19 November 2025

„Schüler sagen, dass sie Bürgergeldempfänger werden“ (WELT+)

„Schüler sagen, dass sie Bürgergeldempfänger werden“ (WELT+)

Absolutes Desinteresse, Lese-Rechtschreib-Störungen, Vollverschleierung: Noch immer habe die Gesellschaft nicht im Blick, wie es tatsächlich im Unterricht an deutschen Schulen zugeht, sagt Realschullehrer Jonas Schreiber. Was im Sportunterricht geschieht, macht ihm besonders große Sorgen. Von Sebastian Beug, Redakteur Nachrichten & Gesellschaft, 19.11.2025, 11 Min
Jonas Schreiber wollte schon immer Lehrer werden – und seiner Leidenschaft für Fußball nachgehen. Seit fünf Jahren unterrichtet der 31-Jährige Wirtschaft, Betriebswirtschaftliches Rechnungswesen, IT und Sport an einer Realschule in München. In seiner Freizeit ist er Fußballtrainer. Nun hat er ein Buch geschrieben, indem er über seinen Alltag als junger Lehrer berichtet.
WELT: Herr Schreiber, warum haben Sie ein Buch mit dem Titel „Realtalk Lehreralltag“ geschrieben?
Jonas Schreiber: Ich mache meinen Job als Lehrer super gerne. Aber wenn es noch 40 Jahre so weiterläuft wie bisher, gehe ich daran kaputt. Deshalb will ich berichten, was eigentlich in unseren Schulen abgeht – und was für Schüler wir heranziehen.
WELT: Sie sagen, viele Schüler haben gar keine Lust, überhaupt zu lernen oder sich anzustrengen. Wie äußert sich das?
Schreiber: Sie sagen einem direkt ins Gesicht: Der Unterricht interessiert sie nicht, und sie hören eh nicht zu. Sie sind anwesend, mehr aber auch nicht. In einer meiner Wirtschaftsklassen steht eine Projektpräsentation an, bei der sie sich das Thema hätten aussuchen können. Einige Schüler haben vier Vorbereitungstermine verstreichen lassen und mir gesagt, sie holen sich lieber die Sechs ab.
„Egal welche Sportart – die intrinsische Motivation ist oft sehr gering“
WELT: So ein Verhalten erleben Sie auch im Sportunterricht?
Schreiber: Was im Sportunterricht passiert, macht mir am meisten Sorgen. In meiner Schulzeit war Sport der Ausgleich für alle, die vielleicht in anderen Fächern nicht die Besten waren. Heute holen sich bereits Fünftklässler lieber eine Sechs ab, statt Fußball zu spielen. Und das sind Schüler, die nicht korpulent oder dick sind. Auch bei einem Spendenlauf sind sie raus. Egal welche Sportart – die intrinsische Motivation ist oft sehr gering. Das ist problematisch.
WELT: Warum?
Schreiber: Sport ist nicht versetzungsrelevant, Leistung zählt also nicht mehr. Jeder kommt in unserer Gesellschaft irgendwie durch. Die Schüler sehen, dass Angestellte mit einem Mindestlohn kaum mehr haben als Bürgergeldempfänger. Das übertragen sie auf ihr Schulleben.
WELT: Sagen Schüler Ihnen, dass sie Bürgergeldempfänger werden?
Schreiber: Ja, das sagen sie auch. Vielen Schülern ist es völlig wurscht, was nach der Schule kommt. In der Berufsorientierung gibt es null Interesse, eine Praktikumsbewerbung vorzubereiten oder die eigenen Stärken und Schwächen herauszufinden. Diese Lustlosigkeit treibt mich um, weil ich mich frage: Was sollen diese jungen Menschen später machen? Es kann doch nicht das Ziel sein, einfach in den Tag hineinzuleben. Aber Leistung ist in allen Bereichen nicht mehr gewünscht.
WELT: Auch Unpünktlichkeit ist ein Problem, sagen Sie.
Schreiber: Ja, die Schulleitung führt bis zu zehn Gespräche pro Tag mit Schülern, die zu spät gekommen sind. Sie müssen dann nachsitzen. Wer bei mir nach dem Gong im Unterricht erscheint, muss eine A4-Seite Text abschreiben. Das hat etwas geholfen. Leider sehen viele Eltern Unpünktlichkeit nicht als Problem an. Dabei wäre es sogar möglich, Ordnungsgelder wegen der Verletzung der Schulpflicht zu verhängen.

WELT: Welche Rolle spielen die Eltern bei den Problemen?

Schreiber: Viele Eltern haben kein Interesse oder sind überfordert. Ein Beispiel vom Elternabend in der 10. Klasse – das ist der Abschlussjahrgang! Von 25 Kindern kamen drei Elternteile. Teilweise können Eltern kein Deutsch und lassen ihre Kinder übersetzen. Auf der anderen Seite melden sich regelmäßig Helikoptereltern, sobald ihr Kind eine schlechte Note erhält, werfen mir Mobbing vor und drohen mit einem Anwalt.

„Lesen, Verstehen und Schreiben – es ist eine Katastrophe“

WELT: Lesen Ihre Schüler noch zu Hause?

Schreiber: Vielleicht einer von 100 Schülern. Wenn sie einen Text von drei Zeilen lesen müssen, sind viele überfordert, den Inhalt zu erfassen. Sie verstehen nicht, was die Aufgabe ist. Eine Kollegin in der jüngeren Jahrgangsstufe hat im Deutschunterricht ein Vokabelheft eingeführt. Die Kinder wissen nicht, was ein Dackel oder eine Weide ist. Das wird nun in dem Heft erklärt. Lesen, Verstehen und Schreiben – es ist eine Katastrophe. Texte in Abschlussprüfungen sind teilweise ohne Punkt und Komma und in Kleinschreibung verfasst. Da ich in meinen Fächern nur den Inhalt bewerten soll, darf ich ihnen dafür keine Abzüge geben. Das führt mich zum Thema Lese-Rechtschreib-Störung.

WELT: Worum geht es dabei?

Schreiber: Bei einer Lese-Rechtschreib-Störung erkennen Menschen Worte und Buchstaben nicht richtig. Mit dieser Diagnose haben betroffene Schüler 25 Prozent mehr Zeit in den Klausuren. Das schafft einen Anreiz, sich um eine solche Diagnose zu bemühen. Inzwischen hat – je nach Klasse – jeder fünfte bis sechste Schüler eine Lese-Rechtschreib-Störung. Schüler, die wirklich eine Störung haben, erhalten keinen Vorteil mehr. Die Scham, eine solche Diagnose gestellt zu bekommen, ist weg, weil der individuelle Vorteil zu groß ist. Ich glaube, das hat bei vielen Schülern weniger mit Schwächen zu tun, sondern unter anderem mit der Art, wie in der Grundschule Lesen und Schreiben gelehrt wird. Auf Grammatik und Rechtschreibung wird kaum mehr Wert gelegt. Es soll alles nur noch Spaß machen.

WELT: Auch die Konzentrationsfähigkeit hat durch soziale Medien und Smartphones stark abgenommen. Sie haben Ihre Schüler einmal mit ihrer Bildschirmzeit konfrontiert. Was war das Ergebnis?

Schreiber: Das Ergebnis war erschreckend – für die Kinder und für mich. In der 8. Klasse liegt die durchschnittliche Bildschirmzeit bei sieben bis acht Stunden am Tag. Die Jungs spielen überwiegend, die Mädchen sind in den sozialen Netzwerken unterwegs. Hauptsache schnelle Klicks, viel Dopamin.

WELT: Wie ist der Umgang mit Handys und Tablets an Ihrer Schule geregelt?

Schreiber: Wir haben eine Handy-Garage, in der jeder Schüler am Anfang der Stunde sein Handy parken soll. Manche Schüler haben ein Zweit- oder Dritthandy. Dementsprechend funktioniert das nicht immer gut. Das Land hat die Anschaffung von iPads gefördert, aber inzwischen arbeiten wir seltener damit. Wir haben zu wenig Kontrolle darüber, was die Schüler tatsächlich damit treiben. Viele haben keine Ordnerstruktur, ständig werden Passwörter vergessen oder Bilder hin- und hergeschickt.

WELT: Also weniger Digitalisierung und zurück zum guten alten Frontalunterricht?

Schreiber: Kinder brauchen eine Struktur, weil sie daheim oft keine haben. Freies Arbeiten ist gut für die zwei oder drei Klassenbesten. Aber wenn die Kinder keine Organisation haben, Texte nicht erfassen können und permanent abgelenkt sind, funktioniert es nicht. Die Schüler haben ohnehin zu wenig soziale Kontakte im echten Leben. Daher sollte in der Schule eher der Umgang miteinander im Vordergrund stehen.

WELT: Welche Verantwortung tragen eigentlich Lehrer an der Misere? Den Typ Oberstudienrat mit Kenntnissen in Latein und Altgriechisch gibt es kaum noch. Stattdessen albern nicht wenige junge Lehrer in sozialen Medien herum, um vermeintlich nahbar zu sein.

Schreiber: Lehrer sind natürlich auch mitverantwortlich. Wir sind keine homogene Gruppe, aber es gibt einen Typ Lehrer, der möchte mit allen Schülern „Best Buddy“ sein. Dadurch gehen Distanz und Ernsthaftigkeit verloren. Andere beschränken sich angesichts möglicher Beschwerden von Eltern nur auf die Vermittlung der absoluten Basics. Und es gibt Lehrer, die nicht einmal das vermitteln, was im Lehrplan steht. Ich kenne Lehrer, die im Wirtschaftsunterricht sagen, dass sie freie Märkte und Kapitalismus ablehnen und den Sozialismus bevorzugen. Das lehren sie den Kindern dann auch so – völlig konträr zu dem Wirtschaftssystem in unserem Grundgesetz.

WELT: Wie läuft grundsätzlich der Umgang mit Politik?

Schreiber: Dazu kann ich eine Anekdote schildern. Eine Schülerin kam aufgelöst zu mir und fürchtete, dass sie abgeschoben wird. Sie ist geborene Deutsche mit Migrationshintergrund. Es stellte sich heraus, dass eine Lehrerin nur das wiedergegeben hat, was medial über eine Partei verbreitet wird, statt tatsächlich mit den Schülern in das Wahlprogramm zu gucken und die Berichterstattung zu hinterfragen. So schüren wir unnötig Ängste bei den Kindern.

„Schüler sehen sich als Syrer, Afghanen oder Albaner – obwohl sie teilweise noch nie in diesen Ländern waren“

WELT: An Ihrer Schule haben – je nach Klasse – bis zu 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Ist eine Integration dann noch möglich?

Schreiber: Wir haben fünfte Klassen, da sind, wenn es hochkommt, drei deutsche Namen dabei. Diese Schüler sind in der Minderheit, und dementsprechend ist eine Integration nicht mehr möglich. Wir müssen uns ganz anderen Diskussionen stellen: Jungen wollen nicht neben Mädchen sitzen, weil das die Religion nicht zulässt. Oder sie wollen mit den Mädchen in der fünften Klasse keinen Sport gemeinsam machen. Lehrerinnen werden angegangen, dass sie den Jungs nichts zu sagen hätten, weil sie Frauen sind. Das ist vorgekommen.

WELT: Welchen Hintergrund hatten die Jungs?
Schreiber: Syrisch, afghanisch – in die Richtung. Der Punkt ist: Fast alle meine Schüler sind hier geboren und haben einen deutschen Pass. Trotzdem fühlen sie sich nicht deutsch. Sie sehen sich als Syrer, Afghanen oder Albaner – obwohl sie teilweise noch nie in diesen Ländern waren. Wenn ihnen Lehrer dann noch einreden, dass die bösen Deutschen sie abschieben wollen, ist es logisch, dass keine gemeinsame Identität entstehen kann.

WELT: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es einmal zu einem regelrechten Wettstreit kam, wer alles nicht deutsch sei. Wie erklären Sie sich das?

Schreiber: Wir wissen selbst nicht mehr, wer wir sein wollen. Es gibt keine Leitplanken, welche Leistung und welche Werte wir einfordern. Wer dann Identität sucht, findet sie in der Herkunft – zumal in den Elternhäusern oft nicht Deutsch gesprochen wird.

WELT: Und wie haben Sie die Situation gelöst?

Schreiber: Ich habe mit vielen der Schüler immer wieder gesprochen und ihnen erklärt, dass ihre Eltern wahrscheinlich in Deutschland leben, weil es dort besser oder sicherer ist. Ich habe ihnen auch klargemacht, dass sie dazugehören, wenn sie hier geboren sind, die Staatsbürgerschaft haben und auch noch nie woanders waren. Ein Teil der Schüler hat es verstanden und sieht sich nun als Deutsche mit Migrationshintergrund.

WELT: Immer wieder erleben Sie, dass Schülerinnen plötzlich mit Kopftuch zum Unterricht kommen, in einem Fall sogar vollverschleiert.

Schreiber: In Bayern ist eine Vollverschleierung in der Schule verboten. Das Erschreckende ist, dass die Schülerin den Schleier zwei Tage lang trug, bis ich den Vorfall der Schulleitung gemeldet habe. Ich möchte sehen, mit wem ich spreche. Statt das Gesetz durchzusetzen, haben Kollegen akzeptiert, dass sich die Schülerin geweigert hat, ihren Schleier abzunehmen. Sie ist Achtklässlerin, die Kollegen sind Erwachsene.

WELT: In Berlin fallen Schüler mit Sätzen wie „Islam ist hier der Chef“ auf. Passiert das in Bayern auch?

Schreiber: So drastisch nicht, aber der Islam ist präsent. In Bayern dürfen muslimische Schüler am Zuckerfest oder Opferfest vom Unterricht befreit werden. Das sehe ich kritisch, denn es fördert die Spaltung. Ich muss anderen Schülern erklären, warum eine Gruppe mehr Rechte hat. Denn an den christlichen Feiertagen haben alle frei. Dazu kommt, dass vom Unterricht befreite Schüler teilweise zu Hause bleiben, ihre Eltern aber regulär zur Arbeit müssen.

„An Schulen sind wir die Ersten, die sehen, wie sich die Gesellschaft entwickelt“

WELT: Sie sind einerseits der Typ sympathischer Sportlehrer, andererseits sagen Sie, einen Ruf als strenger Lehrer zu haben. Braucht es das?

Schreiber: Meine Schüler wissen genau, was bei mir geht und was nicht. Ich bin auf der einen Seite streng, aber auch klar in dem, was ich sage und auch vorlebe. Ich glaube, dass die Kinder Leitplanken brauchen. Es ist unsere Aufgabe als Lehrer, nicht nur zu unterrichten, sondern die Schüler gesellschaftstauglich zu machen – vielleicht sogar zu mündigen Bürgern zu erziehen.

WELT: Was wäre eine Lösung für die von Ihnen angesprochenen Probleme?

Schreiber: An Schulen sind wir die Ersten, die sehen, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Wir brauchen klare Werte, die wir gemeinsam definieren und dann auch vertreten – sei es Pünktlichkeit oder auch das Zeigen des Gesichts. Wenn wir uns Regeln gegeben haben, müssen wir sie konsequent durchsetzen. Und wir müssen – unabhängig von Religion oder Herkunft – wieder mehr Leistung einfordern.

WELT: Und was wünschen Sie sich von der Politik?

Schreiber: Auf längere Sicht bräuchten wir kleinere Klassen und mehr Quereinsteiger aus der Praxis, die zum Beispiel wissen, was es bedeutet, die Hälfte des Gehalts an den Staat abzugeben. Wir müssen wieder dafür sorgen, dass junge Menschen einen Beruf ergreifen und selbstständig im Leben stehen können. Auch sollten Eltern und Lehrer wieder gemeinsam an einem Strang ziehen, zum Wohle ihrer Kinder. Was oft vergessen wird, ist, dass wir Lehrkräfte nur das Beste für die Schüler wollen.

WELT: Sie haben Ihr Buch im Selbstverlag veröffentlicht und sich dafür auch ein Vorwort von Boris Palmer schreiben lassen. Warum?

Schreiber: Palmer ist politisch neutraler dadurch, dass er in keiner Partei ist. Er vertritt ähnliche Ansichten wie ich. Ich habe mein Buchprojekt vom Lektorat bis zum Cover selbst organisiert, um möglichst unabhängig zu bleiben. Es geht mir weniger um einen Bestseller als um das Thema. Obwohl viel über die Probleme an unseren Schulen berichtet wird, passiert noch immer zu wenig.

Jonas Schreiber, „Realtalk: Lehreralltag“, Books on Demand, 14,99 Euro.

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