei.
Eine zentrale Rolle komme deshalb sogenannten „urbanen
Frequenznutzungen“ wie dem Einzelhandel oder der Gastronomie zu, die wie
eine Art soziales Bindegewebe fungieren. Nimmt dieses ab, drohten Orte
auseinanderzufallen, so Nussbaum.
Umso erschreckender ist ein Blick auf die Zahlen. Im Jahr 2015 gab es in Deutschland noch etwa 372 000 einzelne Geschäfte, mittlerweile sind es nur noch 301 500. Sprich: Innerhalb von nur zehn Jahren hat die Bundesrepublik 19 Prozent ihrer Läden verloren. Die Ursachen sind vielfältig, doch Onlinehandel und große Shoppingcenter vor den Toren der Städte spielen meist eine ausschlaggebende Rolle. Die Lockdowns während der Corona-Pandemie haben vielen Einzelhändlern den Rest gegeben. Im Schnitt machen jährlich rund 5000 Läden dicht. „In der Summe ist das einfach zu viel“, sagt Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim Handelsverband Deutschland (HDE). Der Großteil der Ladenschließungen betrifft zudem kleine Einzelhändler, meist inhabergeführte Fachläden, die keiner Kette angehören. „Diese Entwicklung ist traurig, weil diese Geschäfte das Salz in der Suppe einer jeden Innenstadt sind“, so Reink. „Sie geben einem Stadtkern seinen Charakter.“
Verödung vernichtet Leben
Laut jüngstem
Handelsreport der Ruhr-IHKs liegt die Leerstandsquote im Einzelhandel
in den Innenstädten des Ruhrgebiets bei erschreckenden 14,7 Prozent,
auch im Saarland oder in den Mittelstädten Ostdeutschlands stehen immer
mehr Geschäfte leer. Für die Bürger sind die Folgen oft verheerend. „Verödete Stadtzentren rutschen ab und erzeugen dunkle Angsträume“,
sagt HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Und in der Tat: In jeder
größeren Stadt Deutschlands gibt es mittlerweile Orte, die Anwohner aus
Angst meiden. Mehr noch: Die immer weiter sinkende Zahl der Geschäfte im
Einzelhandel erlaubt einen Blick in die Zukunft der deutschen Städte.
Und der lässt Böses erahnen.
Viele Kommunen versuchen deshalb, ihre Einkaufsstraßen und Innenstädte wiederzubeleben. Dabei werden auch Planungsfehler begangen, erläutert die Raumsoziologin Martina Löw von der Technischen Universität Berlin, wie „zu späte Reaktionen auf Leerstand, falsche Investoren, unattraktive Neubauten und wenig Rücksicht auf die für den Stadtraum so wichtigen Erdgeschossbereiche“. Insgesamt herrsche „viel Ratlosigkeit“, da Entwicklungen wie die Hinwendung zum Onlinehandel oder die schrittweise Verdrängung des inhabergeführten Einzelhandels durch Ketten „tatsächlich schwer aufzuhalten“ seien.
Dennoch rät Löw dazu, das Bild nicht zu düster zu zeichnen. „Es gibt Verödung, aber es gibt auch viel Lebendiges“, sagt sie. Das liegt auch daran, dass mittlerweile bei allen Beteiligten unbedingte Klarheit darüber herrscht, dass die Probleme der öffentlichen Räume in Deutschland gelöst werden müssen. An vielen Orten entsteht bereits Neues, indem Gewerbetreibende, Wohnungsgesellschaften, private Immobilienbesitzer und die Kommunen gemeinsam Lösungen erarbeiten. Wenn kein öffentliches Geld da ist, dann muss eben privates Kapital mobilisiert werden, zum Beispiel durch steuerliche Sonderabschreibungen für Innenstadt-Investitionen. Wenn Händler den Leerstand nicht füllen können, dann müssen eben Kommunen die Flächen anmieten und sie vergünstigt an Start-ups und Gründer weitervermieten, um so Innovationszentren voller junger, kluger Köpfe entstehen zu lassen. Und so weiter. Es bewegt sich etwas. Zumindest hier und da.
Berlin – Sicherheit und Sauberkeit sind sinnlos ohne Leben
Ein
letzter Szenenwechsel. Berlin, Wilmersdorfer Straße. Hier, im gut
situierten Charlottenburg, zeigt sich die Verödung des öffentlichen
Raumes ganz unaufdringlich, nämlich als die leise Verabschiedung alles
Identitätsstiftenden in den Morast der Beliebigkeit. Die erste
Fußgängerzone der Stadt war einst das pulsierende Herz eines stolzen
Stadtteils. Heute könnte die gesamte Straße in das Zentrum jeder anderen
deutschen Stadt teletransportiert werden – niemandem würde ein
Unterschied auffallen.
Ein-Euro-Läden, Drogeriemärkte, Discounter, die üblichen Fast-Food-Restaurants, Café-Ketten, immer dieselben Logos, immer dieselben Werbesprüche, dazu Handyläden, Klamottengeschäfte. Alles billig, alles von der Stange. Dieser für die Bürger Charlottenburgs einst identitätsstiftende Ort der Begegnung, des Flanierens, ist zu einem eigenschaftslosen Etwas verkommen, ohne Persönlichkeit. „An Orten der Beliebigkeit“, sagt Psychologe Stephan Grünewald, „gibt es niemanden mehr, der mich kennt, der weiß, was ich brauche, mit dem ich eine Geschichte teile, der mich als Person wahrnimmt.“ Ein solcher Ort kann nicht Heimat sein.
An diesem Punkt schließt sich der Kreis der
Stadtbild-Debatte, die mit dem Thema Migration begann. Denn Sicherheit
und Sauberkeit sind sinnlos ohne Leben, und all die schönen Pläne und
Konzepte bringen nichts, wenn es niemanden gibt, der sie umsetzen will.
Fakt ist, dass sich viele Deutsche ohne Migrationshintergrund eine
Angestelltenmentalität angewöhnt haben, die unvereinbar ist mit dem
Risiko, der Unsicherheit und dem hohen Arbeitsaufwand einer
Selbstständigkeit, insbesondere im Einzelhandel. In diesem Bereich
wächst in Deutschland vor allem die migrantische Ökonomie. Abseits der
Wilmersdorfer Straße zeigt sich das. Wer den Moloch der Monotonie
verlassen hat und die nächste Hauptstraße entlangspaziert, der läuft an
afghanischen, vietnamesischen, indischen Restaurants vorbei, an
mexikanischen Bars, einem Bonsai-Laden, einem japanischen Comicstore, an
einem koreanischen Musikgeschäft, das sich auf ausgefallenen K-Pop
spezialisiert hat, oder an einem persischen Literaturcafé mitsamt
Buchhandlung, in dem sich Besucher über das weltoffene Iran der
vorislamischen Zeit informieren können. Das sind Orte mit Charakter, die
einladen. Orte und Menschen, die das Stadtbild ebenfalls prägen.
Stadtbild. Das ist das, was wir sehen, wenn wir vor die Tür gehen. Es ist der Raum, in dem wir uns wohlfühlen, aufgehoben fühlen, heimisch fühlen. In diesem Stadtbild sind Probleme sichtbar, mancherorts mehr, mancherorts weniger. Doch das Stadtbild hält auch so viele Schätze bereit, Besonderheiten, Eigentümlichkeiten, Persönlichkeit. Aber eigentlich zählt nur eines: dass das Stadtbild Leben hat, dass es unser Leben hat.
Denn das Stadtbild ist nicht nur das, was wir sehen, wenn wir vor die Tür gehen. Es ist das, was wir erschaffen, wenn wir vor die Tür gehen.

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