Besonders in den angeblich progressiven Kreisen hat sich nach und nach die Vorstellung breitgemacht, dass westliches Gedankengut zweifelhaft, ja sogar „toxisch“ sei, eben ein überholtes Konstrukt von „alten weißen Männern“ – rücksichtslosen Typen, die aber ganz nebenbei auch die Deklaration der Menschenrechte, die Abschaffung der Sklaverei, die moderne Demokratie und den Sozialstaat etabliert haben. Nach Jahrhunderten der Irrungen, der Brutalität und des Imperialismus haben wir es auf wundersame Weise hingekriegt, ein Gesellschaftsmodell zu entwickeln, das auf der Achtung der Schwachen basiert. Wo auf der Welt gibt es einen so großzügigen, auf Solidarität gründenden Wohlfahrtsstaat, der den Bürgern die Chance auf Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht, wie bei uns? Es ist recht simpel: Würde unser Modell nicht auf diesen humanistischen Prinzipien gründen, wären wir nicht so attraktiv für viele, die das aus ihren eigenen Kulturen nicht kennen.
Statt auf all diese fantastischen Errungenschaften stolz zu sein und sie selbstbewusst zu verteidigen, kreisen wir masochistisch um unsere historischen Verfehlungen. Wir beschuldigen uns für buchstäblich alles, was gerade in der Welt falschläuft: Bürgerkriege in Afrika, Überschwemmungen in Bangladesch, Kinderarbeit in Indonesien. Historische Verdienste wie Redefreiheit, Individualrechte oder Säkularismus – all das ist plötzlich nicht mehr viel wert. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde unsere Art zu leben zu etwas, dessen man sich schämen soll. Lebensrettende Medizin, die freie Marktwirtschaft, ingenieurstechnische Meisterleistungen – alles, was unzählige Menschen aus bitterer Armut geholt hat, wird inzwischen mit Skepsis und Feindseligkeit betrachtet.
Es hat sich eine Abkehr vollzogen von dem, was unsere Kultur im Kern ausmacht: der vernünftige Blick auf die Welt. Der war ein Erbe der Aufklärung, die uns gelehrt hat, selbstständig zu denken. Deren Werte sehe ich erheblich bedroht. Eine Bedrohung, die in vielen Schattierungen daherkommt: in politischen Bewegungen, in religiösem Fundamentalismus, in sozialen Medien, in teilweise kruden Ideologien aus unseren Bildungseinrichtungen. Es ist gespenstisch, wie verbohrt, fanatisch und aggressiv mittlerweile Positionen vertreten werden ohne auch nur die geringste Bereitschaft, die eigene Sichtweise infrage zu stellen. Stattdessen wird mit allen Mitteln versucht, Andersdenkende moralisch zu diskreditieren, bis hin zum Versuch, sie gesellschaftlich auszugrenzen. Und das alles verbunden mit einer verkrampften Humorlosigkeit, die selbst vor Humorschaffenden nicht mehr haltmacht.
023 hat sich die Komikerin Anke Engelke rückwirkend für eine Parodie der Popsängerin Ricky in der Sendung „Die Wochenshow“ entschuldigt, weil sie dabei „Blackfacing“ betrieben hatte. Auch ich möchte mich an dieser Stelle für mein Comedy-Programm „Denken lohnt sich“ aus dem Jahr 2008 entschuldigen. Der Titel ist anstößig und inakzeptabel, weil er schon damals erhebliche Teile der Bevölkerung ausgegrenzt hat.
Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Meinungsforschungsinstituts Media Tenor fühlen sich 44 Prozent der Befragten gezwungen, bei politischen Äußerungen vorsichtig zu sein. So wie Toni Kroos, der nach der EM 2024 in einem Anflug von Ehrlichkeit sagte, dass er nach seinem Karriereende in Spanien bleiben werde, weil er es zu gefährlich fände, seine Tochter abends alleine in einer deutschen Großstadt auf die Straße zu lassen. Eingeleitet mit dem übervorsichtigen Satz: „Wie drückt man das am besten aus, ohne in eine Ecke gestellt zu werden …?“
Die Angst, bestimmte Dinge offen auszusprechen und zu diskutieren, hat in unserer Gesellschaft eine Stufe erreicht, die ich als hochbedenklich betrachte. Das äußert sich unter anderem auch in der Löschung von immer mehr Postings in den sozialen Medien. Postings mit eindeutig nicht strafbarem Inhalt. Die pure Tatsache, dass sich eine bestimmte Gruppe beleidigt fühlen könnte, genügt bereits.
Auch viele Unternehmen und Konzerne haben sich diesem unseligen Trend angeschlossen und geben interne Memos über geforderte Sprachregelungen heraus, deren Missachtung für Mitarbeiter ernste Konsequenzen haben kann. Am dramatischsten ist jedoch die Entwicklung an unseren Hochschulen. Orte, an denen der freie Austausch von Ideen und Meinungen zur intellektuellen Grundausstattung gehören sollte. Immer öfter erzählen mir Professoren, Doktoranden und andere Hochschulangehörige, dass es ihre Karriere gefährden könnte, würden sie öffentlich den gesellschaftspolitischen Kurs ihrer Universitäten kritisieren. Es ist eine Entwicklung, die sich nicht nur bei uns in Deutschland vollzieht, sondern in großen Teilen des westlichen Abendlandes. In den USA wird ein Gegner der Masernimpfung Gesundheitsminister. Und nebenan in Kanada wollen Bildungspolitiker den Mathematikunterricht an Schulen „dekonstruieren“, weil zu viel Rechenkompetenz rassistisch ist, da sie die indigene Bevölkerung diskriminiert. Zwei plus zwei ist vier? In Ontario ist man da inzwischen nicht mehr so sicher.
Fast scheint es, dass uns eine Epoche jahrzehntelangen Friedens, stetig wachsenden Wohlstands und permanenten technologischen Fortschritts zu Kopf gestiegen ist. Eine Gesellschaft, die glaubt, keine gemeinsamen Probleme und Ziele mehr zu haben, richtet ihre Energien und Aggressionen nach innen. Und bauscht so vollkommen normale Meinungsunterschiede zu radikalen Freund-Feind-Bildern auf. Das führt zu zwei Dingen: Eine solche Gesellschaft wird immer blinder für echte Bedrohungen, und gleichzeitig zerfleischt sie sich selbst.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Wir leben in verstörenden Zeiten. Tagtäglich prasseln Meldungen auf uns ein, die immer absurder, bizarrer und bedrückender werden. Was passiert da gerade? Haben wir als Gesellschaft unseren Kompass verloren? Anfangs konnten wir manches als skurrile Einzelfälle abtun, die keine besondere Relevanz für unseren Alltag haben.

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