09 November 2025

Mitte-Studie - Wir sind die 24 Prozent! (Cicero)

Mitte-Studie
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Wir sind die 24 Prozent! (Cicero)
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPDnah) hat die neue Mitte-Studie zu demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland vorgelegt. Fazit: Die Beurteilung der Lage hängt stark vom Demokratieverständnis des Betrachters ab.
VON RALF HANSELLE am 7. November 2025 5 min
Wir sind die 24 Prozent! Gewiss, man will als Glossist niemanden für sich oder für seine Sache vereinnahmen. Schon gar nicht über dessen Kopf hinweg. Das wäre geistiger Hausfriedensbruch. Aber vermutlich gehören Sie auch zu uns: in die Gruppe jener, die sich ab und an schon mal gefragt haben, ob nicht das eine oder andere Gerichtsurteil hierzulande irgendwie unangenehm nach Politik schmeckt. Oder zu jenen, die vorsichtshalber noch einmal selbst im Grundgesetzkommentar nachgeblättert haben, nachdem sie vom rechtmäßigen Ausschluss eines AfD-Kandidaten von der Oberbürgermeisterwahl in Ludwigshafen hörten. Man hätte den Herrn vermutlich ja gar nicht auf dem Zettel gehabt – zumal die wenigsten von uns Ludwigshafener sind. 
Aber nicht jeder demokratiethoretische Zweifel muss ja gleich unmittelbarem Eigeninteresse entspringen. Manchmal ist man eben einfach etwas vergrübelt. Und dann spürt man, dass man der einen oder anderen staatlichen Institution vor geraumer Zeit schon einmal mehr vertraut hat. Denken Sie nur mal an die hiesigen Bundesoberbehörden: Hätten Sie es vor drei, vier Jahren für möglich gehalten, dass etwa das Robert-Koch-Institut gar nicht unabhängige Politikberatung betreibt, sondern dass die beratungsbedürftigen Politiker den wissenschaftlichen Output auf halber Strecke gleich selbst festlegen?
Wenn Sie sich jetzt ertappt fühlen, dann gehören Sie zum Wir dazu: Wir sind die 24 Prozent! Man kann mit uns vielleicht keine Regierung bilden, aber wir sind mindestens das Gemüse in der Suppe einer durch und durch lebhaften Demokratie. Vielleicht gilt für uns nicht immer #wirsindmehr. Aber zum Glück sind wir auch nicht weniger. Eine Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat uns jetzt ans Licht gebracht – wenn auch vorerst nur in den Scheinwerferkegel öffentlicher Despektion. 
Dabei werden wir in dem gestern in Berlin vorgestellten Papier gar nicht einmal explizit erwähnt. Man schweigt uns tot, man sitzt uns aus. Doch wer die Zahlen der diesjährigen Studie mit dem Titel „Die angespannte Mitte“ nur richtig zusammenaddiert, der wird uns irgendwann ganz sicher finden: irgendwo zwischen den Prozentangaben für die unrettbar Verlorenen und für die hoffnungslos Saturierten.
Demokratiefestigkeit im TestIn der alle zwei Jahre durchgeführten sogenannten „Mitte-Studie“, für die der politische Charakter von gut 2000 Deutschen in einem Zeitraum von zwei Monaten auf seine demokratische Festigkeit hin abgeklopft wird, sind wir die, die in der Grauskala verschwinden. Es sei an dieser Stelle nur kurz mal vorgerechnet: Laut der aktuellen Studie unter Federführung des Bielefelder Sozialpsychologen Andreas Zick sind derzeit 52 Prozent der Bürger der Meinung, dass die deutsche Demokratie „im Großen und Ganzen ganz gut funktioniert“. Gut 24 Prozent halten sie indes für nicht funktionsfähig. 

Bleiben nach Adam Riese und Schürmanns Rechenbuch also noch einmal weitere 24 Prozent, die in der gelebten Demokratie noch reichlich Luft nach oben sehen. Und während da viele Kommentatoren schon den Hastag #aufschrei neu mit Leben füllen wollen – vom „wachsenden Argwohn gegenüber der Demokratie“ spricht etwa die Frankfurter Rundschau, Studienleiter Andreas Zick selbst warnt vor der „Demokratie am Kipppunkt“ – könnten zumindest die hier angeführten Zahlen auch mal andersherum gelesen werden: Sie sind Ausdruck von Hoffnung in einer Zeit umsichgreifender Lethargie und eingeschlafener Füße.
Doch Pustekuchen! Die meisten Menschen, so sagt es schon ein altes Sprichwort, wollen lieber durch Lob ruiniert als durch Kritik gerettet werden. Wer hierzulande etwa meint, dass es um sein Vertrauen in Behörden, Gerichte oder gar Wahlen nicht immer nur zum Besten steht (aktuell sind das laut Studie immerhin 26 Prozent), der wird schnell zu einer Art Verdachtsfall abgemeiert. Nicht die Sachverwalter der hier und da durchbrechenden Dysfunktionalitäten müssen sich rechtfertigen; in Deutschland sind immer noch und in erster Linie die Verdächtiger verdächtig.

Den Finger in die Wunde

Dabei gibt es dafür streng genommen gar keinen Grund: Aktuell nämlich, auch das sagt die jetzt vorgelegte „Mitte-Studie“, verstehen sich 79 Prozent der Befragten als überzeugte Demokraten. Das sind sage und schreibe sechs Prozentpunkte mehr als noch im Jahr 2021! Und noch weitere Zahlen stimmen zuversichtlich: Nur drei Prozent der Deutschen zeigen ein rechtsextremes Weltbild – fünf Prozentpunkte weniger als noch bei der letzten Studie aus dem Jahr 2023. Und auch die Zustimmung zu politischer Gewalt ist um vier Prozentpunkte nach unten gegangen. Zweifel, Kritik sowie das selbstverständliche Anprangern von offensichtlichen Funktionsdefiziten sind also nicht notgedrungen demokratiegefährdend. Im Gegenteil: Demokratie ist nicht Blinde Kuh, sie ist der Finger in der Wunde. Es ist auch den 24 Prozent zu verdanken, dass sich Demokratie in Deutschland endlich nicht mehr nur auf Müdigkeit reimt.


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