24 März 2024

Corona-Aufarbeitung „Wir haben gesagt, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen“ (WELT+)

"liebe leserinnen und leser, mich macht die lektüre fassungslos. und fassungslos macht mich, dass dieser sündenfall der wissenschaft weiterhin nicht wirklich aufgearbeitet wird. und er ist role model für alle transformationsprozesse. klima, gender, gerechtigkeit etc. warum erzeugt das nicht mehr empörung? einen schönen tag,"
Corona-Aufarbeitung
„Wir haben gesagt, wir müssen ein Modell finden, um Folge-bereitschaft herzustellen“ (WELT+)
Nicht nur Virologen, Mathematikerinnen und Physiker waren daran beteiligt, die Entscheidungen der Bundesregierung in der Pandemie vorzubereiten und wissenschaftlich zu begründen. Auch Soziologen waren gefragt, saßen in Beratungsgremien und halfen mit ihrer Expertise, Maßnahmen zu konzipieren und umzusetzen. Aber was war ihr Beitrag, und aus welchen Erkenntnissen heraus argumentierten sie?

„Die soziologische Aufklärung scheint eine ernüchternde, wenn nicht gar zynische Betrachtung der politischen Prozesse nahezulegen“, schrieb der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas in seinem Buch „Faktizität und Geltung“ Anfang der 1990er-Jahre. Allerdings argumentierte er im Weiteren schlüssig gegen diesen Zynismus. Wie aber blicken seine Kollegen heute auf die Welt, wenn es um politische Prozesse in Krisenzeiten geht?

„Folgebereitschaft herstellen“

Der Soziologe Heinz Bude war 2020 Mitverfasser des Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums zur Covid-19-Pandemie. Bereits 2022 hatte er freimütig in einem Fachartikel über seine Arbeit berichtet. Kürzlich hat er nun noch einmal in einer Podiumsdiskussion an der Universität Graz, wie er selbst es nennt, „aus dem Nähkästchen geplaudert“ – die Aufzeichnung der Veranstaltung sowie die hier zitierten Ausschnitte und Transkriptionen sind auf der Internetseite „Indikativ Jetzt“ zu finden. Bude erzählt dort überraschend unverblümt, dass man im Expertengremium überlegt habe, wie man aufseiten der Bevölkerung „Folgebereitschaft“, also Gehorsam erzeugen könnte: „Wir haben gesagt, wir mussten, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist.“

Dieses „wissenschaftsähnliche“ Modell war die Idee „Flatten the Curve“, die kein Wissenschaftler, sondern der Silicon-Valley-Berater und Journalist Thomas Puyeo damals mit einem viralen Video populär gemacht hatte, wie auch Bude einräumt: „Das haben wir geklaut von einem Wissenschaftsjournalisten, haben wir nicht selber erfunden.“ Wir erinnern uns: Es gab diese Gegenüberstellung zweier schematischer Verläufe der Infektionszahlen, bei der die eine Kurve steil und kurz war und eine Überlastung des Gesundheitssystems anzeigen sollte, die andere aber flach und länger ausfiel. Die durch Maßnahmen abgeflachte Kurve sollte das Gesundheitssystem nicht so stark strapazieren.

Interessant ist das Vokabular, mit dem der Soziologe Bude über die Verwendung des Flatten-the-Curve-Modells spricht. Es kommt ihm nicht darauf an, ob es tatsächlich wissenschaftlich fundiert und zutreffend ist, es kommt nur darauf an, dass es wissenschaftlich wirkt: „Wir sagen denen, es sieht so nach Wissenschaft aus, ne?“ Warum der Soziologe eine solche Kommunikationsstrategie empfiehlt, kann man schon in seinem Beitrag für das Fachjournal „Soziologie“ aus dem Jahr 2022 detailliert nachlesen. Dort beschreibt Bude, wie man auf die Vorgehensweise zur Pandemieeindämmung in China geschaut und sich die Frage gestellt habe, „ob solche Maßnahmen in Deutschland durchführbar und vor allem legitimierbar seien“. Es sei klar gewesen, dass „eine Politik des Zugriffs auf das Verhalten der Einzelnen starker Rechtfertigung bedarf“. Es ging also darum, „Zwänge zu verordnen und Zustimmung zu gewinnen und dabei die Deutungshoheit in der Hand zu behalten“ – und dafür habe man dann eben auf jene nach Wissenschaft aussehenden Bilder der Abflachung der Kurven zugegriffen.

Im Klartext: Wenn man in einem freiheitlich-demokratischen Land Zwangsmaßnahmen wie Ausgangssperren, Schulschließungen und Kontaktreduzierungen implementieren will, wie sie dort eigentlich nicht legitim sind, dann muss man sich ein paar Bilder ausdenken, die das Vertrauen der Leute in die Wissenschaft und in wissenschaftliche Modelle ausnutzen, sodass die Leute selbst aus einer Art Einsicht in die wissenschaftlich begründete Notwendigkeit nach Maßnahmen rufen, die gemäß dem Geist unserer Verfassung eigentlich nicht legitim sind. Solche eine Argumentation als eine „zynische Betrachtung der politischen Prozesse“ anzusehen, wie Habermas sie beschrieb, ist sicher nicht weit hergeholt.

Soziologie versteht sich hier offenbar als Technologie, die den Regierenden erlaubt, im Angesicht der (behaupteten) Irrationalität der Leute mit den lästigen Nebenwirkungen von Freiheit und Demokratie umzugehen. Damit ist Bude nicht allein, auch wenn er mit seiner Offenheit, mit der er seine Sicht auf die Bürger in die Frage „Was macht man mit dem Irrsinn der Leute?“ kleidet, schon recht einzigartig dasteht. Dass es ein Soziologe mit diesem Menschenbild in ein Beratungsgremium des Bundesinnenministeriums geschafft hat, überrascht schon.

Vorbild China?

Auch bei dem bekannten Soziologieprofessor Armin Nassehi findet man, hier in seinem 2021 unter dem Eindruck der Corona-Erfahrungen geschriebenen Buch „Unbehagen“, die Rede von der „Grunderfahrung, dass China offensichtlich effizienter mit Krisen umzugehen weiß“ – und „das Medium dieses Gelingens dürfte eine bestimmte Form des Durchregierens sein – die zumindest in der ersten Lockdown-Phase im Frühjahr 2020 auch in Deutschland möglich war“. Nassehi schreibt von einer „soziologischen Hoffnung aufs Durchregieren“. Bei ihm kann man lesen: Die „chinesische autokratische Lösung ist ohne Zweifel effizient – und sie ist davon abhängig, dass es gelingt, Herrschaft von Widerspruch zu befreien und auf entgegenkommende gesellschaftliche Bedingungen zu setzen“.

Es sei angemerkt, dass Nassehi in einer Podiumsdiskussion mit dem Autor dieser Zeilen betont hat, dass er seine Darstellung der chinesischen Effizienz keineswegs als Vorbild, sondern eher als Mahnung gemeint habe. Wie „Herrschaft von Widerspruch“ befreit werden kann, haben wir allerdings bei Bude gesehen – durch eine Simulation von Wissenschaft, die dazu führt, dass die Bevölkerung selbst Zwangsmaßnahmen begrüßt.

Bude selbst hat, ebenfalls auf jener Diskussionsveranstaltung in Graz, darauf hingewiesen, dass er die in der Pandemie erprobte Methode des „Zugreifens auf individuelles Verhalten“ auch in zukünftigen Krisen praktizieren würde, „die individuelle Verhaltensveränderungen verlangen, wenn man den Krisen als Gesellschaft in kollektiver Handlungsfähigkeit standhalten will“. Rhetorisch fragt er: „Können wir das überhaupt in einer modernen liberalen Gesellschaft?“ Und er ergänzt ganz unschuldig die Frage: „Und muss man da nicht hinterrücks ganz furchtbare Dinge wie Angstkommunikation, also sozialpsychologische Dinge benutzen, um solche Arten von Folgebereitschaften zur Veränderung von individuellem Verhalten vorzunehmen?“

Angesichts solcher Fragen kommen dem Zuhörer oder Leser ganz unwillkürlich neben der Rede von „Flatten the Curve“ auch aus der Pandemiezeit das „exponentielle Wachstum“ in den Sinn, aber auch der „Hockeystick“ und die „Kipppunkte“ – all das klingt nach Wissenschaft, aber wie vertrauenswürdig ist das noch, wenn ein Soziologe, der meint „den Irrsinn unserer Gesellschaft unterschätzt“ zu haben, der ein gefragter Politikberater ist, ganz selbstverständlich pseudowissenschaftliche Angstkommunikation für legitim hält, um in demokratischen Gesellschaften „Folgebereitschaft“ herzustellen?

Es gibt aber auch ganz andere Stimmen in der Soziologie. Der Soziologe Klaus Kraemer, Gastgeber der Diskussionsrunde in Graz, hatte Bude schon früh widersprochen. Ebenfalls in der Zeitschrift „Soziologie“ hatte er Ende 2022 in einer Entgegnung auf Bude darauf hingewiesen, dass die Rolle der Soziologie in einer singulären Krise nicht in appellativen öffentlichen Äußerungen zum „sozialen Zusammenhalt“ bestehen kann. Die Methodenkompetenz seines Fachs sieht Kraemer einerseits in der Bereitstellung und kritischen Prüfung empirischer Verfahren. Diese Aufgabe wurde allerdings „im gesamten Verlauf der Krise ignoriert“. Deshalb hat er auch schon an anderer Stelle auf die Schwächen der Datenpolitik in der Pandemie hingewiesen. Das bedeutet: Soziologen, die moralische Appelle für das richtige Verhalten ans Publikum aussandten, waren bei Politik und Medien willkommen – doch von den Methoden der empirischen Sozialforschung, mit der man die Situation und die Wirkung von Eingriffen differenziert und einigermaßen sicher hätte beschreiben können, wollte man wenig wissen.

Für Kraemer ist es „ein soziologisches Rätsel und zugleich eine offene Forschungsfrage, warum die maßgeblichen staatlichen Institutionen in Deutschland die einschlägigen Methoden der sozialwissenschaftlichen Statistik ignoriert und keine validen, repräsentativen Daten zur Pandemie produziert haben“. Zudem sieht Kraemer die „soziologische Kernkompetenz auch im Krisenmodus darin, biologistische Krisendiagnosen in ein soziales Verhältnis zu setzen, die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wirkungen von Maßnahmen zur ‚Kontrolle‘ der Pandemie in den Mittelpunkt zu rücken und möglichst von Beginn an darauf aufmerksam zu machen, dass eine umsichtige Pandemiepolitik immer auch die schon früh absehbaren nichtintendierten Nebenfolgen bedenken sollte“. So käme der Soziologie – neben der Methodenkompetenz der empirischen Sozialforschung für das Situations- und Maßnahmenmonitoring – vor allem die Rolle der Beobachterin und Kritikerin zu, die auf die gesellschaftlichen und sozialen Gefahren einer zu engen Krisenpolitik hinweist.

Die Kommunikation der Angst

Das sieht Bude ganz anders. In einer erneuten Replik schreibt er 2023 ausdrücklich, eine „soziologische Beratung kommt daher nicht umhin, den Beratenen ein Mittel oder, wie man heute sagt, ein Tool zur Verfügung zu stellen, mit dem diese bei den Leuten Sinn für das erzeugen können, was sie selbst vorhaben“. Heißt also, um es noch einmal deutlicher zu formulieren: Die Soziologie soll sich zum Handlanger einer Politik mache, die in der Krise gern so agieren würde, wie es eine autokratische Regierung wie in China einfach tun kann, indem sie bei den Leuten zur Not auch mit fragwürdigen Mitteln den Sinn „erzeugt“, denn es braucht, damit sie die Maßnahmen, die sie vielleicht aus guten Gründen nicht akzeptieren wollen, doch mittragen.

Im drastischsten Fall bedeutet das dann etwa, dass Eltern ihren Kindern das Spielen mit Freuden verleiden sollen, indem sie ihnen Angst machen, dass dann vielleicht ja die Großeltern sterben könnten – so vorgesehen im von Bude mitverfassten „Panikpapier“ des Innenministeriums: „Kinder“, hieß es darin wörtlich, „werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“ Die Angstkommunikation stellt sicher, dass sich die Eltern an die Maßnahmen halten, auch wenn ihnen das Herz bricht. Die Effekte einer solchen absichtlichen Horror-Kommunikation sind nicht zuletzt in der auf Corona folgenden „Mental-Health-Pandemie“ noch immer zu beobachten.

Spätestens heute, da die Vielfalt der katastrophalen Auswirkungen bekannt ist und zugleich durch den internationalen Vergleich klar geworden ist, dass eine weniger panikgesteuerte, eine gelassenere Politik uns nicht schlechter durch die Pandemie gebracht hätte, ist der Moment gekommen, innezuhalten und sich zu besinnen, um für zukünftige Krisen besser gerüstet anzugehen. Man muss sich allerdings auch fragen, welche soziologischen Kompetenzen die Politik und auch die Medien wohl bei zukünftigen Krisen hinzuziehen wird. Wer sich schon jetzt als Werkzeuglieferant für politische Zwecke ins Bild setzt, hat da womöglich bessere Chancen als jemand, der auf wissenschaftlich erprobten Methoden der Datenerhebung besteht und zudem die Berücksichtigung der Vielfalt der Wirkungen und Nebenwirkungen anmahnt.

Aber nein, man muss nicht „hinterrücks ganz furchtbare Dinge“ benutzen, es sollte sich gerade für Soziologen verbieten, Lösungen dieser Art zu suchen oder gar zu empfehlen. Umgekehrt wird nämlich ein Schuh draus: das, was Bude als Irrsinn der Gesellschaft bezeichnet, sind die Kräfte, die sich dem Irrsinn einer demokratiefeindlichen, sozialtechnokratischen Politikberatung entgegenstemmen. Das kann man zum Glück schon bei der Habermas-Lektüre lernen. Der hat schon in „Faktizität und Geltung“ das, was Bude da vorschwebt, als „illegitime Verselbstständigung administrativer und sozialer Macht gegenüber demokratisch erzeugter kommunikativer Macht“ bezeichnet und auf „die peripheren Strukturen der Meinungsbildung“ gesetzt. Diese habe „die Fähigkeit, gesamtgesellschaftliche Probleme wahrzunehmen, zu interpretieren und auf eine zugleich Aufmerksamkeit erregende und innovative Weise in Szene zu setzen“. Bedeutet: an den informellen Rändern des politischen Systems, auf den Straßen, in den sozialen Medien, werden in einer Demokratie die Leute mit bürgerlicher Kreativität aktiv, um denen, die meinen, Folgebereitschaft verlangen zu können, zu zeigen, wer in einer Demokratie schlussendlich der Souverän ist.

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