12 November 2025

Reul stellt Projekt „Euphrat“ vor „Ein unangenehmes Ergebnis – Sehr starke Gewalttätigkeit bei syrischen jungen Männern (WELT+)“

"Betrachtet man die Gewaltkriminalität – dazu gehören neben „Straftaten gegen das Leben“ auch Körperverletzungen, Vergewaltigungen und Raubdelikte –, liegt dieser Wert bei syrischen Tatverdächtigen etwa zehnmal so hoch wie der von deutschen Tatverdächtigen."
Luisa-Marie Neubauer
Reul stellt Projekt „Euphrat“ vor
„Ein unangenehmes Ergebnis – Sehr starke Gewalttätigkeit bei syrischen jungen Männern“ (WELT+)
Von Kristian Frigelj, Philipp Woldin, 12.11.2025, 8 Minuten
„Messer wie selbstverständlich in der Bauchtasche verstaut“: Syrische Zuwanderer sind bei der Gewaltkriminalität deutlich überrepräsentiert. Welche Rolle spielen sie in der Clan-Kriminalität? Ein Lagebild in NRW gibt Aufschluss – und warnt vor einer gewaltigen Gefahr.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) sendet eine zwiespältige Nachricht. „Noch sind Syrer bei Clan-Kriminalität und Organisierter Kriminalität nur Nebendarsteller, aber bei Gewaltkriminalität spielen sie eine Hauptrolle.“ Etwa eineinhalb Jahre haben sich das Landeskriminalamt und die „Sicherheitskooperation Ruhr“ – ein Zusammenschluss von Kommunen im Ruhrgebiet und Sicherheitsbehörden – speziell mit der Frage befasst, ob in der syrischstämmigen Bevölkerung Clan-Strukturen entstehen.
Anlass war eine Auseinandersetzung mit mehreren Hundert Männern 2023 in Castrop-Rauxel und Essen, bei der es klare Clan-Bezüge gab und auch Syrer auffällig wurden. Seit 2015 ist ein starker Anstieg von Tatverdächtigen aus Syrien zu verzeichnen. Im jährlich publizierten „Lagebild Clankriminalität“ stellen sie mittlerweile die zweitstärkste Personengruppe unter den Tatverdächtigen. Zudem sind in Syrien auch großfamiliäre Strukturen üblich, es wird von „Clans“ oder „Stämmen“ gesprochen, die aber nicht per se mit kriminellen Clan-Mitgliedern gleichzusetzen seien.
Für das Auswertungsprojekt „Euphrat“ wurden polizeiliche Statistiken und Akten aus den Ausländerbehörden ausgewertet, Ermittlungsverfahren analysiert, Gespräche mit Wissenschaftlern geführt. Das Ergebnis relativiert die bisherigen Eindrücke und Erwartungen: Verbindungen zu Clan-Kriminalität und organisierter Kriminalität konnten nur punktuell festgestellt werden. Einige Polizeibehörden hätten einzelne Sachverhalte erkannt, „bei denen zumindest einzelne Merkmale von Clan-Kriminalität zutreffen“, heißt es in der Auswertung.
In diesen Fällen hätten syrische Tatverdächtige gemeinsam und kriminell agiert, teilweise mit Kriminellen anderer Nationalität. Es seien ein „innerfamiliärer hierarchischer Aufbau und ausgeprägte Loyalitätsmuster erkennbar“. In Essen und Recklinghausen hingegen seien keine solchen Strukturen bekannt. Bislang registrierte syrische Tatverdächtige seien überwiegend Mitglieder von Gruppierungen, die der türkisch-arabischen Clan-Kriminalität zuzuordnen seien.
Allerdings gibt es eine auffällige Zunahme von Gewaltkriminalität von syrischen Tatverdächtigen. Deren Zahl habe sich, so eine Erkenntnis, in zehn Jahren verfünffacht, viele davon seien jung und gewaltbereit. 2015 waren in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik NRW insgesamt knapp 3400 Tatverdächtige bei landesweit insgesamt 84.000 Syrern erfasst. 2024 waren es etwa 17.000 Tatverdächtige bei insgesamt fast 288.000 Syrern im Bundesland. „Viele syrische Menschen leben friedlich bei uns, doch einige wenige fallen immer wieder durch rohe Gewalt auf“, sagte Reul bei einer Pressekonferenz am Mittwochmittag in Düsseldorf.
Es seien vor allem Jugendliche und junge Männer, die vergleichsweise auch am häufigsten das Messer bei Auseinandersetzungen einsetzten. „Wenn man abends mit der Clique rausgeht, wird das Messer wie selbstverständlich in der Bauchtasche verstaut“, so Reul. Mit dem Messer fühlten sie sich stärker, das sei „Männlichkeitsgehabe“. Im „Euphrat“-Abschlussbericht heißt es, bei syrischstämmigen Kindern und Jugendlichen zeige sich verstärkt „die teilweise exzessive Anwendung von Gewalt“.
Bei Gewaltkriminalität bundesweit überrepräsentiert

Knapp eine Million Syrer lebt mittlerweile in Deutschland, neben Afghanen und Ukrainern sind sie eine der größten Gruppen von Zuwanderern. Welchen Anteil am Kriminalitätsgeschehen machen syrische Staatsbürger aus? Das Bundeskriminalamt (BKA) nutzt seit 2025 in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) eine neue Kategorie, die besser greifbar macht, wer den Gewaltanstieg maßgeblich treibt. Sie ergibt sich aus der Zahl der ermittelten Tatverdächtigen im Alter ab acht Jahren insgesamt, errechnet auf 100.000 Einwohner des entsprechenden Bevölkerungsanteils. Die Behörde setzt also die Zahl der Tatverdächtigen einer Nationalität mit allen Menschen in Relation, die in Deutschland leben und diesen Pass besitzen.

Betrachtet man die Gewaltkriminalität – dazu gehören neben „Straftaten gegen das Leben“ auch Körperverletzungen, Vergewaltigungen und Raubdelikte –, liegt dieser Wert bei syrischen Tatverdächtigen etwa zehnmal so hoch wie der von deutschen Tatverdächtigen. Aus dem Bürgerkriegsland sind vor allem junge Männer nach Deutschland eingereist, die kriminologisch auffälligste Gruppe. Ukrainische Flüchtlinge dagegen, viele davon Frauen, sind in der Kriminalstatistik deutlich weniger auffällig.

Es spielt für die Kriminalitätsbelastung eine enorme Rolle, ob Frauen oder Männer nach Deutschland zuwandern. Auch syrische Jugendliche und sogar Kinder bis 14 Jahren fallen in der BKA-Statistik auf. Ihr Wert liegt etwa bei Raubdelikten und schweren Körperverletzungen ebenfalls etwa zehnmal so hoch wie der ihrer deutschen Altersgenossen.

Die Aussagekraft der PKS hat Grenzen: Ein Tatverdächtiger kann etwa immer noch von einem Gericht freigesprochen werden. (Anm.: Fast jeder 2. Häftling ist Ausländer: Ausländer-Quote im Gefängnis auf Rekordhoch.1 6.06.2025: Insgesamt 59.877 Inhaftierte wurden erfasst, darunter 26.710 ausländische Staatsangehörige – das entspricht einem Anteil von 45 % · Ausländer ...)
Zudem liefern die Daten nur Auskünfte zu tatsächlich angezeigten Straftaten. Dazu spielen als weitere kriminologische Erklärungsfaktoren eine andere Sozialisation vieler Syrer mit Gewalt im Herkunftsland sowie traumatische Gewalterfahrungen auf der Flucht eine Rolle.

Dennoch ist unbestreitbar: Syrer haben einen überproportionalen Anteil am Anstieg der Gewaltkriminalität in den vergangenen Jahren. Ende 2024 wies das Bundesinnenministerium in einer Antwort auf eine Anfrage aus der AfD-Bundestagsfraktion darauf hin, dass 2023 von 44 kriminellen Gruppierungen im Zusammenhang mit Clan-Kriminalität sieben „syrisch dominiert“ gewesen seien.
Bei vielen breit diskutierten Gewalttaten der vergangenen Jahre im öffentlichen Raum waren die Täter Syrer. Issa Al Hassan etwa, der im August 2024 auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen erstach, lebte zum Zeitpunkt der Tat in einer Asylunterkunft unweit des Tatorts. Anfang Mai 2025 verurteilte das Landgericht Bielefeld Mwafak A. wegen versuchten Totschlags, Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung zu neun Jahren Haft. Der junge Syrer hatte am Rande einer Abiturfeier in Bad Oeynhausen sein Opfer Philipos Tsanis so brutal verprügelt, dass dieser an Kopfverletzungen starb.

Auch unter dem Eindruck einer tödlichen Messerattacke eines Syrers in einer Berliner U-Bahn-Station Anfang April 2025 führte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) ein Messerverbot im Nahverkehr ein.

Experte warnt vor ähnlichem Muster wie bei Libanesen

Nicht nur Nordrhein-Westfalen blickt genauer auf sich verfestigende syrische Kriminalitätsstrukturen: Im aktuellen Lagebild der Berliner Polizei zu Clan-Kriminalität wird die Zahl an syrischen Clan-Kriminellen mit rund 15 Personen angegeben. Eine niedrige Zahl im Vergleich zu den traditionellen arabischstämmigen Strukturen. Allerdings gehen die Sicherheitsbehörden bei dem noch jungen Phänomen von einer höheren Dunkelziffer aus. Ermittler berichten, dass Syrer gerade in Berlin-Neukölln im Bereich der organisierten Kriminalität zunehmend Platz beanspruchen.
In Nordrhein-Westfalen hat sich die Anzahl der syrischen Tatverdächtigen bei der Clan-Kriminalität in den vergangenen Jahren stetig erhöht. Das geht aus den jährlichen Lagebildern des Landeskriminalamtes NRW hervor. 2018 hieß es darin: „Die kriminellen Angehörigen türkisch-arabischstämmiger Familienverbände sehen sich in den letzten Monaten einem Verdrängungswettbewerb um kriminelle Märkte ausgesetzt, der durch Personen mit Herkunft aus Syrien bzw. dem Irak forciert scheint. Diese konkurrierenden Gruppierungen werden – auch vor dem Hintergrund teilweise aktueller Kriegserfahrungen – im Milieu als besonders durchsetzungsstark und gewalttätig wahrgenommen.“
019 war es 418 Tatverdächtige mit syrischem Pass, die an vierte Stelle hinter deutschen, libanesischen und türkischen Staatsangehörigen rangierten. 2023 nahmen 770 syrische Tatverdächtige den zweiten Platz ein, hinter den Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Die Polizei von Essen, das seit Langem zu den mit Clan-Kriminalität am stärksten belasteten Kommunen bundesweit gehört, hat vor Jahren das Kriminalkommissariat 36 zur Bekämpfung von Clankriminalität mit einer Besonderen Aufbauorganisation „Aktionsplan Clan“ eingerichtet. 2022 hat man sich dort zu einem zusätzlichen Schwerpunkt mit Syrien-Bezug entschlossen, um „die von Syrern begangene Kriminalität, insbesondere mit Bezügen zur Clankriminalität, nun ebenfalls strategisch zu bekämpfen“. Essens Polizeipräsident Andreas Stüve betonte damals, man wollen „nicht warten, bis sich kriminelle Strukturen verfestigen und von den nächsten Generationen übernommen werden“.
In einer Anhörung im Innenausschuss des Landtags NRW im Oktober 2024 äußerten sich Experten zum damaligen Stand der Clan-Entwicklung in der syrischen Community und warnten davor, ähnliche Nachlässigkeiten wie vor Jahrzehnten zu begehen. Mahmoud Jaraba vom Forschungszentrum für Islam und Recht in Europa in Erlangen sagte damals: „Wenn ich die Situation 2015 mit der Situation in diesen Tagen vergleiche, ist es mit diesen großfamiliären Strukturen viel schlimmer geworden. Wir haben das Problem jetzt nicht nur in Nordrhein-Westfalen und Berlin. Wir sehen die gleichen Probleme in Stuttgart, Hannover und in verschiedenen anderen Städten in Deutschland.“
In den vergangenen Jahren hätten „sich viel mehr Familienstrukturen mit dieser Clan-Mentalität hier in NRW gegründet oder etabliert. Eine dieser Clan-Strukturen ist stark mit kriminellen Handlungen aktiv.“ Man könne nicht sagen, ob diese familiäre Struktur überall bestehe, weil Daten fehlten. „Aber wir wissen, es gibt jetzt viel mehr Clan- oder familiäre Strukturen hier in NRW, und sie etablieren sich langsam.“
araba betonte, es handele sich nur um eine Minderheit der Syrer. „Wir müssen diese Minderheit verstehen und mit allen Möglichkeiten, auch mit Abschiebung, bekämpfen.“ Es könne nicht sein, „dass wir bis heute nicht aus unseren Fehlern aus den 80er-Jahren gelernt haben“, so Jaraba. Damals habe es ein „Problem mit einer kleineren Gruppe innerhalb dieser sogenannten libanesischen Clans“ gegeben. „Sie haben ihre Macht und die kriminelle Struktur innerhalb einer größeren Community ausgebaut.“ Die Gefahr bei den Syrern sei eine ähnliche Entwicklung in den kommenden Jahren. „In diesem Fall ist die Bekämpfung dieses Phänomens extrem schwierig und fast unmöglich.“
Die Ergebnisse des Auswertungsprojektes „Euphrat“ sind bei aller Differenzierung kein Grund zur Entwarnung. Mit Blick auf Clan-Kriminalität und organisierte Kriminalität bestehe „zumindest die Gefahr, dass sich perspektivisch entsprechende Strukturen ausbilden“, heißt es darin. Angesichts der sehr jungen Altersstruktur unter Syrern bestehe eine „erhöhte Gefahr der Ausprägung dieser ,kriminellen Karrieren‘“, lautet eine Schlussfolgerung. „Diese können erfahrungsgemäß auch in organisierter Kriminalität münden, sei es innerhalb der Strukturen der Clan-Kriminalität oder innerhalb anderer Tätergruppierungen.“

Kristian Frigelj berichtet für WELT über bundes- und landespolitische Themen, insbesondere aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.

Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik. Im September ist im Verlag C.H. Beck sein Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ erschienen, das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat.

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