"Wo früher ein Gutachten reichte, konkurrieren heute ganze Flotten von
Experten um die Deutungshoheit. Ausgerechnet jene, die Führung
versprechen, verstecken sich hinter Expertengremien. So wird die
Wissenschaft zum politischen Feigenblatt – und der Rat zum Ersatz für
Mut."
Die Räte-Republik
Die
Bundesregierung lässt sich traditionell von Wissenschaftlern beraten.
Schwarz-Rot erhöht nun die Zahl der Experten und Gremien enorm. Daran
gibt es Kritik – aus der Wissenschaft.
Christian Schlesiger, Claudia Scholz, Jonathan Packroff, 17.10.2025, 15 Min
Auch eine Nicht-Antwort kann eine Antwort sein. Martin Werding ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, also einer von fünf Wirtschaftsweisen.
Das
Gremium ist so etwas wie das höchste Beratergremium der
Bundesregierung. Einmal im Jahr im November erstellt es im Auftrag der
Regierung ein Gutachten zur wirtschaftlichen Lage. Für die Ökonomen, die
von Regierung und Sozialpartnern vorgeschlagen und vom Bundespräsident
berufen werden, gilt eine Nominierung als wissenschaftlicher
Ritterschlag.
Doch seit dem 4. September 2025 gibt es im Auftrag der Wirtschaftsministerin Katherina Reiche mit dem Wissenschaftlichen Beraterkreis Wirtschaftspolitik ein Konkurrenzgremium. Dort Mitglied: Veronika Grimm. Sie ist, ebenso wie Martin Werding, eine der fünf Wirtschaftsweisen.
Auf die Frage, was er von der neuen Instanz halte, sagt er:
"Frau
Reiche und Veronika Grimm müssen selbst wissen, was sie sich von diesem
zusätzlichen Gremium beziehungsweise der Mitgliedschaft darin
versprechen."
Die Initiative der Ministerin kommt nicht überall gut an. Dem Beraterkreis Wirtschaftspolitik gehören neben Grimm weitere liberale Ökonomen an: Justus Haucap (Universität Düsseldorf), Stefan Kolev (Leiter des Ludwig-Erhard-Forums) und Volker Wieland (Universität Frankfurt).
Die offensichtliche Botschaft, die die CDU-Politikerin Reiche in die Welt setzen will: weniger Staat, mehr Markt.
Obwohl
viele Ökonomen der inhaltlichen Ausrichtung des Quartetts einiges
abgewinnen können, sorgt das neue Gremium in der Wissenschaftler-Zunft
für Kopfschütteln. Noch ein Thinktank – und nicht nur im
Reiche-Ministerium. Die Zahl der Räte und Kommissionen steigt. Das
Geschäft mit der Politikberatung boomt.
Das ist schon deshalb
bemerkenswert, weil die Regierung angetreten ist, die Zahl ihrer Berater
und Beauftragten auf ein Minimum zu reduzieren. Stattdessen wird
aufgebaut. Die Politik erkauft sich damit Aufmerksamkeit, delegiert
Verantwortung – und verschafft sich Zeit. Das geht zulasten des
Reformtempos.
Die Bundesregierung setzt laut Koalitionsvertrag auf
15 Expertenkommissionen zur Lösung verschiedener Themen, zum Beispiel:
Sozialstaatsreform, Modernisierung der Schuldenbremse, Gesundheit,
Pflege, Wahlrechtsreform.