Außerdem legt die Politik den Experten Fesseln an. Arbeitsministerin Bärbel Bas habe betont, sie wolle der Kommission nicht vorgreifen – „während sie genau dies tut“, schreibt Rürup. Die Regierung hat ja bereits entschieden: Das Rentenniveau soll auf dem Niveau von 48 Prozent bleiben. Hinzu kommen Mütterrente und das Aussetzen des Nachhaltigkeitsfaktors.
Neben den Kommissionen außerhalb des Regierungsapparats sorgen auch die Beiräte innerhalb der Ministerien für Unmut.
Das
Wirtschaftsministerium zählt inzwischen acht aktive Beiräte – von
Tourismus über Mittelstand bis Startups. Alle Gremien tagen zwischen
zwei bis fünf Mal jährlich, zwischen zwei Stunden und einem vollen
Arbeitstag.
Neu dazu gekommen ist Anfang September ein Beraterkreis für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Die Mitglieder: Sicherheitsexperte Nico Lange, Ex-General Jürgen-Joachim von Sandrart, Airbus-Aufsichtsratschef René Obermann und Moritz Schularick, Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft.
Das Ziel des Gremiums: die deutsche Verteidigungsindustrie stärken und neue Player identifizieren.
Während das erste Treffen von Reiches neuem Sicherheitsbeirat noch aussteht, hat das erste Gutachten von besagtem neuen Beirat Wirtschaftspolitik um Grimm schon eine Debatte ausgelöst: Rente mit 70 – oder höher. Denn das Renteneintrittsalter könnte „im Jahr 2060 bei 73 Jahren“ liegen, sollte sich die Lebenserwartung stark erhöhen. So steht es in ihrem ersten Gutachten.
Offiziell begründet die Ministerin den neuen Beirat mit Geschwindigkeit. Der Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen erstellt ein Gutachten nur einmal im Jahr. Dabei sind auch Sondergutachten auf Wunsch der Regierung oder aus eigenem Antrieb vorgesehen. Zuletzt war das im Jahr 2020 während der Corona-Pandemie der Fall.
Das Wirtschaftsministerium (BMWE)
schreibt auf Anfrage: Der Grimm-Beirat könne „spontaner, informeller und
themenbezogener aktuelle Themen bearbeiten und dazu Expertise
beisteuern“.
Das werde auch so kommen. Aus dem Gremium heißt es: Die Mitglieder wollten „regelmäßig schreiben“. Alle zwei Monate sei „etwas Kleines“ zu erwarten.
Wie das aussehen könnte: ein Gutachten mit sieben bis acht Seiten. Kurze Analyse, klare These. Größere Papiere „braucht kein Mensch“, ist zu hören.
Und dann schiebt ein Insider des Beraterkreises noch einen Hinweis nach:
Der Wettbewerb der Politikberatung belebt das Geschäft.
Anderswo stößt der Reiche-Aktionismus allerdings auf Kritik. Was man wissen muss: An Professoren-Beiräten im BMWE mangelt es ja nicht.
Das Ökonominnen-Netzwerk etwa soll – und jetzt kommt’s – „zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen“ beraten. So steht es auf der Webseite des BMWE. Also genau das, was der Beirat Wirtschaftspolitik jetzt auch machen soll.
Und dann gibt es noch den Traditionsclub im BMWE: den Wissenschaftlichen Beirat (eben nicht zu verwechseln mit dem neuen Wissenschaftlichen Beraterkreis Wirtschaftspolitik). Den gibt es seit 1948. Und der berät die Ministerin „unabhängig in allen Fragen der Wirtschaftspolitik“.
Gabriel Felbermayr, Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ist selbst Mitglied im (alten) Wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums. Er sieht die Inflationierung der Beiräte „kritisch“.
Er sagt:
Es wäre besser, die Politik würde den existierenden Beratungsgremien klarer sagen, womit ihr wirklich geholfen werden kann.
Die existierenden Beiräte sollten sich außerdem „weniger als Ressortgremien verstehen“, sondern „der ganzen Bundesregierung“ zur Verfügung stehen. „Einfach nur weitere Beiräte zu gründen, ist jedenfalls ineffizient.“
Nahezu alle Ministerien lassen sich wissenschaftlich beraten. Eine Auswahl:
Familienministerin Karin Prien lässt sich in Fragen des Bundesfreiwilligendienstes, in Familienfragen und für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf extern beraten.
Landwirtschaftsminister Alois Rainer hört auf den Sachverständigenrat Ländliche Entwicklung und den Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik.
Verkehrsminister Patrick Schnieder hat neben dem Wissenschaftlichen Beirat zu Mobilitätsfragen auch einen Beirat Radverkehr mit 20 Mitgliedern.
Forschungsministerin Dorothee Bär lässt sich zum Deutschlandstipendium beraten.
Umweltminister Carsten Schneider unterrichtet sich über Globale Umweltveränderungen.
Selbst Beiräte, die es nicht mehr gibt, werden offiziell noch als solche aufgeführt: So gibt es im Wirtschaftsministerium noch den TTIP-Beirat, der mal „die fortlaufenden Verhandlungen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft“ mit den USA bewertet hat.
Ohnehin ist das BMWE relativ beratungsfreundlich. Und ein Blick in die Zusammensetzung einzelner Gremien wirft Fragen auf.
Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWE zählt inzwischen 39 Ökonomen und Ökonominnen, die „auf Lebenszeit berufen werden“, heißt es beim Wirtschaftsministerium. Die Wissenschaftler tagen „fünf Mal im Jahr, beraten sich zu selbstgewählten Themen und veröffentlichen ihre Ergebnisse anschließend in Form von Gutachten“.
Die Stimmberechtigung entfalle „ab einem Alter von 70“. Fast jeder Dritte hat die Altersschwelle bereits erreicht – also ein Club der alten Denker.
Grundsätzlich ist gegen Politikberatung nichts zu sagen. Das sieht auch Felbermayr so. Die Mitglieder in den Kreisen arbeiten ehrenamtlich. Der österreichische Ökonom sagt: „Insofern wird hier mit minimalem Mitteleinsatz doch viel Expertise mobilisiert.“ Allerdings sei die Berufung auf Lebenszeit schon „ein Governance-Thema“.
Außerdem wird die interne Berater-Konkurrenz im BMWE möglicherweise Verlierer produzieren.
Eckhard Janeba von der Universität Mannheim ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats
im BMWE. Das neue Gremium um Grimm und Co. sei „komplementär“ zu seinem
Rat, verteidigt er sich. Es könne „kurzfristiger agieren“. Das habe
„auch Vorteile, weil wir dann eben über grundlegenden Reformbedarf und
Maßnahmen nachdenken können“.
Außerdem, so Janeba, sei der Wissenschaftliche Beirat, dem er vorsteht, nun mal eine Institution mit einer mehr als 75-jährigen Tradition. Es sei durchaus „hilfreich, darauf hinzuweisen, dass es uns schon sehr lange gibt“.
Janeba rechtfertigt sich und den Wissenschaftlichen Beirat also mit historischen Argumenten – das allein ist schon interessant. Es gibt durchaus Gegrummel im Janeba-Rat, hören wir.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sagt: „Diese neuen Beiräte bei den Ministerien sind Ausdruck davon, dass die eigenen wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien an Einfluss verlieren. Die Politiker scharen vor allem solche um sich, die ihre Meinung teilen.“
Auch Monika Schnitzer (Ludwig-Maximilians-Universität München) dürfte sich Fragen stellen. Die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gilt in Unionskreisen schon lange als zu staatsgläubig.
in Wirtschaftswissenschaftler, der ungenannt bleiben möchte, sagt
uns: Die neue Beiräte-Konkurrenz werde „der Sachverständigenrat schon zu
spüren bekommen“.
Schnitzer wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Ob Finanzminister Lars Klingbeil ein Hütchenspieler sei, wurde sie Anfang Oktober von Caren Miosga in der gleichnamigen Sendung gefragt. Klingbeil saß neben ihr. Schnitzer wich der Frage aus, sagte nur:
Man hat eine ganze Menge Geld für Themen aufgerufen, wo man sich mit Fug und Recht fragen muss: Wo kommt denn dieses Geld her?
Sie zählte auf: die Mütterrente, die Mehrwersteuersenkung für die Gastronomie, die Anhebung der Pendlerpauschale, Subventionen für Agrardiesel. Sollte dafür auf einmal doch Geld da sein, „muss man sich schon wundern“, so Schnitzer. Recht hat sie. Aber nach wissenschaftlicher Abrechnung klang die Kritik nicht.
Wirtschaftsministerin Reiche will den Ton verschärfen.
Dass sie mit der Mehrheit der Mitglieder des Sachverständigenrats hadert, ist kein Geheimnis. Sie schätzt dagegen die Expertise der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm besonders, die im Sachverständigenrat regelmäßig ein Votum einlegt – und ihre andere Meinung explizit niederschreibt.
2024 legte sie zum Beispiel gleich drei Voten ein. Sie plädierte etwa für mehr Zwangsmaßnahmen bei Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Verteidigung und forderte eine schnellere Liberalisierung und Privatisierung des Wohnungsmarktes.
Ordnungsökonomin Grimm ist erkennbar kein Fan der Sozialdemokratie. Auf der Plattform X wettert sie regelmäßig in Tweets gegen die SPD.
Zum Beispiel hier: SPD, Linke und Grüne unterstellte sie unlängst ein AfD-Verbotsverfahren aus „Eigeninteresse“. Im Falle eines AfD-Verbots, schreibt Grimm, könnten die Drei die Regierung stellen:
„Dann soll ein Land, das mehrheitlich konservativ wählt, also von einer linken Koalition regiert werden?“
Dieser Tweet brachte SPD-Fraktionschef Matthias Miersch gegen sie auf. Er stelle sich „angesichts ihrer Social-Media-Aktivitäten“ die Frage, „ob sie eine echte Beraterin ist“.
Reiche hat Grimm aus politischen Motiven verpflichtet. Zweifellos schieben sie und die drei liberalen Ökonomen neue Debatten an – oder richten bisherige Diskussionen neu aus.
Aus dem Gremium ist zu hören, dass die vier Ökonomen den Beitrag bewusst platziert haben, um ein Kontra-Narrativ zum Erbschaftsteuer-Mainstream zu setzen.
In einem Gutachten des Sachverständigenrats von 2017 etwa heißt es etwa: „Bei vererbten Vermögen bekräftigt der Sachverständigenrat hingegen seine Einschätzung, dass vieles für die Erhebung einer proportionalen Erbschaftsteuer auf alle Vermögensarten spricht.“
Das Gutachten der Ordoliberalen ist klug getimt. Voraussichtlich Anfang 2026 wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob die erbschaft- und schenkungsteuerlichen Begünstigungen beim Übergang betrieblichen Vermögens „mit dem Grundgesetz vereinbar sind“ – oder Firmenerben ungerechtfertigt bevorteilen.
Reiche ist nicht die einzige im Kabinett, die ihre ökonomischen Souffleure rekrutiert. Auch Finanzminister Klingbeil sah sich dazu berufen.
Am 29. September hat der Vizekanzler einen Investitions- und Innovationsbeirat eingeführt – und die Zahl der Räte in seinem Haus auf drei erhöht.
Die Idee des Innovationsrats:
Die Mitglieder sollen monitoren, dass das Sondervermögen von 500
Milliarden Euro für die Infrastruktur richtig eingesetzt wird.
as Gremium besteht aus einem bunten Mix an Experten und Expertinnen:
der Professorin für Unternehmertum, Ann-Kristin Achleitner
Ex-SAP-Personalvorstand Sabine Bendiek
Ex-Volkswagen-Vorstand Hiltrud Werner
Mannheims Ex-Oberbürgermeister Peter Kurz
Gewerkschafter Roman Zitzelsberger
Die Gruppe leitet Ex-Politiker und Unternehmer Harald Christ.
„Die Gelder sind nun da, aber die Umsetzung ist kein Selbstläufer“, sagt Klingbeil. Er freue sich deshalb sehr, „dass es uns gelungen sei, eine erfahrene Gruppe zusammenzubringen, die Investitionen und Innovationen vorantreiben“.
Die Ergebnisse gehen direkt an Jens Südekum, Chefberater des Finanzministers. Das Tandem ist der Ansicht, dass Deutschland nur mehr Geld investieren müsse, um die Wachstumsschwäche zu überwinden. Der 50-Jährige ist seit mehr als 25 Jahren SPD-Mitglied – und Klingbeils wichtigster ökonomischer Berater.
Die wissenschaftlichen und politischen Beiräte und Chefberater in den Ministerien Wirtschaft und Finanzen setzen den Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen weiter unter Druck.
Ein prominenter Ökonom, der ungenannt bleiben möchte, sagt: Die Minister würden nun wahrscheinlich mehr auf die Expertise im eigenen Haus hören – und weniger „auf Außenstehende“ wie die Wirtschaftsweisen. Das sei „problematisch“. Es dürfe „keine Unwucht entstehen“.
Fazit: Wo früher ein Gutachten reichte, konkurrieren heute ganze Flotten von Experten um die Deutungshoheit. Ausgerechnet jene, die Führung versprechen, verstecken sich hinter Expertengremien. So wird die Wissenschaft zum politischen Feigenblatt – und der Rat zum Ersatz für Mut.
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