19 Oktober 2025

Deutschland hat sein Wirtschaftswunder nicht den Türken zu verdanken (NZZ)

"In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele türkischstämmige Bürger ihren Platz in der deutschen Gesellschaft erkämpft und mit ihrer Arbeit zum Wohlstand beigetragen. Ursächlich für das Wirtschaftswunder aber waren sie nicht".
Deutschland hat sein Wirtschaftswunder nicht den Türken zu verdanken (NZZ)
Die Behauptung von Aussenminister Johann Wadephul, die Gastarbeiter aus der Türkei hätten das deutsche Wirtschaftswunder ermöglicht, ist Unfug. Es ist an der Zeit, sich von solch irreführenden Narrativen zu verabschieden.
Kommentar von Malte Fischer 18.10.2025, 3 Min
Ein Aussenminister ist nicht nur der oberste Botschafter eines Landes, er verbreitet als solcher auch wichtige Botschaften über das Land, das er vertritt. Und zwar weltweit. Umso wichtiger ist es, dass diese Botschaften von den Fakten gedeckt sind. Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigen die jüngsten Äusserungen des deutschen Aussenministers Johann Wadephul anlässlich seines Antrittsbesuchs in der Türkei am gestrigen Freitag.
In einem Interview mit der türkischen Zeitung «Hürriyet», in dem es auch um die Rolle der in Deutschland lebenden Türken ging, sagte Wadephul, es seien «ganz entscheidend» auch Frauen und Männer aus der Türkei gewesen, «die mit harter Arbeit unter teils sehr schwierigen Umständen das sogenannte Wirtschaftswunder möglich gemacht haben». Sie hätten «das moderne Industrieland Deutschland mit aufgebaut», so Wadephul. Diese Leistung sei viel zu lange nicht ausreichend gewürdigt worden.
Mit seinem Statement bedient der Aussenminister ein Narrativ, das von deutschen Politikern immer wieder genährt wird. Es lautet: Deutschland hat seinen ökonomischen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Gastarbeitern aus der Türkei zu verdanken. Doch das ist falsch.
Ordoliberale Vordenker des Wirtschaftswunders

Als die Bundesrepublik 1961 mit der Anwerbung von Gastarbeitern aus der Türkei begann, hatte das Land den grössten Teil seines Wirtschaftswunders bereits hinter sich. Dieses setzte ein, nachdem die amerikanische Besatzungsmacht in Abstimmung mit den anderen Westalliierten im Juni 1948 auf Basis des Colm-Dodge-Goldsmith-Plans die Währungsreform umsetzte und der Wirtschaftsrat unter Ludwig Erhard die Preise freigab.
Die Entscheidung für eine marktwirtschaftliche Ordnung mit einer stabilen Währung, freien Preisen und gesichertem Privateigentum, wie sie die ordoliberalen Ökonomen der Freiburger Schule um Walter Eucken und Wilhelm Röpke vorgedacht hatten, lieferte das Fundament und den Startschuss zugleich für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.
In den 1950er Jahren liessen Wachstumsraten von durchschnittlich 8,2 Prozent den Wohlstand der Westdeutschen rasant steigen. In den 1960er Jahren, als Deutschland begann, Gastarbeiter aus der Türkei anzuwerben, lagen die Wachstumsraten im Schnitt nur noch halb so hoch. Das Beste hatte Deutschland damals bereits hinter sich.
Druck aus Amerika zur Anwerbung von Gastarbeitern
Dass Deutschland damit begann, Gastarbeiter aus der Türkei anzuwerben, war nicht zuletzt auf den Druck aus den USA zurückzuführen. Amerika betrachtete die Türkei, die damals schon Mitglied der Nato war, aufgrund ihrer geografischen Lage als strategisch wichtiges Bollwerk gegen die Expansionsbestrebungen der Sowjetunion. Anfang der 1960er Jahre befand sich die Türkei nach einem Militärputsch in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Massenarbeitslosigkeit und die Unzufriedenheit der Bevölkerung bedrohten die politische Stabilität des Landes.

Daher übten die USA und die türkische Regierung Druck auf die deutsche Regierung aus, damit sie Arbeitskräfte aus der Türkei als Gastarbeiter nach Deutschland holt. Die Idee dahinter: Deutschland sollte den Arbeitsmarkt in der Türkei entlasten und den türkischen Gastarbeitern eine Qualifikation vermitteln, die sie in die Lage versetzte, nach einer späteren Rückkehr in die Türkei ihr Heimatland wirtschaftlich voranzubringen.

Tatsächlich kamen bis zum Anwerbestopp 1973 mehr als 850 000 türkische Arbeitskräfte nach Deutschland. Mit ihren Geldüberweisungen an ihr Heimatland ernährten sie dort ganze Familien. Doch statt in ihr Heimatland zurückzukehren, blieben sie in Deutschland und holten ihre Angehörigen zu sich.

Schräge Narrative

Während das deutsche Arbeitsministerium damals wegen der kulturellen, religiösen und ethnischen Unterschiede zwischen der Türkei und Deutschland Bedenken gegen die Anwerbung von ungelernten türkischen Gastarbeitern anmeldete, begrüssten viele Unternehmen die Anwerbung. Sie fürchteten, dass nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 der Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten versiegen werde und die Löhne in die Höhe schnellen. Billige Arbeitskräfte aus der Türkei schienen ihnen deshalb als willkommene Möglichkeit, die Kosten unter Kontrolle zu halten.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele türkischstämmige Bürger ihren Platz in der deutschen Gesellschaft erkämpft und mit ihrer Arbeit zum Wohlstand beigetragen. Ursächlich für das Wirtschaftswunder aber waren sie nicht. Es ist an der Zeit, dass auch das Aussenministerium dies erkennt und keine schrägen Narrative mehr zum Gefallen der Türkei verbreitet.

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