Schreiber: Ja, die Schulleitung führt bis zu zehn Gespräche pro Tag mit Schülern, die zu spät gekommen sind. Sie müssen dann nachsitzen. Wer bei mir nach dem Gong im Unterricht erscheint, muss eine A4-Seite Text abschreiben. Das hat etwas geholfen. Leider sehen viele Eltern Unpünktlichkeit nicht als Problem an. Dabei wäre es sogar möglich, Ordnungsgelder wegen der Verletzung der Schulpflicht zu verhängen.
WELT: Welche Rolle spielen die Eltern bei den Problemen?
Schreiber:
Viele Eltern haben kein Interesse oder sind überfordert. Ein Beispiel
vom Elternabend in der 10. Klasse – das ist der Abschlussjahrgang! Von
25 Kindern kamen drei Elternteile. Teilweise können Eltern kein Deutsch
und lassen ihre Kinder übersetzen. Auf der anderen Seite melden sich
regelmäßig Helikoptereltern, sobald ihr Kind eine schlechte Note erhält,
werfen mir Mobbing vor und drohen mit einem Anwalt.
„Lesen, Verstehen und Schreiben – es ist eine Katastrophe“
WELT: Lesen Ihre Schüler noch zu Hause?
Schreiber:
Vielleicht einer von 100 Schülern. Wenn sie einen Text von drei Zeilen
lesen müssen, sind viele überfordert, den Inhalt zu erfassen. Sie
verstehen nicht, was die Aufgabe ist. Eine Kollegin in der jüngeren
Jahrgangsstufe hat im Deutschunterricht ein Vokabelheft eingeführt. Die
Kinder wissen nicht, was ein Dackel oder eine Weide ist. Das wird nun in
dem Heft erklärt. Lesen, Verstehen und Schreiben – es ist eine
Katastrophe. Texte in Abschlussprüfungen sind teilweise ohne Punkt und
Komma und in Kleinschreibung verfasst. Da ich in meinen Fächern nur den
Inhalt bewerten soll, darf ich ihnen dafür keine Abzüge geben. Das führt
mich zum Thema Lese-Rechtschreib-Störung.
WELT: Worum geht es dabei?
Schreiber: Bei einer Lese-Rechtschreib-Störung erkennen Menschen
Worte und Buchstaben nicht richtig. Mit dieser Diagnose haben betroffene
Schüler 25 Prozent mehr Zeit in den Klausuren. Das schafft einen
Anreiz, sich um eine solche Diagnose zu bemühen. Inzwischen hat – je
nach Klasse – jeder fünfte bis sechste Schüler eine
Lese-Rechtschreib-Störung. Schüler, die wirklich eine Störung haben,
erhalten keinen Vorteil mehr. Die Scham, eine solche Diagnose gestellt
zu bekommen, ist weg, weil der individuelle Vorteil zu groß ist. Ich
glaube, das hat bei vielen Schülern weniger mit Schwächen zu tun,
sondern unter anderem mit der Art, wie in der Grundschule Lesen und
Schreiben gelehrt wird. Auf Grammatik und Rechtschreibung wird kaum mehr
Wert gelegt. Es soll alles nur noch Spaß machen.
WELT: Auch die Konzentrationsfähigkeit hat durch soziale Medien und Smartphones stark abgenommen. Sie haben Ihre Schüler einmal mit ihrer Bildschirmzeit konfrontiert. Was war das Ergebnis?
Schreiber: Das Ergebnis war erschreckend – für die Kinder und für mich. In der 8. Klasse liegt die durchschnittliche Bildschirmzeit bei sieben bis acht Stunden am Tag. Die Jungs spielen überwiegend, die Mädchen sind in den sozialen Netzwerken unterwegs. Hauptsache schnelle Klicks, viel Dopamin.
WELT: Wie ist der Umgang mit Handys und Tablets an Ihrer Schule geregelt?
Schreiber:
Wir haben eine Handy-Garage, in der jeder Schüler am Anfang der Stunde
sein Handy parken soll. Manche Schüler haben ein Zweit- oder Dritthandy.
Dementsprechend funktioniert das nicht immer gut. Das Land hat die
Anschaffung von iPads gefördert, aber inzwischen arbeiten wir seltener
damit. Wir haben zu wenig Kontrolle darüber, was die Schüler tatsächlich
damit treiben. Viele haben keine Ordnerstruktur, ständig werden
Passwörter vergessen oder Bilder hin- und hergeschickt.
WELT: Also weniger Digitalisierung und zurück zum guten alten Frontalunterricht?
Schreiber: Kinder brauchen eine Struktur, weil sie daheim oft keine haben. Freies Arbeiten ist gut für die zwei oder drei Klassenbesten. Aber wenn die Kinder keine Organisation haben, Texte nicht erfassen können und permanent abgelenkt sind, funktioniert es nicht. Die Schüler haben ohnehin zu wenig soziale Kontakte im echten Leben. Daher sollte in der Schule eher der Umgang miteinander im Vordergrund stehen.
WELT: Welche Verantwortung tragen eigentlich Lehrer an der Misere? Den Typ Oberstudienrat mit Kenntnissen in Latein und Altgriechisch gibt es kaum noch. Stattdessen albern nicht wenige junge Lehrer in sozialen Medien herum, um vermeintlich nahbar zu sein.
Schreiber: Lehrer sind natürlich auch mitverantwortlich. Wir sind keine homogene Gruppe, aber es gibt einen Typ Lehrer, der möchte mit allen Schülern „Best Buddy“ sein. Dadurch gehen Distanz und Ernsthaftigkeit verloren. Andere beschränken sich angesichts möglicher Beschwerden von Eltern nur auf die Vermittlung der absoluten Basics. Und es gibt Lehrer, die nicht einmal das vermitteln, was im Lehrplan steht. Ich kenne Lehrer, die im Wirtschaftsunterricht sagen, dass sie freie Märkte und Kapitalismus ablehnen und den Sozialismus bevorzugen. Das lehren sie den Kindern dann auch so – völlig konträr zu dem Wirtschaftssystem in unserem Grundgesetz.
WELT: Wie läuft grundsätzlich der Umgang mit Politik?
Schreiber: Dazu kann ich eine Anekdote schildern. Eine Schülerin kam aufgelöst zu mir und fürchtete, dass sie abgeschoben wird. Sie ist geborene Deutsche mit Migrationshintergrund. Es stellte sich heraus, dass eine Lehrerin nur das wiedergegeben hat, was medial über eine Partei verbreitet wird, statt tatsächlich mit den Schülern in das Wahlprogramm zu gucken und die Berichterstattung zu hinterfragen. So schüren wir unnötig Ängste bei den Kindern.
„Schüler sehen sich als Syrer, Afghanen oder Albaner – obwohl sie teilweise noch nie in diesen Ländern waren“
WELT: An Ihrer Schule haben – je nach Klasse – bis zu 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Ist eine Integration dann noch möglich?
Schreiber: Wir haben fünfte Klassen, da sind, wenn es hochkommt, drei deutsche Namen dabei. Diese Schüler sind in der Minderheit, und dementsprechend ist eine Integration nicht mehr möglich. Wir müssen uns ganz anderen Diskussionen stellen: Jungen wollen nicht neben Mädchen sitzen, weil das die Religion nicht zulässt. Oder sie wollen mit den Mädchen in der fünften Klasse keinen Sport gemeinsam machen. Lehrerinnen werden angegangen, dass sie den Jungs nichts zu sagen hätten, weil sie Frauen sind. Das ist vorgekommen.
WELT: Welchen Hintergrund hatten die Jungs?
Schreiber: Syrisch, afghanisch – in die Richtung. Der Punkt ist:
Fast alle meine Schüler sind hier geboren und haben einen deutschen
Pass. Trotzdem fühlen sie sich nicht deutsch. Sie sehen sich als Syrer,
Afghanen oder Albaner – obwohl sie teilweise noch nie in diesen Ländern
waren. Wenn ihnen Lehrer dann noch einreden, dass die bösen Deutschen
sie abschieben wollen, ist es logisch, dass keine gemeinsame Identität
entstehen kann.
WELT: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es einmal zu einem regelrechten Wettstreit kam, wer alles nicht deutsch sei. Wie erklären Sie sich das?
Schreiber: Wir wissen selbst nicht mehr, wer wir sein wollen. Es gibt keine Leitplanken, welche Leistung und welche Werte wir einfordern. Wer dann Identität sucht, findet sie in der Herkunft – zumal in den Elternhäusern oft nicht Deutsch gesprochen wird.
WELT: Und wie haben Sie die Situation gelöst?
Schreiber: Ich habe mit vielen der Schüler immer wieder gesprochen und ihnen erklärt, dass ihre Eltern wahrscheinlich in Deutschland leben, weil es dort besser oder sicherer ist. Ich habe ihnen auch klargemacht, dass sie dazugehören, wenn sie hier geboren sind, die Staatsbürgerschaft haben und auch noch nie woanders waren. Ein Teil der Schüler hat es verstanden und sieht sich nun als Deutsche mit Migrationshintergrund.
WELT: Immer wieder erleben Sie, dass Schülerinnen plötzlich mit Kopftuch zum Unterricht kommen, in einem Fall sogar vollverschleiert.
Schreiber: In Bayern ist eine Vollverschleierung in der Schule verboten. Das Erschreckende ist, dass die Schülerin den Schleier zwei Tage lang trug, bis ich den Vorfall der Schulleitung gemeldet habe. Ich möchte sehen, mit wem ich spreche. Statt das Gesetz durchzusetzen, haben Kollegen akzeptiert, dass sich die Schülerin geweigert hat, ihren Schleier abzunehmen. Sie ist Achtklässlerin, die Kollegen sind Erwachsene.
WELT: In Berlin fallen Schüler mit Sätzen wie „Islam ist hier der Chef“ auf. Passiert das in Bayern auch?
Schreiber: So drastisch nicht, aber der Islam ist präsent. In Bayern dürfen muslimische Schüler am Zuckerfest oder Opferfest vom Unterricht befreit werden. Das sehe ich kritisch, denn es fördert die Spaltung. Ich muss anderen Schülern erklären, warum eine Gruppe mehr Rechte hat. Denn an den christlichen Feiertagen haben alle frei. Dazu kommt, dass vom Unterricht befreite Schüler teilweise zu Hause bleiben, ihre Eltern aber regulär zur Arbeit müssen.
„An Schulen sind wir die Ersten, die sehen, wie sich die Gesellschaft entwickelt“
WELT: Sie sind einerseits der Typ sympathischer Sportlehrer, andererseits sagen Sie, einen Ruf als strenger Lehrer zu haben. Braucht es das?
Schreiber: Meine Schüler wissen genau, was bei mir geht und was nicht. Ich bin auf der einen Seite streng, aber auch klar in dem, was ich sage und auch vorlebe. Ich glaube, dass die Kinder Leitplanken brauchen. Es ist unsere Aufgabe als Lehrer, nicht nur zu unterrichten, sondern die Schüler gesellschaftstauglich zu machen – vielleicht sogar zu mündigen Bürgern zu erziehen.
WELT: Was wäre eine Lösung für die von Ihnen angesprochenen Probleme?
Schreiber:
An Schulen sind wir die Ersten, die sehen, wie sich die Gesellschaft
entwickelt. Wir brauchen klare Werte, die wir gemeinsam definieren und
dann auch vertreten – sei es Pünktlichkeit oder auch das Zeigen des
Gesichts. Wenn wir uns Regeln gegeben haben, müssen wir sie konsequent
durchsetzen. Und wir müssen – unabhängig von Religion oder Herkunft –
wieder mehr Leistung einfordern.
WELT: Und was wünschen Sie sich von der Politik?
Schreiber: Auf längere Sicht bräuchten wir kleinere Klassen und mehr Quereinsteiger aus der Praxis, die zum Beispiel wissen, was es bedeutet, die Hälfte des Gehalts an den Staat abzugeben. Wir müssen wieder dafür sorgen, dass junge Menschen einen Beruf ergreifen und selbstständig im Leben stehen können. Auch sollten Eltern und Lehrer wieder gemeinsam an einem Strang ziehen, zum Wohle ihrer Kinder. Was oft vergessen wird, ist, dass wir Lehrkräfte nur das Beste für die Schüler wollen.
WELT: Sie haben Ihr Buch im Selbstverlag veröffentlicht und sich dafür auch ein Vorwort von Boris Palmer schreiben lassen. Warum?
Schreiber: Palmer ist politisch neutraler dadurch, dass er in keiner Partei ist. Er vertritt ähnliche Ansichten wie ich. Ich habe mein Buchprojekt vom Lektorat bis zum Cover selbst organisiert, um möglichst unabhängig zu bleiben. Es geht mir weniger um einen Bestseller als um das Thema. Obwohl viel über die Probleme an unseren Schulen berichtet wird, passiert noch immer zu wenig.
Jonas Schreiber, „Realtalk: Lehreralltag“, Books on Demand, 14,99 Euro.

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