"In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele türkischstämmige Bürger
ihren Platz in der deutschen Gesellschaft erkämpft und mit ihrer Arbeit
zum Wohlstand beigetragen. Ursächlich für das Wirtschaftswunder aber
waren sie nicht".
Deutschland hat sein Wirtschaftswunder nicht den Türken zu verdanken (NZZ)
Die Behauptung von Aussenminister Johann Wadephul, die Gastarbeiter aus
der Türkei hätten das deutsche Wirtschaftswunder ermöglicht, ist Unfug.
Es ist an der Zeit, sich von solch irreführenden Narrativen zu
verabschieden.
Ein Aussenminister ist nicht nur der oberste Botschafter eines Landes,
er verbreitet als solcher auch wichtige Botschaften über das Land, das
er vertritt. Und zwar weltweit. Umso wichtiger ist es, dass diese
Botschaften von den Fakten gedeckt sind. Dass dies nicht immer der Fall
ist, zeigen die jüngsten Äusserungen des deutschen Aussenministers Johann Wadephul anlässlich seines Antrittsbesuchs in der Türkei am gestrigen Freitag. In einem Interview mit der türkischen Zeitung «Hürriyet»,
in dem es auch um die Rolle der in Deutschland lebenden Türken ging,
sagte Wadephul, es seien «ganz entscheidend» auch Frauen und Männer aus
der Türkei gewesen, «die mit harter Arbeit unter teils sehr schwierigen
Umständen das sogenannte Wirtschaftswunder möglich gemacht haben». Sie
hätten «das moderne Industrieland Deutschland mit aufgebaut», so
Wadephul. Diese Leistung sei viel zu lange nicht ausreichend gewürdigt
worden. Mit
seinem Statement bedient der Aussenminister ein Narrativ, das von
deutschen Politikern immer wieder genährt wird. Es lautet: Deutschland
hat seinen ökonomischen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg auch den
Gastarbeitern aus der Türkei zu verdanken. Doch das ist falsch.
Ordoliberale Vordenker des Wirtschaftswunders
Als
die Bundesrepublik 1961 mit der Anwerbung von Gastarbeitern aus der
Türkei begann, hatte das Land den grössten Teil seines
Wirtschaftswunders bereits hinter sich. Dieses setzte ein, nachdem die
amerikanische Besatzungsmacht in Abstimmung mit den anderen
Westalliierten im Juni 1948 auf Basis des Colm-Dodge-Goldsmith-Plans die
Währungsreform umsetzte und der Wirtschaftsrat unter Ludwig Erhard die Preise freigab. Die
Entscheidung für eine marktwirtschaftliche Ordnung mit einer stabilen
Währung, freien Preisen und gesichertem Privateigentum, wie sie die
ordoliberalen Ökonomen der Freiburger Schule um Walter Eucken
und Wilhelm Röpke vorgedacht hatten, lieferte das Fundament und den
Startschuss zugleich für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg
Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. In
den 1950er Jahren liessen Wachstumsraten von durchschnittlich 8,2
Prozent den Wohlstand der Westdeutschen rasant steigen. In den 1960er
Jahren, als Deutschland begann, Gastarbeiter aus der Türkei anzuwerben,
lagen die Wachstumsraten im Schnitt nur noch halb so hoch. Das Beste
hatte Deutschland damals bereits hinter sich.
Druck aus Amerika zur Anwerbung von Gastarbeitern Dass Deutschland damit begann, Gastarbeiter aus der Türkei
anzuwerben, war nicht zuletzt auf den Druck aus den USA zurückzuführen.
Amerika betrachtete die Türkei, die damals schon Mitglied der Nato war,
aufgrund ihrer geografischen Lage als strategisch wichtiges Bollwerk
gegen die Expansionsbestrebungen der Sowjetunion. Anfang der 1960er
Jahre befand sich die Türkei nach einem Militärputsch in einer tiefen
Wirtschaftskrise. Die Massenarbeitslosigkeit und die Unzufriedenheit der
Bevölkerung bedrohten die politische Stabilität des Landes. Daher
übten die USA und die türkische Regierung Druck auf die deutsche
Regierung aus, damit sie Arbeitskräfte aus der Türkei als Gastarbeiter
nach Deutschland holt. Die Idee dahinter: Deutschland sollte den
Arbeitsmarkt in der Türkei entlasten und den türkischen Gastarbeitern
eine Qualifikation vermitteln, die sie in die Lage versetzte, nach einer
späteren Rückkehr in die Türkei ihr Heimatland wirtschaftlich
voranzubringen.
Tatsächlich
kamen bis zum Anwerbestopp 1973 mehr als 850 000 türkische
Arbeitskräfte nach Deutschland. Mit ihren Geldüberweisungen an ihr
Heimatland ernährten sie dort ganze Familien. Doch statt in ihr
Heimatland zurückzukehren, blieben sie in Deutschland und holten ihre
Angehörigen zu sich.
Schräge Narrative
Während
das deutsche Arbeitsministerium damals wegen der kulturellen,
religiösen und ethnischen Unterschiede zwischen der Türkei und
Deutschland Bedenken gegen die Anwerbung von ungelernten türkischen
Gastarbeitern anmeldete, begrüssten viele Unternehmen die Anwerbung. Sie
fürchteten, dass nach dem Bau der Berliner Mauer
1961 der Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten versiegen werde und
die Löhne in die Höhe schnellen. Billige Arbeitskräfte aus der Türkei
schienen ihnen deshalb als willkommene Möglichkeit, die Kosten unter
Kontrolle zu halten.
In
den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele türkischstämmige Bürger
ihren Platz in der deutschen Gesellschaft erkämpft und mit ihrer Arbeit
zum Wohlstand beigetragen. Ursächlich für das Wirtschaftswunder aber
waren sie nicht. Es ist an der Zeit, dass auch das Aussenministerium
dies erkennt und keine schrägen Narrative mehr zum Gefallen der Türkei
verbreitet.
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