19 November 2025

The Pioneer - Schwarz-Rot: Angst vor dem Regierungsbruch

1930 lässt grüßen...
Business Class Edition
Schwarz-Rot: Angst vor dem Regierungsbruch
Gabor Steingart, 19.11.2025
Guten Morgen,
die politische Lage im Reichstag ist mittlerweile explosionsgefährdet. Der Kanzler, der in seiner ersten Regierungserklärung noch zum „Dienst für Demokratie und Republik“ aufgerufen hatte, weiß nicht, ob sich die unterschiedlichen Teile seiner Koalition noch zu einem Kompromiss zusammenfügen lassen.
Fest steht: Die verschiedenen Vorfestlegungen der Parteien stehen wie ein Sperrgürtel vor ihm. Die Gesichter der Minister sind versteinert. Ihre Positionen betoniert. Kein Entgegenkommen, nirgends.
Die Sozialdemokraten wollen auf keinen Fall, dass die Wähler von den leeren Kassen der Sozialversicherung erfahren. Nicht jetzt. Nicht später. Lieber sollen die Beiträge noch mal um einen halben Prozentpunkt erhöht werden, bevor die giftige Schlagzeile von der „Kürzung von Sozialleistungen“ in die mediale Umlaufbahn gerät. Man will den Rechten nicht noch das Streichholz liefern, mit dem sich das Gebäude der Demokratie anzünden ließe.
Die Konservativen würden die Gelegenheit gerne nutzen, die ohnehin fälligen Kürzungen beim Sozialstaat vorzunehmen. Wann, wenn nicht jetzt? Die finanziellen Mittel werden auch in Zukunft nicht reichen, die dem Wähler gemachten Versprechungen zu erfüllen. Man träumt von einer Stunde der Wahrheit, sehnt sich nach tabula rasa.
Beide Koalitionspartner werden flankiert von mächtigen Lobbygruppen, die ihren Entscheidungsspielraum weiter einengen. Die Gewerkschaften verlangen Solidarität statt Sozialabbau. Die Unternehmer und ihre Verbände halten jede Erhöhung der Sozialbeiträge und damit der Lohnnebenkosten in dieser ökonomischen Lage für selbstmörderisch.
Der Chef der Notenbank hatte eben erst das Finanzgebaren der gesamten Regierung als unseriös bezeichnet. Recht hatte er. Aber im Angesicht der Öffentlichkeit ist damit ein weiterer Reputationsschaden für die demokratische Mitte verbunden.
Der Streit um die Zukunft der Sozialversicherung gewinnt seine Dramatik nicht allein aus der Sache, sondern vor dem Hintergrund einer sich verdüsternden Lage: Die Wirtschaft krümmt sich vor Schmerzen, als habe man ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst. In den Betrieben werden Kündigungen wie am Fließband ausgefertigt und die öffentliche Kasse ist wie leergefegt.
Die Autorität des Kanzlers erlischt ausgerechnet in dieser Situation. Die Frankfurter Zeitung spricht von einem „schwarzen Tag …, doppelt unheilvoll, weil der Gegenstand des Streits mit seiner Kleinheit in einem so grotesken Missverhältnis zu den verhängnisvollen Folgen steht, die daraus erwachsen können“. Der sozialdemokratische Finanzminister wird später sagen, es war falsch, „aus Angst vor dem Tode Selbstmord zu begehen“.
Das war die Lage, als die Große Koalition am 27. März 1930 unter SPD-Reichskanzler Hermann Müller zerbrach. Es war die letzte Regierung der Weimarer Republik, die sich auf eine demokratische Mehrheit stützen konnte. Die von der SPD geführte Koalition besaß eine satte Mehrheit, verfügte über 300 von 450 Sitzen. Man hätte regieren können – ohne Nazis, ohne Hitler, ohne Geschrei und ohne Neuwahlen, einfach nur regieren, wie es in der Sache geboten war.
Aber man schmiss die Macht weg – und startete das größte Naziförderprogramm aller Zeiten. Die NSDAP verzehnfachte bei der nächsten Reichstagswahl ihre Sitzzahl. Danach übernahm Reichspräsident Hindenburg mit seinen Präsidialkabinetten und Notverordnungen das Kommando.
Der Historiker Prof. Hans Mommsen wird später „von der verspielten Freiheit“ sprechen. FAZ-Herausgeber Joachim Fest urteilte nicht weniger streng:
"Die Demokratie blieb formal bestehen, aber der demokratische Kern war bedeutungslos geworden."
Fazit: Ihre Lehren aus diesem tragischen Schlussakkord der Weimarer Republik müssen Friedrich Merz, Lars Klingbeil und das heutige Kabinett schon selber ziehen. Aber der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana weist allen, die jetzt zündeln wollen, den Weg: „Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen