28 Juli 2022

Deutschlands gefühlte Armut – Sorget euch nicht, die Politik hilft (NZZ)

Mehr Klartext geht nicht. 
Deutschlands gefühlte Armut – Sorget euch nicht, die Politik hilft (NZZ)
In Deutschland ist viel Not hausgemacht und importiert, aber die wahren Ursachen des Wohlstandsverlustes werden ignoriert. Über ein Land zwischen gefühlter Armut und eingebildetem Reichtum.
Wolfgang Bok,
Deutschland ist ein reiches Land, das sich viel Armut leistet. So geht die Klage zwischen Kiel und Konstanz, die umso lauter vorgetragen wird, je näher Gasnotstand und Wahlen rücken. Und Wahlen drohen in der föderalen Bundesrepublik irgendwo immer. Wobei CDU und CSU im Wettstreit um die grössten Spendierhosen der SPD um nichts mehr nachstehen wollen. Bayerns Ministerpräsident Söder toppt die SPD nun mit der Forderung nach einem «Winter-Wohngeld» für alle. Und alle gemeinsam haben sie die Rentner als Notleidende entdeckt, denen man zwingend ebenfalls eine «Energiepauschale» von 300 Euro überweisen müsse. Dafür gibt es bundesweit viel Zustimmung. Niemand soll in der Kälte stehen, wenn der warme Geldregen niedergeht.

Rentner stellen ein Drittel der Wählerschaft

Das ist insofern kurios, da es keiner Senioren-Generation besser geht als der jetzigen. Nur etwa 3 Prozent der 21 Millionen Rentner sind auf Grundsicherung angewiesen. Und das, obwohl private Vermögen bei der Berechnung der Bedürftigkeit nicht einmal berücksichtigt werden dürfen. Diese Einnahmen, etwa Zinsen, Dividenden oder Mieten, bleiben auch den Rentenversicherern verborgen. Mit der Folge, dass auch die Seniorin, die als Hilfskraft im Familienunternehmen als Mini-Jobberin angemeldet wurde, um günstig sozialversichert zu sein, selbst dann zu den Kleinrentnern zählt, wenn sie aus einem Mietshaus stattliche Erträge bezieht.

Dieses nicht seltene Beispiel verdeutlicht, dass Bedürftigkeit in Deutschland weniger von den Fakten als von Ideologie begründet wird. 21 Millionen Rentner stellen beinahe ein Drittel der Wählerschaft. Also beschenkt der Minister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil (SPD) diese Gruppe mit der höchsten Rentenerhöhung seit 30 Jahren: 5,35 Prozent im Westen, 6,12 Prozent im Osten. Das kostet die Alterskassen eben mal 19 Milliarden Euro, weitere 2,6 Milliarden für Zuschläge bei Erwerbsminderung. Die Rente mit 63, ebenfalls ein teurer Wahlköder der SPD, kostet 36 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz steigend, denn die Frührente ist trotz Abschlägen populär, was zugleich die Klagen über die Not der Rentner widerlegt.

Gleichwohl fahnden die Medien geradezu nach Bedürftigen, die sich steigende Energie- und Lebensmittelpreise nicht mehr leisten können. Selbst die Grünen, denen beides aus ökologischen Umerziehungsgründen bisher nicht teuer genug sein konnte, stimmen ein in das paternalistische Schnüren von Hilfspaketen. Der grüne Landwirtschaftsminister Özdemir, der noch vor dem Überfall auf die Ukraine die «Ramschpreise» insbesondere bei Fleisch beklagt hatte, sorgt sich nun um «leere Kühlschränke». Selbst die verpönte Ferienreise wird plötzlich zum Armutsindikator. Dabei zeugen das Chaos an den Flughäfen und lange Staus vom Gegenteil. Es sind auch keine Hungerbäuche, die sich an den Buffets der Kreuzfahrtschiffe drängen, zu deren treuesten Kunden die angeblich so notleidenden Senioren zählen.

Deutschland stößt an Belastungsgrenzen

Business Class Edition: Der Corona-Blindflug

Business Class Edition
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Der Corona-Blindflug
Guten Morgen,
wer in diesen Tagen mit dem Zug von Prag nach Berlin fährt, erlebt an der tschechisch-deutschen Grenze einen eigentümlichen Moment. Die Menschen in den Abteilen bleiben unverändert und auch die Aerosole sind dieselben – aber plötzlich gilt wieder die Maskenpflicht.

Bei Flügen galt bis vor kurzem, dass etwa auf dem Weg von Brüssel nach Portugal keine Maske aufgesetzt werden musste, am Flughafen von Faro allerdings doch. Auf dem Rückweg von Brüssel nach Berlin musste die Maske dann wieder getragen werden, am Berliner Flughafen dagegen nicht, in der S-Bahn in die Stadt jedoch sehr wohl wieder.

Wer sich auf einer dieser Reisen mit Corona angesteckt hat, wird keine Ahnung haben, woran es lag. Wer sich schützen konnte, weiß genauso wenig, warum.

Das Regelwerk bleibt auch in diesem Sommer nicht nur international chaotisch, auch die Datenlage ist noch immer in vielen Bereichen dünn. Zum dritten Mal marschieren wir in einen Corona-Herbst, in dem wahrscheinlich wieder alles anders kommt, als erwartet, und keiner sich so richtig entscheiden mag, was überhaupt an Maßnahmen richtig wäre.

Das Chaos in fünf Kapiteln

1. Wir wissen nicht, wo wir stehen.

Die wohl größte Variable liegt in diesem Sommer bereits bei der grundsätzlichsten aller Zahlen – der Inzidenz. Der aktuelle Wert lin Deutschland lag am Dienstag bei 679. Schon in früheren Wellen war von einer hohen Dunkelziffer und dem insgesamt mindestens doppelten Wert ausgegangen worden. Doch seit die Schwere der Erkrankung in vielen Fällen abnimmt und zudem seit dem 30. Juni Schnelltests nicht mehr kostenlos für alle zugänglich sind, nimmt die Motivation zum Testen deutlich ab. Während zwischen dem 31. Januar und 6. Februar noch 2,6 Millionen Tests durchgeführt wurden, waren es Anfang Juli nur noch 915.000. Ein vielfach höherer Wert als die ausgegebene Inzidenz dürfte daher diese Sommerwelle ausmachen, in der gefühlt permanent Menschen um einen herum infiziert sind. Nur: Wir wissen es nicht wirklich.

2. Die Impfungen wirken, aber wir wissen nicht genau, wie sehr.

Seit Beginn der Kampagne in Deutschland wurden bislang 183,7 Millionen Impfdosen verabreicht. 76,2 Prozent der Bevölkerung sind grundimmunisiert, haben also zwei Dosen erhalten. 61,8 Prozent haben zusätzlich eine Auffrischungsimpfung erhalten. 

Auf den Intensivstationen stellt der relativ kleine Teil der ungeimpften Bevölkerung einen relativ großen Teil der Patienten dar. Unter Erwachsenen im Alter von 18 bis 59 Jahren zählte das RKI im Juni von insgesamt 29 Millionen Menschen mit Auffrischungsimpfung drei Intensivpatienten, während von den über sieben Millionen Ungeimpften ebenfalls nur drei Personen auf der Intensivstation landeten.

Fakt ist auch: Der Impfschutz schwindet mit der Zeit, nur wie stark ist aufgrund der geringen Datenlage schwer zu sagen. Das RKI schreibt lediglich, es sei klar, dass „die derzeit verfügbaren Impfstoffe mehrere Monate nach der Impfung eine asymptomatische Infektion oder milde Verlaufsform von COVID-19 inzwischen nur noch in geringem Maße verhindern können.“ Bei den Berechnungen der Effektivität könne es zu „Verzerrungen“ kommen. Mit anderen Worten: Die Impfeffektivität nimmt ab. Genaue Zahlen – Fehlanzeige

3. Wir wissen nicht, ob wir uns noch einmal boostern lassen sollen.

Ob eine vierte Impfung Abhilfe für den Herbst verschaffen könnte, ist unklar. Die Europäische Arzneimittel-Agentur oder die Deutsche Gesellschaft für Immunologie empfehlen diese für Vorerkrankte und allen ab 60. Einer der wichtigsten Gesundheitsfunktionäre, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, will sich dennoch kein viertes Mal impfen lassen.

Die Ständige Impfkommission rät bisher nur allen über 70 Jahren zur vierten Impfung. Gesundheitsminister Karl Lauterbach dagegen rät auch allen unter 60 die Impfung in Betracht zu ziehen. Die Experten sind sich uneins. Dem Bürger bleibt schon jetzt nur noch, eigenverantwortlich selbst im Dunkeln zu tappen.

4. Wir wissen nicht, welche Maßnahmen helfen.

Dieses Jahr sollte alles anders sein: Frühzeitige Vorbereitung, betonte Lauterbach, sei das A und O. Außerdem sollten Corona-Maßnahmen diesmal auf Basis ihrer empirischen Wirksamkeit umgesetzt werden.

Wie wirksam die verschiedenen Schutzmaßnahmen sind, das wollte der Corona-Sachverständigenausschuss auswerten. Allerdings sind die Ergebnisse des Ausschusses laut eigenen Angaben wenig aussagekräftig. Der Grund: Eine „lückenhafte Datenlage“ der wichtigsten Erhebung der Pandemie. 

  • Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten demnach nicht ableitbar. Empfohlen wird sie trotzdem. Selbst Justizminister Marco Buschmann hält eine Maskenpflicht im Herbst in Innenräumen für denkbar.

  • Lockdowns sind vor allem bei der Ausbreitung einer Pandemie wirksam, nicht aber wenn sich wie aktuell schon viele Personen angesteckt haben. Diskutiert werden sie trotzdem noch, etwa von Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes. Er sagt:

"Wer von vornherein Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Lockdowns kategorisch ausschließt, hat weder den Sinn des Gesetzes verstanden noch den Ernst der Lage begriffen".

  • Die Wirksamkeit von Schulschließungen ist ungeklärt.

  • 2G beziehungsweise 3G Regelungen sind vor allem kurz nach Impfung oder Genesung wirksam.

  • Tagesaktuelle Tests sind ohne kürzliche Impfung oder Genesung die bessere Option. Diese sind momentan jedoch in vielen Fällen kostenpflichtig.

Die geltende Fassung des Infektionsschutzgesetzes läuft am 23. September aus. Bis Ende diesen Monats soll ein neues Konzept für den Winter stehen

Laut Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist eine neue Impfkampagne geplant. Genügend Impfdosen für die neueste Variante sowie Tests sollen zur Verfügung stehen. FDP-Mann Buschmann mahnt: „Der Datenblindflug muss ein Ende haben.“ Es bleibt ein frommer Wunsch der Politik an sich selbst.

5. Wir wissen nicht, was das richtige Verhalten am Arbeitsplatz ist.

Die Corona-Sommerwelle sorgt für Personalausfälle – auch in wichtigen medizinischen Bereichen. 55 Prozent der Intensivstationen in Deutschland mussten laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bereits ihre Leistungen reduzieren. Diesmal liegt es nicht an den vielen Patienten, sondern an den Personalausfällen.

Christian Karagiannidis, Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung und wissenschaftlichen Leiter des DIVI-Intensivregisters, sagt:

"Ich habe noch nie so viele Personalausfälle durch COVID gesehen wie in dieser Welle".

Auch der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß sagt:

"Aus allen Bundesländern erreichen uns Meldungen, dass einzelne Stationen und Abteilungen auch wegen Personalmangels abgemeldet werden müssen".

„Das Problem sind nicht die vielen Infektionen, sondern, dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben, in Isolation geschickt werden. Dadurch entstehen die Personalengpässe in den Kliniken und anderswo.” Nun gibt es bereits den Vorschlag, bei nicht auftretenden Symptomen auch nicht in Quarantäne gehen zu müssen.

Er versinkt in einer Kakophonie der Meinungen.

Fazit: Im dritten Pandemie-Sommer scheint die Politik so wenig Kompass in der Corona-Politik zu haben, wie nie zuvor. Die Meinungen schwanken zwischen Inferno und Erkältungswelle, zwischen Lockdown und Normalität. Der Bürger muss nach eigener Einschätzung entscheiden, was richtig ist. Die Eigenverantwortung des Einzelnen übernimmt. Es braucht noch noch nicht einmal eine politische Entscheidung dafür.

27 Juli 2022

Pro und Contra: Sanktionen gegen Russland beenden? - Die Sanktionen sind sinnlose Kraftmeierei (Cicero+)

Pro und Contra: Sanktionen gegen Russland beenden?
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Die Sanktionen sind sinnlose Kraftmeierei (Cicero+)
Russlands Wirtschaft steht nach wie vor gut da - trotz der Sanktionen, an denen sich ohnehin ein großer Teil der Welt nicht beteiligt. Aber sie könnten für Europa den wirtschaftlichen Selbstmord bedeuten. Derweil geht der Krieg in der Ukraine unvermindert weiter. Außer einem guten Gewissen und der drohenden Selbstzerstörung aus Ohnmacht haben die Sanktionen nichts gebracht.
VON RALF HANSELLE am 27. Juli 2022
Gestern argumentierte Thomas Dudek an dieser Stelle gegen eine Aufhebung der Sanktionen.
Nicht jedes Märchen endet mit einem Happy End. Denken Sie nur an Rumpelstilzchen: Nachdem der dämonische Hutzelmann tagein, tagaus das gleiche Mantra in die Welt hinaus posaunte – dieses abgeleierte „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“ –, zerschellte seine falsche Weltsicht irgendwann an den Steilklippen der Realität. Märchenfreunde mögen sich noch erinnern: Die von Rumpelstilzchen als Geisel gehaltene Müllertochter war irgendwann hinter das Rätsel und somit hinter den Namen des geradewegs hysterischen Winzlings gekommen, und der sprang daraufhin wutentbrannt in die Luft, sagte einen allerletzten Satz („Das hat dir der Teufel gesagt“) und zerrisst sich hernach voll Zornesröte in zwei Teile.

Nun ist ein Kommentar über die Gräuel des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und die daraufhin beschlossenen Sanktionen gegen Moskau wahrlich keine Märchenstunde. Der Horror, den wir tagein, tagaus über Videos, Bildreportagen oder Erzählungen in unsere westeuropäischen Komfortzonen gestreamt bekommen, ist absolut real. Nehmen Sie nur einmal die vergangene Nacht: Während Söldner der russischen Wagner-Gruppe auf das Dorf Nowoluhanske vorrückten, gab es Kämpfe zwischen der russischen und der ukrainischen Armee in der Ortschaft Andrijiwka im Süden. In einem deutschen Nachrichtenmedium lesen sich solche Vorgänge wie folgt: „Während im Osten des Landes weiterhin die Moskauer Truppen die Initiative haben, ist Kiew im Süden inzwischen zu Gegenangriffen übergegangen.“ Wie viele beendete Leben hinter dieser nüchternen Kriegsprosa stehen, wie viel Tod das Wort „Moskauer Truppen“, wie viel Sterben der Stadtname „Kiew“ inkludieren? Man kann es vermutlich nicht mal ahnen.

Nein, dieser Krieg ist kein Märchen. Und doch agiert man in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit seit Wochen bereits wie das zuckende und von autodestruktiven Impulsen geplagte Männlein aus den Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Zunächst plustert man seine Zwergengestalt mit Rezitationsversen auf, die eher an Hau-den-Lukas denn an die Niederungen des Realen erinnern („Die Sanktionen wirken dramatisch“, Roderich Kiesewetter; „Putin hat das Gas, wir haben die Kraft“, Robert Habeck). Und dann, wenn derlei Kraftmeiereien an ihre Grenzen kommen und die sicherlich gut gemeinten Wünsche mit der Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, dann zerreißt man sich lieber in zwei Teile, als dass man im vielleicht allerletzten Moment endlich auf Realitätskurs wechselt.

Russland könnte trotz Sanktionen einen Handelsbilanzüberschuss von 250 Milliarden Dollar erwirtschaften

Denn zu dieser Realität würden bittere Einsichten gehören: Und die könnten bald für Deutschland – und somit für ganz Europa – derart schmerzhaft werden, dass sie kaum noch zu ertragen sein dürften. Laut dem erneuerten World Economic Outlook des IWF etwa muss Deutschland bereits jetzt seine Wachstumsaussichten für dieses Jahr innerhalb von nur drei Monaten um fast zwei Prozent nach unten korrigieren. Deutschland käme demnach nicht, wie noch im April prognostiziert, auf ein Wachstum von 2,7 Prozent, sondern lediglich noch von 0,8 Prozent. Unter den großen Wirtschaftsnationen wäre man hierzulande zumindest fürs Erste der größte Verlierer. Nicht nur in Brüssel scheint man daher bereits heute zu ahnen, dass ganz EU-Europa einen fiesen Schnupfen bekäme, wenn man in Berlin und Frankfurt weiterhin hüstelt.

Doch es kommt noch dicker: Während die Weltwirtschaft also allmählich in die Rezession stolpert und in den USA und der Eurozone immer höhere Inflationsraten drohen, scheint man sich im Kreml wider alle Unkenrufe und trotz aller Sanktionen noch wacker zu halten. Die Erfolgsmeldungen jedenfalls überstürzen sich: „Das Geschäft mit Öl und anderen Exportgütern hat sich als stabiler erwiesen als erwartet“, so etwa der IWF am gestrigen Dienstag mit Blick auf die russische Wirtschaftskraft. Der Bankensektor des Landes sei demnach stabil und die Arbeitslosenquote mit angeblichen 3,9 Prozent sogar rückläufig. Zwar rechnet man nach Angaben der russischen Zentralbank Rossii für 2022 mit einer Jahresinflationsrate zwischen 14 und 17 Prozent, das wäre allerdings weniger, als man in den ersten Kriegswochen noch vermuten musste. Der britische Economist ging im Mai 2022 sogar davon aus, dass Russland trotz des Krieges und der Sanktionen des Westens einen Handelsbilanzüberschuss von 250 Milliarden Dollar erwirtschaften könnte.

Pro und Contra: Sanktionen gegen Russland beenden? - Eine Aufhebung der Sanktionen wäre Verrat (Cicero+)

Pro und Contra: Sanktionen gegen Russland beenden?
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Eine Aufhebung der Sanktionen wäre Verrat (Cicero+)
Sollte Deutschland seine Sanktionen gegen Russland beenden? Nein, sagt Cicero-Autor Thomas Dudek. Denn die Sanktionen zeigen zunehmend Wirkung auf die russische Wirtschaft. Zudem würde Deutschland endgültig das ohnehin angeknackste Ansehen und Vertrauen bei seinen östlichen EU- und Nato-Partnern verspielen.
VON THOMAS DUDEK am 26. Juli 2022
In diesem Text argumentiert Thomas Dudek gegen eine Aufhebung der Sanktionen. Am morgigen Mittwoch folgt ein Plädoyer des stellvertretenden Cicero-Chefredakteurs Ralf Hanselle für ein Ende der Sanktionspolitik.
Die spürbare Inflation, steigende Energiepreise, ausbleibende Gasimporte aus Russland und Meldungen über sogenannte „Wärmestuben“, die von einigen Kommunen für die Wintermonate vorbereitet werden – viele Nachrichten klingen derzeit wie ein Horrorszenario. Bei all diesen Umständen ist es verständlich, dass die Stimmen nach einer Aufhebung der von Deutschland und seinen Partnern als Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine gegen Russland verhängten Sanktionen immer lauter werden. Doch so verständlich diese Rufe auch sein mögen, so wäre solch eine Entscheidung aus mehreren Gründen ein großer Fehler.

Da wäre einerseits die Ukraine. Eine Aufhebung der Sanktionen wäre für das von Putin angegriffene Land durchaus ein Verrat. Denn man würde die Menschen, die man seit dem 24. Februar durch finanzielle, humanitäre und militärische Hilfe unterstützt, trotz aller Solidaritätsbekundungen wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Und wahrlich ins eigene Bein schießen würden sich Deutschland und seine Partner, wenn sie die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland aufheben würden, ohne die finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine zu beenden. Schon heute entbehrt es nicht einer gewissen Tragik, dass der Westen durch seine Gasimporte Geld in die Taschen des Kremls spült. Geld, welches es Putin ermöglicht, seine Kriegs- und Propagandamaschinerie am Laufen zu halten. Gegen die Ukraine und gegen den Westen.

Eine Aufhebung der Sanktionen würde aber auch bedeuten, dass Russland wieder auf den internationalen Märkten Feinelektronik kaufen könnte, die es dringend für seine Rüstungsindustrie benötigt. Langfristig würde das bedeuten, dass Putin auch sein Waffenarsenal mit modernerem Gerät auffüllen könnte. Das Ergebnis wären neue Raketen, Panzer und Kampfflugzeuge, die das russische Militär mit indirekter Hilfe des Westens gegen die ganzen Panzerhaubitzen, Panzer und andere Waffen einsetzen könnte, die Deutschland und seine Partner bisher an die Ukraine geliefert haben.

Russland hält sich nicht an Vereinbarungen

Was wir in Deutschland bei unserem Blick auf die stockenden Gaslieferungen, leeren Gasspeicher und steigenden Energiepreise gerne vergessen, ist die Tatsache, dass die westlichen Sanktionen auch in Russland wirken. Denn so sehr Putin sich nach außen gelassen gegenüber dem „wirtschaftlichen Blitzkrieg“ zeigt, wie er selbst die westlichen Sanktionen nennt und dabei zum Beispiel auf den Rubelkurs verweist, die Auswirkung der Sanktionen auf die russische Wirtschaft musste auch er einräumen. Nicht nur die hohe Inflation von 17,5 Prozent gab Putin zu. Dass viele russische Privatunternehmen die nächsten Monate nicht überleben werden, musste der russische Präsident ebenfalls gestehen.

Ein weiteres Argument gegen eine Aufhebung der Sanktionen, welche die russische Propaganda feiern würde wie den Sieg in einem Krieg, ist die fehlende Glaubwürdigkeit des Kremls. Denn es gibt keine Garantie, dass Russland auch nach deren Ende wieder zuverlässig Gas über Nord Stream 1 oder die Jamal-Pipeline liefern wird. Und da helfen auch nicht die Verweise auf die zuverlässigen Lieferungen aus Russland, wie sie vor dem 24. Februar üblich waren. Und dies aus mehreren Gründen. Sollte der Westen auch nach der Aufhebung der Sanktionen die Ukraine finanziell und militärisch unterstützen, ist es nicht ausgeschlossen, dass Putin dies bestraft, indem er wieder am Gashahn dreht. Und dass dem Kreml die Hilfe des Westens für die Ukraine missfällt, daraus macht er kein Geheimnis.

Putins Weg in die Radikalisierung (NZZ)

Putins Weg in die Radikalisierung
Vor 20 Jahren sah es so aus, als ob sich der russische Präsident Putin dem Westen annähern würde. Was geschah dann? Eine Analyse seiner wichtigsten Reden liefert Antworten.
Katrin Büchenbacher, Cian Jochem,
«Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel», sagt der russische Präsident Wladimir Putin. Es ist der 25. September 2001, wenige Wochen nach den Terroranschlägen des 11. Septembers. Putin spricht vor den über 650 Abgeordneten des Bundestags in Berlin.
Er fängt auf Russisch an und geht dann in einwandfreies Deutsch über, wickelt sein Politikerpublikum um den Finger, kokettiert, erntet Applaus. Er nennt die Abgeordneten seine «lieben Freunde», spricht davon, die deutsch-russische Partnerschaft zu einem gemeinsamen «europäischen Haus» auszubauen, erklärt: «Der Kalte Krieg ist vorbei.» Seine Rede mündet in minutenlangem Beifall. Der ganze Bundestag hat sich für den knapp 50-jährigen Putin aus den Sesseln gehievt.

Zwei Jahrzehnte später greift Putin die Ukraine an und zerstört die Hoffnungen, die er damals in seiner Rede in Berlin geweckt hatte, endgültig. Statt auf Zusammenarbeit setzt er auf volle Konfrontation mit dem Westen. Wie konnte es so weit kommen?

Putins Reden zur Lage der Nation verraten viel

Hätte man Putin doch bloss über die Jahre besser zugehört, mahnten Russlandkenner nach dem Tag des Angriffs auf die Ukraine. Sie forderten, Diktatoren wie Putin ernster zu nehmen und auch Propagandareden an ein heimisches Publikum genauer zu studieren: Denn sie verraten viel über Haltung, Pläne und Absichten der Machthaber.

Wir haben uns Wladimir Putins wichtigste Reden genauer angeschaut. Einmal jährlich hält der russische Präsident eine umfassende Ansprache zur Lage der Nation vor dem Parlament. In Putins vier Amtszeiten als Präsident von 2000 bis 2008 und von 2012 bis heute hat er insgesamt 17 solcher Reden gehalten. Sie geben die grundsätzliche Richtung der russischen Innen- und Aussenpolitik für die nächsten Jahre und Jahrzehnte vor.

Schon alleine die Häufigkeiten einzelner Begriffe in diesen Reden liefern Hinweise dafür, wie sehr Putin Russland über die Jahre isoliert, sich selbst radikalisiert und das Land unfreier gemacht hat. Die Analyse seiner Reden macht klar, wie rasch und wie stark sich seine politischen Prioritäten verschoben haben. Sie zeigt auf, wie sich Putins Misstrauen gegenüber dem Westen letztlich vollends durchgesetzt hat.

Putins versöhnliche Anfänge – alles nur Täuschung?

Putin wird im März 2000 zum Staatspräsidenten gewählt. Drei Monate später hält er seine erste Rede zur Lage der Nation. Darin stellt er seine Vision von einem starken, friedfertigen, integrierten Russland vor: «Stark nicht gegen die internationale Staatengemeinschaft, nicht gegen andere starke Nationen, sondern gemeinsam mit ihnen.»

Bei seiner ersten Kreml-Pressekonferenz als Präsident im Juli 2001 schlägt Putin wie sein Vorgänger Boris Jelzin den Beitritt Russlands zur Nato vor – jener Verteidigungsorganisation, die 1949 gegen die sowjetische Bedrohung gegründet wurde.

Die USA gehen nicht direkt auf Putins Vorschlag ein, doch ein Jahr später wird der Nato-Russland-Rat gegründet. Der damalige amerikanische Präsident George W. Bush hatte Putin im Juni 2001 «in die Augen geblickt» und sagte: «Ich empfand ihn als sehr direkt und vertrauenswürdig. (. . .) Ich konnte ein Gefühl für seine Seele bekommen; ein Mann, der sich seinem Land und den besten Interessen seines Landes zutiefst verpflichtet fühlt.»

Bei Putin klang es damals anders – er sah die warmen Worte Bushs in starkem Kontrast zur Ausdehnung der Nato: «Sie ist eine militärische Organisation. Ja, sie ist militärisch . . . Ja, sie bewegt sich auf unsere Grenze zu. Aber warum?»

Das Bild von Putin als friedfertigem Demokraten, der dem Westen die Hand reicht, war möglicherweise von Anfang an von Wunschdenken geprägt.

Die nuller Jahre: Putin versinkt in der Furcht vor Einkreisung

Deutschland wird zum großen Verlierer (WELT+)

Deutschland wird zum großen Verlierer (WELT+)
Chefredakteur, 26.07.2022
Der IWF sieht die Welt erneut vor einer Rezession. Und der größte Verlierer unter den großen Wirtschaftsnationen wird demnach Deutschland sein. Das rot-grün-rot regierte Berlin steht dabei pars pro toto für das Versagen der Politik.

Der Schlafwandler als politische Metapher wird bemüht, wenn es darum geht, Europas Rutschen in den Ersten Weltkrieg zu illustrieren. Noch besser aber scheint sie auf Deutschlands aktuelles Stolpern in ein wirtschaftliches Desaster zu passen. Laut IWF steht die Welt erneut vor einer Rezession. Der größte Verlierer unter den großen Wirtschaftsnationen sei Deutschland.

Das wundert kaum, hat sich das Land doch von Ambition und Exzellenz emanzipiert. Das Leistungsprinzip gilt auch in Unternehmen nur eingeschränkt, kulturelle Themen werden in den Fokus geschoben, und die ökologische Transformation wird weniger mit der nötigen Entfesselung von Unternehmertum und Forschung betrieben, sondern mit Gängelung der Unternehmen.

Noch mehr bürokratische Projekte wie die Novelle des Nachweisgesetzes drohen, die Abgaben sind hoch, und die guten IT-Experten, die weltweit angeworben werden müssen, machen wegen hoher Steuern einen Bogen um Deutschland. Jeder Junior-Coder landet hier bei einem leistungsfeindlichen Spitzensteuersatz. Berlin, rot-grün-rot regiert, steht pars pro toto für ein Versagen der Politik, wenn es darum geht, Grundlagen für künftiges Wachstum zu legen.

Ein grotesk dimensionierter öffentlicher Dienst und ein dennoch – verglichen mit Bayern zum Beispiel – bemerkenswert hoher Krankenstand setzen den Ton. Motivierte Polizisten erleben, wie eine grüne Senatorin (und Vize-Ministerpräsidentin) mit Autobahn-Blockierern sympathisiert; Start-uper erzählen, wie ihre Vorstöße, Berlin umsonst eine digitale Verwaltung zu konfigurieren, von Spitzenpolitikern abgebügelt werden. Und das ist die Hauptstadt.

Die deutsche Außenhandelsbilanz ist negativ, die Kauflaune im Keller, Arbeitskräfte fehlen, und die Ampel reagiert darauf (jaja, der Koalitionsvertrag) mit einer Aussetzung der Hartz-Sanktionen. In der Energiepolitik wartet schon der nächste Sprengstoff. Der aktuelle „Economist“ höhnt über die Anti-Fracking-Märchen der Grünen und wie sie damit die eigenen Erdgas-Reserven stilllegen, um von Putin noch abhängiger zu werden. Wir sind ein Witz. Noch lachen wir.

26 Juli 2022

Burnout oder die Flucht vor den Nachrichten – Wie entkommen wir der Überdosis an Kriegs- und Katastrophenmeldungen? (NZZ)

Burnout oder die Flucht vor den Nachrichten – Wie entkommen wir der Überdosis an Kriegs- und Katastrophenmeldungen? (NZZ)
Auch wer keinerlei Neigung zu depressiven Verstimmungen hat, fühlt sich in einer Endlosschleife fataler Botschaften und dunkler Aussichten gefangen.
Reinhard Mohr,
Es beginnt langsam, ja schleichend, fast unmerklich. Ob Deutschlandfunk, ZDF-«Heute»-Nachrichten, «Brennpunkt» im Ersten oder «Anne Will»-Talkshow: Man schaltet immer häufiger aus, weg oder um. Es sind Ausweichmanöver eines wohlverstandenen Selbstschutzes. Nicht wenige flüchten abends zu den «Bergrettern» oder an den «Tisch in der Provence». Ob Corona, Klima oder Ukraine-Krieg, Inflation oder Korallensterben in der Südsee, Dürre, Erdrutsche oder die Wahl einer linksidentitären Antirassismus-Aktivistin zur Antidiskriminierungsbeauftragten der deutschen Bundesregierung – es ist einfach zu viel.

Auch wer keinerlei Neigung zu depressiven Verstimmungen hat, fühlt sich in einer Endlosschleife fataler Botschaften und dunkler Aussichten gefangen. Diese trüben die Freude am Leben und jene Zuversicht, ohne die es nicht geht, weder für das Individuum noch für die Gesellschaft.

Selbst Hardcore-Nachrichtenjunkies und Alt-68er, die sich noch im hohen Alter für die Feinheiten der myanmarischen Innenpolitik, die schier ausweglose Situation in Simbabwe und die Konflikte in der kolumbianischen Guerillabewegung Farc interessieren, spüren die Überdosis an Kriegs- und Katastrophenmeldungen, welche die Psyche merklich strapazieren. Auch wer es seit je mit der alten Losung hält, Wissen sei Macht, und unaufhörliche Selbstaufklärung für die erste Bürgerpflicht hält, erwischt sich dabei, vor dem dritten Bericht über den beschleunigten Ausbau von Windkraftanlagen im ARD-«Morgenmagazin» auszusteigen.

Keine Frage: Nach fast zweieinhalb Jahren eines permanenten pandemischen Ausnahmezustands ist das Nervenkostüm der meisten Zeitgenossen ziemlich dünn geworden. Psychologen haben eine regelrechte «news fatigue» entdeckt, eine Nachrichtenmüdigkeit, die sich aus mehreren Quellen speist. Die andauernde Negativitätsspirale, so eine Studie über «digitale Resilienz in der Mediennutzung», verstärke Hoffnungslosigkeit und ein Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit. Dazu kämen Abnutzungseffekte – deutlich zu sehen an der schwindenden Wahrnehmung des Ukraine-Krieges nach beinah fünf Monaten – und die Verringerung der intellektuellen wie emotionalen Verarbeitungskapazität angesichts all der Informationen, die unentwegt auf die Bevölkerung einstürmen.

Kein Wunder, dass mittlerweile nur noch 57 Prozent der erwachsenen Internetnutzer sich überhaupt für aktuelle politische Nachrichten interessieren, wie der «Digital News Report» des Leibniz-Instituts für Deutschland resümiert. Bei den Jungen bis 24 Jahren sind es gar bloss 31 Prozent.

Katastrophen und Kriege gab es schon immer

Aber war es eigentlich nicht immer so? Krisen, Katastrophen und Kriege haben einander stets abgewechselt, von der Kuba-Krise zum Vietnam-Krieg, der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts über die Terroranschläge vom 11. September 2001, den zweiten Irak-Krieg und die Weltfinanzkrise 2008 bis zum Dauerdesaster in Afghanistan. Und stets war es eine Minderheit, die sich damit dauerhaft auseinandersetzte.

Worin besteht dann also der Unterschied zu heute?

Journalismus in der Krise - Deutsche Medien: Schmusekätzchen der Regierenden (Cicero+)

Journalismus in der Krise
- Deutsche Medien: Schmusekätzchen der Regierenden (Cicero+)
Von den 90er Jahren, in denen es um die existentielle Frage der deutschen Währung ging, zieht sich ein roter Faden bis hin zur Gegenwart, was die Arbeit und das Selbstverständnis der deutschen Qualitätsmedien angeht. Je wichtiger das Thema, desto geringer die Distanz zwischen Journalisten und Politikern. Europafreundlich, flüchtlingsfreundlich, klimafreundlich soll die Haltung sein – doch die Wirklichkeit dementiert diese guten Vorsätze mehr und mehr auf das Heftigste.
VON JENS PETER PAUL am 17. Juli 2022

Wie konnte das passieren? Wie konnte sich unser Land derart abhängig machen von russischem Gas, von einem Despoten in Kreml, seine ganze sogenannte Energiewende auf eine Illusion bauen, die zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt war, schon gar nicht seit der Rückkehr des Herrn Putin ins Präsidentenamt? Der Schaden ist gigantisch, die Kosten nähern sich alleine für Deutschland dem Billionenbereich. Ganzen Branchen droht der Bankrott und Städte planen die Einrichtung von Wärmestuben.

Die Antwort ist so schlicht wie unangenehm – und sie führt weit über die aktuelle Energiekrise hinaus: Es konnte passieren, weil Deutschlands Medien, Deutschlands Journalisten es zugelassen, ja, sogar vielfach unterstützt haben. Und es ist noch lange nicht das Ende. Die eigentliche Katastrophe für Deutschland und Europa droht erst noch mit dem Zusammenbruch der Europäischen Währungsunion, dem Zerfall des Euro. Zu diesem Thema, zur deutschen Entstehungsgeschichte des Euro, hat der Autor dieser Zeilen promoviert – und das Ergebnis seiner zehn Jahre währenden Studien ist noch deprimierender als etwa zu der Frage, wie sich eine Angela Merkel 16 Jahre lang im Amt halten konnte und bis heute von den Medien angehimmelt wird.

Ein ursprünglich heiliges Tabu

Schauen wir zunächst 33 Jahre zurück. Um Frankreich die Zustimmung zur Wiedervereinigung zu erleichtern, hatte Helmut Kohl auf einem Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs, der im Dezember 1989 unter französischer Präsidentschaft und deshalb reichlich seltsamen Umständen, in aus deutscher Sicht regelrecht feindseliger Atmosphäre in Straßburg stattfand, dem Drängen von François Mitterrand nachgegeben und einem verbindlichen Zeitplan für die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) zugestimmt, über die zuvor 18 Jahre lang lediglich diskutiert worden war. Gleichzeitig sollte auch eine sogenannte Politische Union entstehen, also eine Vergemeinschaftung auch der Fiskal- und Haushaltspolitik der künftigen Euro-Zone, aber von der war schon bald in Brüssel keine Rede mehr. Mitterrand wollte sie in Wirklichkeit gar nicht und hierzulande vor allem die CSU auch nicht.

Das wichtigste Hindernis für eine EWWU, die geradezu traditionelle Weigerung der Franzosen, einer Zentralbank vollständige Unabhängigkeit von den Regierungen nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank zu garantieren, hatten die Franzosen bereits ein Jahr zuvor zur Verblüffung der deutschen Delegation in der Delors-Kommission aus dem Weg geräumt. Als hätten sie geahnt, dass sich mit dem Fall der Mauer Ende 1989 eine historische Chance ergeben würde, die Vormachtstellung der Bundesbank für die europäische Zins- und Währungspolitik ein für allemal zu brechen.

Deren Präsident Karl-Otto Pöhl besorgte – zunächst, ohne es zu ahnen – die Abschaffung der D-Mark selbst, in dem er seine Forderungen an die anderen Notenbank-Chefs in jener Kommission weitgehend durchsetzte und der noch zu schaffenden Europäischen Zentralbank eine Machtfülle sicherte, die noch über jene des Bundesbankgesetzes weit hinausging – „erstaunlicherweise“, wie er rückblickend sagte.

Wozu diese EZB ihre Unabhängigkeit und die daraus resultierenden Möglichkeiten später dann aber nutzen sollte, zu einem dauerhaften und folgenschweren Verstoß gegen das ursprünglich heilige Tabu der Staatenfinanzierung – das allerdings überstieg damals die Fantasie mindestens der deutschen Seite. Die von den Deutschen so tapfer erkämpfte Unabhängigkeit der EZB war nicht nur nichts wert – sie ermöglichte im Gegenteil sogar erst das Vorgehen, das die Währungsunion nun in eine weitere und möglicherweise vollends unbeherrschbare Krise gestürzt hat, wie die aktuelle Wechselkursentwicklung zeigt. Der Euro ist zur Weichwährung geworden und die EZB-Präsidentin zeigt sich vollends hilflos.

Im Zeitraffer kippte die Refinanzierung weg

20 Juli 2022

Gasnotstand

Gasnotstand
Erinnern Sie sich, im MoMa der ARD "KurzVerklärt: Gasboykott 2.0" persifliert, wie im Frühjahr Politiker, grün-soziale Sympathisanten und über 60 % der dazu Befragten und von Medien Befeuerten einen sofortigen Stop für Gas- und Ölimporte aus Russland nach dem Motto: "Frieren für den Frieden" gefordert haben? Bevor für die Industrie und Mietwohnungen Gas reduziert wird, schlage ich vor, die Gaszufuhr im Falle eines Gasnotstandes in folgender Reihenfolge zu reduzieren:
  • Bundespräsidialamt
  • Kanzleramt und Staatskanzleien der Länder
  • Alle Bundes- und Landesministerien
  • Bundestag und Landesparlamente incl. der Abgeordnetenbüros
  • Bundes und Landesbehörden
  • Medienhäuser, die sich als verlängerter Arm von Pressestellen der Politik verstehen
  • Luxusquartiere in den Städten (überwiegend Grün-Sympathisanten)
  • Eigenheime in den Speckgürteln der Großstädte (überwiegend Grün-Sympatisanten

Damit lässt sich der Gasverbrauch locker um mehr als 15 % reduzieren.

Wie deutlich wollen wir Putin eigentlich noch zeigen, dass er uns mit einem Gasstopp hart trifft?

Wie deutlich wollen wir Putin eigentlich noch zeigen, dass er uns mit nichts so hart treffen kann wie mit einem Gasstopp?
Nach Robert Schneider, Chefredakteur des Focus
Wir wissen natürlich nicht, was Putin zur Entspannung und Erheiterung liest, hört und sieht. Da er gut Deutsch spricht, gehen Insider davon aus, dass er gern deutsche Talkshows sieht. Wenn das so ist, kann es für Putin nichts Erheiternderes geben als zu hören und zu sehen, wie

  • Robert Harbeck vor einem "politischem Albtraum-Szenario", einer "Zerreisprobe" für das ganze Land sowie einer "schweren Rezession" warnt.
  • Markus Söder einen "echten Schlaganfall der Wirtschaft" befürchtet, von dem sich das Land "kaum erholen" wird.
  • Der "Deutsche Städtetag zur Einrichtung von "Wärmestuben" rät.
  • Die DGB-Vorsitzende Millionen von Arbeitsplätzen bedroht sieht (in Deutschland, nicht in Russland)
  • Die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert "bis zu 400 Prozent (Gas-)Preissteigerung" befürchtet
  • Christian Lindner große Sorgen hat, was ihn mitunter nachts wach hält.
  • Olaf Scholz unser Land darauf einstimmt, dass uns die Energieversorgung nicht nur Wochen und Monate, sondern Jahre beschäftigen wird.
Wie deutliche wollen wir Putin eigentlich noch bestätigen, dass er uns mit nichts so hart treffen kann wie mit einem Gasstopp?

Business Class Edition: Putin & seine dubiosen Freunde

Business Class Edition: 

Putin & seine dubiosen Freunde
Guten Morgen,
auf seiner Auslandsreise beweist Putin, wieso er uns diplomatisch überlegen ist. Durch die Ukraine-Krise stehen Deutschland und andere europäische Nationen vor großen Problemen. Inflation, Gasknappheit, ungeeinte Bevölkerung. Währenddessen schafft es Präsident Putin, die Sanktionen des Westens in erstaunlicher Geschwindigkeit zu egalisieren.
Das große Missverständnis des westlichen Sanktionsregimes liegt in dem Kinderglauben: Ich nehme dem anderen die Schaufel weg – und dann hat er nichts mehr zum Spielen. Ätsch!
Die Wahrheit ist: Der andere schüttelt sich und sucht umgehend neue Freunde und Partner außerhalb unserer Reichweite. Bald schon besitzt er ein neues Schäufelchen, aber aus anderen Quellen. Unsere Sanktionen haben ihn gestresst, aber nicht erledigt. Sein Leben geht weiter, nur in der Sandkiste nebenan.
Wladimir Putin beweist bei der Neuverlegung von Lieferketten und dem Schmieden neuer Allianzen eine in gleicher Weise beeindruckende wie beängstigende Geschmeidigkeit. Gestern verließ er zum ersten Mal seit Beginn des Ukraine-Krieges den ehemals sowjetischen Sektor – eine Demonstration seiner Anschlussfähigkeit:
  • In Teheran trifft er Präsident Ebrahim Raisi und Revolutionsführer Ali Khamenei. Beide Länder verbindet eine intensive Export-Import-Beziehung, die in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen ist. Russland importierte 2021 Waren im Wert von 970 Millionen US-Dollar. Iran bezieht aus Russland Waren im Wert von über drei Milliarden US-Dollar.  
  • Moskau unterstützt Teheran bei der Entwicklung von Flüssiggas-Projekten sowie beim Bau von Pipelines für den Gasexport. Der russische Staatskonzern Gazpromhat unmittelbar vor Putins Besuch mit dem nationalen iranischen Ölunternehmen einen rund 40 Milliarden Dollar schweren Kooperationsvertrag unterzeichnet.
  • Putin traf in Teheran auch den türkischen Machthaber Erdoğan. Hinter China und den Niederlanden ist die Türkei drittgrößter Exportpartner Russlands. Die Türkei ist vor allem scharf auf russisches Gas, rus­sische Tomaten und die von dort anreisenden Tou­risten.

  • Gemeinsam baut man das erste türkische Atomkraftwerk westlich der Hafenstadt Mersin. Erdoğan kauft von Russland ein Raketenabwehrsystem – für die anderen Nato-Partner ein Affront.In Peking muss Putin gar nicht persönlich vorbeischauen. Russland hat den Handel mit China in den letzten zwei Jahrzehnten wirksam ausgebaut, die Beziehung zu Xi Jinping ist reißfest. China war 2021 mit 17,9 Prozent des gesamten Handelsvolumens der wichtigste Partner Russlands. 

  • Den Inder Narendra Modi hält Putin ebenfalls bei Laune. Die „größte Demokratie der Welt” kann sich nicht dazu durchringen, die Invasion in der Ukraine zu verurteilen. Opportunismus wird belohnt: Putin liefert zu Vorzugskonditionen – was auch sonst – Gas und Öl.  

    Selbst die Freundschaft mit den Oligarchen im eigenen Land hat Putin erneuert, in diesem Fall materiell unterfüttert. Kaum hatten die westlichen Firmen im Zuge der Sanktion ihre russischen Ladenlokale und Fabriken geräumt, bietet er diese nunmehr herrenlosen Vermögenswerte den Oligarchen zum Vorzugspreis an. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.

    Putins Arm reicht sogar bis in die Reihen der ukrainischen Regierung, sein Kriegsgegner. Dass Präsident Selenskyj den Geheimdienstchef Iwan Bakanow und 28 seiner Mitarbeiter wegen Verrat in den Reihen des Geheimdienstes suspendieren musste, bedeutet eine Peinlichkeit für ihn und einen Triumph für Putin. Man wäre froh, wenn die CIA einen ähnlichen Illoyalitätserfolg in den Reihen des russischen Geheimdienstes erzielen könnte.

    Fazit: Der Kinderglaube bleibt auch dann ein Kinderglaube, wenn er täglich von einem anderen Nato-Regierungschef wiederholt wird.

    Die Sanktionen haben vor allem uns ökonomisch geschwächt. Das auszusprechen ist nicht schön, aber wahrhaftig. Oder um es mit Bertolt Brecht zu sagen: 

    "Wer a sagt, der muss nicht b sagen. Er kann auch erkennen, dass a falsch war."

19 Juli 2022

Wissenslücken bei Corona - Wir tappen im Nebel und halten uns an Staubwirbel (Cicero)

Wissenslücken bei Corona -
Wir tappen im Nebel und halten uns an Staubwirbel
Deutschland will eine Informationsgesellschaft sein, am besten wissenschaftsbasiert. Der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt jedoch: Wenn uns die gesundheitlichen Zusammenhänge von Infektion und Krankheit, Ursache und Wirkung nicht so sehr interessieren, dass wir die entsprechende Politik einfordern und finanzieren, braucht man keine Verschwörungsszenarien zu bemühen. Diese Politik war in ihrer Struktur, ihren Konzepten und Mechanismen dumm und gemeingefährlich.
VON OLE DÖRING am 18. Juli 2022
Deutschland ist angeblich eine Informationsgesellschaft. Manche meinen sogar: wissenschaftsbasiert. Die Robert Bosch-Stiftung fand kürzlich heraus: „Die Mehrheit der Deutschen befürwortet weiterhin eine wissenschaftsbasierte Politik im Umgang mit Corona.“ Wie verhält sich diese Meinung zum Menschenbild unserer demokratischen Verfassung?
Folgt man den Darstellungen des Bundespräsidenten, des Wissenschaftsrates oder der Leopoldina, so möchte man glauben, Deutschland sei heute ein Land der Aufklärung. Angesichts der Jahrzehnte, die wir in Frieden und Wohlstand Gelegenheit hatten, die kulturellen und sozialen Normen unserer Verfassung zu verwirklichen, wäre das nur recht und billig. Wir hätten dann von Anfang an gewusst, mit Corona vernünftig umzugehen.

Lieblos eingesetzter Ausschuss
Warum interessieren wir uns aber tatsächlich so wenig für Wissen – und auf denkbar ungeeignete Weise? Der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt: Wir kümmern uns kaum darum, relevantes Wissen zu schaffen und einzuordnen. Wir zählen Inzidenzen, anstatt die Gefahren der Krankheit zu erkunden. Wir können kaum angeben, welche Maßstäbe bei der Verarbeitung der Daten zu Gesundheitsinformationen angewendet werden sollen: „Leben retten“, ein Virus besiegen, für eine gesunde Zukunft sorgen? Recht haben?

Stattdessen folgen wir fachlichen Monologen bestimmter Forscher, mit denen der normale Menschenverstand nichts weiter anfangen kann als: entweder zu vertrauen oder nicht zu glauben, was da verlautbart wird. Die sachverständigen Gutachter im lieblos eingesetzten Ausschuss zur Evaluation der Corona-Maßnahmen haben es klar gesagt: „Datenmangel seit langem bekannt“. Warum ist das so – und zwar „seit langem“?

Treten wir einen Schritt zurück: Warum wurde der Ausschuss so almosenhaft ausgestattet, wie die Gesundheitsämter? Noch einen: Warum tut Deutschland so wenig für seine Bildungskultur, die Zusammenhänge und kritisches Lesen ermöglichen sollte? Warum steht das Kerngeschäft der Wissenschaft, kritisch nachzufragen, im Verdacht zu stören? Offenbar wollen wir es doch nicht so genau wissen. Müssen wir uns oder irgendwen vor der Vorläufigkeit und Wahrheit möglichst aussagefähiger Daten „schützen“?

Deutschland zwischen Apokalypse und Untergangssehnsucht - Die Welt vom Ende denken (Cicero)

Deutschland zwischen Apokalypse und Untergangssehnsucht
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Die Welt vom Ende denken (Cicero)
In Deutschland herrscht Weltuntergangsstimmung. Seit nicht mehr sicher ist, ob Russland Mitte dieser Woche wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 leiten wird, summiert sich die Angst vor Energieknappheit zur Klimaangst, Transphobie oder der Panik vor Corona-Infektionen. Wie aber kommen wir wieder raus aus unserer Apokalypse-Sucht? Es gibt einen Weg. Aber der ist schwierig.
VON RALF HANSELLE am 18. Juli

Wer jedenfalls in diesen erregten Sommertagen nur einmal für fünf Minuten den Fernseher andreht, der wird den wirklich unheimlichen Verdacht nicht mehr los, die Apokalypse des Johannes wiederholte sich anno 2022 als Farce. Und durch deutsche Redaktionsstuben weht ohnehin schon seit längerem diese Utopie des Unglücks – ganz egal, ob sich die Journalisten nun politisch rechts oder links verorten. Etwas Bedrohliches, gar Unaussprechliches liegt in der Luft. Von Waldbränden bis Heizkosten-Koller, von Klimawandel bis Transphobie: Überall scheint jetzt das Tier mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern aus der Informationsflut herauszusteigen. Überall ist Apokalypse, was ja auch nichts anderes heißt als „Enthüllung“ oder schlicht: „Zeitenwende“. 

Donnerstag ist Doomsday

Und wir sitzen daheim und können nichts tun. Nur abwarten, wie Robert Habeck jüngst in einem Interview mit den ARD-Tagesthemen sagte. Denn er habe auch keine geheimen Informationen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Dabei bezog sich der grüne Bundeswirtschaftsminister übrigens nicht unmittelbar auf den zu erwartenden Jury-Spruch im Jüngsten Gericht. Immerhin aber ging es um die Frage, ob Russland nach der Wartung von Nord Stream 1 weiterhin Gas an Deutschland liefern werde. „Die Möglichkeit besteht. Die Chance, dass es nicht so kommt, ist auch da.“

The Pioneer - Der neue Mensch: Die Geschichte einer Fiktion

Der neue Mensch: Die Geschichte einer Fiktion
Guten Morgen,
die Welt lebt oft anders, als sie fühlt. Die westliche Moderne ist geprägt von einer kulturellen Hegemonie der Tierfreunde, der Umweltschützer und der Konsumkritiker. Was für ein Fortschritt, sollte man meinen.
Doch auf geheimnisvolle Weise kommt es – kaum, dass der moderne Mensch ein Shopping Center betritt oder die E-Commerce-Seite von Amazon besucht – zur großen Bewusstseinseintrübung. Zwischen Wille und Wirklichkeit, zwischen der Schaltzentrale im Kopf und den ausführenden Organen herrscht nicht in allen, aber in vielen Fällen ein Wackelkontakt, der physikalisch nur schwer zu erklären ist.
Hinzu kommen die Menschen in den Entwicklungsländern, deren Nachholbedürfnis auch den nachholenden Wahnsinn beinhaltet. Asiaten und Afrikaner denken nicht daran, von der Mangelwirtschaft unter Umgehung der Konsumgesellschaft schnurgerade zur protestantischen Verzichtsethik überzugehen.
In Summe ist eine Welt der Paradoxien entstanden, in der Dinge sich anders entwickeln, als wir denken. Hier die Hitparade der unbequemen und daher oft verdrängten Fakten:
1. Im Milieu der Lifestyle-Linken gehört die Bühne den Veganern und Vegetariern. Sie haben die ernährungspolitische Rationalität auf ihrer Seite: Sieben pflanzliche Kalorien braucht es, um eine einzige Kalorie Fleisch zu produzieren. Das ist angesichts weltweiter Lebensmittelknappheit ein Skandal, der auch dann ein Skandal bleibt, wenn wir uns an ihn gewöhnt haben.
Nur: In den Bilanzen der Fleischbarone hinterlässt der Denkansatz einer alternativen Ernährung kaum Spuren. Keine zehn Prozent der Deutschen sind Vegetarier. Über 90 Prozent gehören zur Spezies der Flexitarier. Die globale Fleischproduktion steigt und steigt, besonders beliebt: Schweine- und Hühnerfleisch aus der Massentierhaltung

The Pioneer - Klimapolitik – neu denken!

Business Class Edition:
Klimapolitik – neu denken!
Guten Morgen,
in der Medizin ist diese Arbeitsteilung eine Selbstverständlichkeit: Die Forscher der Pharmafirmen wollen den Krebs besiegen. Man setzt Milliarden auf den großen Durchbruch.

Zugleich aber kümmern sich dieselben Firmen um Medikamente zur Linderung der Erkrankung. Wenn man dem Krebs auf die Schnelle schon nicht den Garaus machen kann, so das Kalkül, nimmt man ihm wenigstens seine Grausamkeit. Es geht um die Linderung von Schmerz und die Gewinnung von Lebenszeit.
Genau diese Doppelstrategie fehlt in der Klimapolitik, die nur als Klimapanik zu haben ist. Mit sich überschlagender Stimme beschwören die Aktivisten – darunter auch Politiker und Wissenschaftler – die Apokalypse, um Regierungs- und Firmenchefs zur unverzüglichen Dekarbonisierung aller Produktionsprozesse und Logistikketten zu zwingen.

Eine pragmatische Klimafolgenpolitik wurde hingegen bisher nicht entwickelt. Sie gilt sogar als politisch unkorrekt. Die Politik setzt – unter dem Druck der Klimabewegung – auf alles oder nichts. Die multiplen Gegenwartskrisen – Wasserknappheit in Deutschland und Italien, Waldbrände in Portugal, Spanien und Deutschland, Hitzetode in Indien und Afrika, Extremwetter rund um den Globus – liefern lediglich das Propagandamaterial für die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels.

Hier genau beginnt die Lebenslüge der Klimaschützer. Denn dieses Ziel ist schon heute nicht mehr zu erreichen. Die Welt entwickelt sich konträr zu dem, was auf den großen internationalen Klimakonferenzen versprochen wurde.

  • Der Ukraine-Krieg und die Nutzung von Gas als Waffe haben zur Renaissance der fossilen Energien geführt.

  • Saudi Aramco ist heute das wertvollste Unternehmen der Welt.

  • Die Verbraucher handeln anders als sie träumen. Der US-Flugzeughersteller Boeing geht davon aus, dass sich die weltweite Flugzeugflotte bis 2041 fast verdoppeln wird. Boeing rechnet damit, dass die Fluggesellschaften weltweit in den nächsten zwanzig Jahren 41.170 neue Flugzeuge ordern.

  • Die geostrategische Gewitterfront zwischen dem Westen und China führt dazu, dass der weltgrößte CO2-Emittent sich an der notwendigen Kraftanstrengung de facto nicht mehr beteiligt.

Dabei gibt es – wie bei der Krebstherapie auch – durchaus Möglichkeiten, den Schaden zu begrenzen und das Leiden an der Gegenwart zu lindern:

15 Juli 2022

Business Class Edition: Verstörend & vernünftig: Die neue Realpolitik

Business Class Edition: 
Verstörend & vernünftig: Die neue Realpolitik
Gabor Steingart, Freitag, 15.07.2022
Guten Morgen,
den Gezeitenwechsel in der internationalen Politik kann man nicht sehen, aber spüren. Man muss nur für einen Moment die Augen schließen und sich erinnern.
An Angela Merkel zum Beispiel und ihr Konzept einer „wertegebundenen Außenpolitik“. Oder an die Grünen, die in der Opposition dafür warben, nicht mehr nur Automobile, sondern auch Menschenrechte und Umweltstandards zu exportieren.

Unvergessen auch Joe Biden, der nach dem am 2. Oktober 2018 verübten Auftragsmord am saudischen Journalisten Khashoggi sagte:

"Die Saudis werden dafür einen Preis zu zahlen haben".

Dieser Preis – versprach er im Wahlkampf – werde auch in einer persönlichen Ausgrenzung durch den neuen Präsidenten bestehen:

"Ich werde sie als die Paria behandeln, die sie sind".

Tempi Passati.

Merkel ist noch am besten dran. Ihre Zeit ist abgelaufen, ihre Regierungspolitik bleibt eingefroren für die Begutachtung durch die Historiker.

Auch Robert Habeck muss den Gezeitenwechsel nicht erklären. Er verkörpert ihn. Mit seiner Reise nach Katar und dem Aushandeln einer fossilen Energieinjektion für die deutsche Wirtschaft hat er den humanitären und ökologischen Ethos einer ökonomisch dominierten Realpolitik geopfert. Das war nicht schön, aber vernünftig.

Doch keiner geht so weit wie Joe Biden auf seiner derzeitigen Nahostreise. Bei seinem Besuch heute in Saudi-Arabien will er das Königshaus für keine der Gräueltaten (immerhin wurde der Journalist Jamal Khashoggi damals im Auftrag des Königs in Istanbul gefangen genommen, ermordet und zerstückelt) haftbar machen. Er will die mutmaßlichen Mörder auch nicht wie Paria, sondern wie Partner behandeln. Das Verhältnis solle „recalibrated“ werden; man wolle den „reset“-Knopf drücken, heißt es aus Bidens-Umgebung.

Die treibenden Kräfte hinter dem Gezeitenwechsel sind der Krieg, die Energiepreisexplosion und die von dort auf alle anderen Produkte übergesprungene Inflation. Den Regierungschefs geht es jetzt nicht mehr um die Verteidigung von Werten, sondern um die Rettung ihrer heimischen Legitimationsbasis.

  • Die Währung, in der am Wahltag gezahlt wird, sind eben nicht Werte, sondern ist Wohlstand.

  • Wer nicht liefert, wird abgewählt.

  • Der Wähler ist sehr eindeutig und zuweilen auch eindimensional in seiner Prioritätensetzung: Werte kann man nicht essen und nicht mal für eine Tankfüllung sind sie zu gebrauchen.

    So gelangen die Regierungspolitiker bei dieser Gelegenheit zu einer bitteren, aber notwendigen Erkenntnis: Die Kategorisierung der Welt nach gut und böse, nach moralisch sauberen Geschäftspartnern und politisch dubiosen Typen, ist auf Dauer nicht durchhaltbar. Die Idee, das Preissignal der Märkte zu überhören und durch einen politischen Reinheitsgrad zu ersetzen, führt auf die abschüssige Bahn. Produkte taugen nicht als Waffe, weil es sich bei der Munition, die dabei verpulvert wird, um den Wohlstand der kleinen Leute handelt.