Thema der Woche:Die Demokratie ist so lebendig wie schon lange nicht mehr(NZZ)
Das Jammern über den Zustand der Demokratie ist längst eine Waffe, um Andersdenkende mundtot zu machen und so in letzter Konsequenz die Demokratie selbst einzuschränken. Die selbsternannten Retter der Volksherrschaft folgen dabei einem festen Plan.
Von Eric Gujer, 15.03.2025, Chefredakteur NZZ
Phase 1: Keine Parlamentsrede und kein Leitartikel kommt ohne die Warnung aus, die Demokratie sei in Gefahr. Die üblichen Verdächtigen sind Putin, Trump, Orban und die AfD. Auch der Journalismus und die Zivilgesellschaft seien bedroht.
Phase 2: Sobald sich der Glaube, die Demokratie sei gefährdet, durchgesetzt hat, wird diese mit juristischen, politischen und finanziellen Mitteln verteidigt. Es versteht sich von selbst, dass die Verteidigung politisch nicht neutral ist. Sie richtet sich immer gegen «rechts». Das können Rechtsextreme, die AfD oder die CDU sein.
Eine Industrie von «Demokratie-Experten» untersucht den Zustand der Volksherrschaft. Fragen nach ihrer Unabhängigkeit wischt die Industrie vom Tisch: «Die Demokratie zu verteidigen, bedeutet keine parteiische Einmischung.» Selbstbewusster hat kaum jemand seine Selbstermächtigung formuliert. In der Pandemie wurde «die» Wissenschaft als widerspruchsfreier Monolith behandelt. Die Politik instrumentalisierte «die» Wissenschaft für ihre Zwecke. Heute ist «die» Demokratie ein solcher Monolith, und die Industrie bestimmt, was zu ihr gehört und was nicht.
Phase 3: Was nicht passt, wird ausgegrenzt. Wenn das EU-Parlament Ungarn verächtlich als «elektorale Autokratie» taxiert, geht das in Ordnung. Wenn der US-Vizepräsident Vance Deutschland einen Mangel an Meinungsfreiheit vorwirft, kennt die Aufregung keine Grenzen. Die Schlagseite ist offenkundig. Die Musterdemokraten zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: Selbstgerechtigkeit und Bigotterie.
Wenn der Staat die Zivilgesellschaft simuliert