Miteinander sprechen die fünf polnisch. Sie seien in den 1980er Jahren eingewandert, erzählen sie. Aber im Laufe der letzten vier Jahre habe sich etwas verändert in Hannover. Sie fühlten sich nicht mehr sicher. «Abends kann ich nicht mehr allein herumlaufen», sagt eine der Frauen. «Viel zu gefährlich. Wir fahren mit dem Taxi nach Hause.» Ihnen selbst sei noch nichts passiert, Freunden jedoch schon. Die Schwester eines Kumpels sei von einem Iraner umgebracht worden, erzählt einer der Männer. Ein Ehrenmord. Für sie ist die Frage des «Stadtbilds» und der Migration direkt mit einem sich rapide verschlechternden Sicherheitsgefühl verknüpft.
Am
Rande des Kröpcke-Platzes stehen Schmuckverkäufer. Sie haben
Migrationshintergrund, gehören schon seit Jahrzehnten zum Stadtbild.
Meint Friedrich Merz etwa Männer wie sie? Aus den kleinen Bauchläden
werden Ketten, Anhänger, Ringe verkauft. Wenn gerade keine Kundschaft da
ist, unterhalten sie sich miteinander, rauchen. Und bekommen auf diesem
zentralen Platz alles mit.
Einer von ihnen, der seinen Namen nicht nennen möchte, kam vor zwanzig Jahren aus der kurdischen Region des Iraks. «Ganz Deutschland hat sich zum Schlechten verändert», lautet sein Urteil. Als er die Berliner Sonnenallee gesehen habe, die «arabische Strasse», wie er sie nennt, sei er schockiert gewesen: «Das ist doch Schrott.» Auch hier, in der Hannoveraner Innenstadt, gebe es ständig Probleme mit Drogendealern und Gewalt. Polizisten bestätigten ihm, dass «es viel schlimmer» geworden sei. «Gott sei Dank wohne ich nicht in Hannover, sondern ausserhalb!», ruft er und lacht.
«Ich möchte nichts mehr, als nach Palästina zurückzukehren!»
Hannover mit seinen etwa 500 000 Einwohnern ist eine ziemlich normale Stadt in der Mitte Deutschlands, ein Verkehrsknotenpunkt. Keine Stadt im freien Fall, wie es etwa Gelsenkirchen oder Duisburg im Westen des Landes sind. Seit vielen Jahrzehnten ist Hannover durch Migranten geprägt, insbesondere durch die Nachkommen der Gastarbeitergeneration aus der Türkei und anderen südeuropäischen Ländern. Etwa 42 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund, 22 Prozent sind Ausländer.
Sich die Zustände ausserhalb der gutbürgerlichen Stadtteile Berlins anzuschauen, hatte der christlichdemokratische Fraktionschef Jens Spahn zur Verteidigung des Kanzlers all jenen geraten, die ihn kritisieren. Merz habe «ausgesprochen, was jeder sieht», sagte er der «Bild»-Zeitung. «Verwahrlosung, Drogendealer, junge Männer, meistens mit Migrationshintergrund», umschrieb er seine Wahrnehmung des Stadtbilds. Es habe «auch mit irregulärer Migration zu tun, wie es in unseren Innenstädten» aussehe. Es geht also um mehr als Migration – es geht um ein Gefühl des Verfalls.
Die Hannoveraner Einkaufsmeile liegt bereits im Schatten. Es ist später Nachmittag. Die Fussgängerzone führt vom Kröpcke bis zum Steintorplatz, gesäumt von grossen Geschäften voller einkaufswütiger Menschen. Auf den Wandel, wie er in vielen deutschen Städten stattfindet, weisen kleine Anzeichen hin. Etwa das riesige Haus, das einst ein Karstadt-Kaufhaus beherbergte. Heute steht es leer. Je weiter man sich in Richtung des Steintorplatzes bewegt, desto mehr prägen Ein-Euro-Shops, Dönerläden, Schmuckgeschäfte mit türkischen und arabischen Namen das Bild. Dem Anschein nach sind hier kaum Deutsche ohne Migrationshintergrund unterwegs.
«Ich möchte nichts mehr, als nach Palästina zurückzukehren!», schreit ein Mann auf dem Steintorplatz in ein Mikrofon. Etwa 200 Demonstranten klatschen, jubeln. Sie halten Schilder hoch, die Israel des Genozids bezichtigen, tragen riesige palästinensische Flaggen und Banner. Propalästinensische Demonstrationen wie diese mit ihrer scharfen, teilweise offen antisemitischen Rhetorik sind längst Teil des Stadtbilds geworden.
Der Redner sagt gerade, dass alle «Zionisten» auf den Schiffen den Nahen Osten verlassen sollten, auf denen sie gekommen seien. Dann würde er selbst nach Gaza zurückgehen. Dort habe er in den 1980er Jahren als Kind Steine auf israelische Panzer geworfen. Ein Demonstrant ruft: «Takbir!» Die Menge antwortet: «Allahu akbar!» Dann zieht die Versammlung in Richtung Kröpcke. Ein einzelner Gegendemonstrant im Batman-Kostüm läuft im sicheren Abstand hinter dem Aufzug hinterher und hält ein Schild mit einem Davidstern hoch, mit dem er vor «Islamofaschismus» warnt. Er wird von Polizisten beschützt.
Er habe viel «Scheisse» erlebt, erzählt ein junger Mann
Am Rande stehen die Endzwanziger Lukas und Johannes, trinken Bier vor einem der zahlreichen Kioske. Die Demo scheint sie nicht weiter zu beschäftigen. Das Steintorviertel sei schon immer stark von Migration geprägt gewesen, sagt Johannes, es gelte als Brennpunkt. Sie beide hätten früher nahe bei der Ausgeh- und Rotlichtmeile des Steintorplatzes gewohnt und viel «Scheisse» erlebt. Taschendiebstähle, Schlägereien, dumme Anmachen. Aber als Männer hätten sie sich nie unsicher gefühlt – im Gegensatz zu ihren Freundinnen.
Ausserhalb
solcher Brennpunkte sei es kein Problem, wenn sich das Stadtbild durch
Migration verändere, meint Johannes. Er spricht bedacht und leise. «Wenn
es sich aber zu einer Art Parallelgesellschaft hinentwickelt», fügt er
hinzu, «dann sollte man nicht die Augen davor verschliessen.» Seine
Freundin sei im Alter von vier Jahren aus Syrien nach Deutschland
gekommen. Sie ärgere sich darüber, dass sie mit Migranten, die Probleme
machten, «in einen Topf geworfen» werde.
Die Sonne geht unter, es wird spürbar kälter. Die Gegend um den Steintorplatz wird nun zum Ausgehviertel. Eine Shisha-Bar hat ihre bunten Lichter angeschaltet. Neben einem deutschen Traditionslokal am Steintorplatz kommt auf einem E-Roller ein Mann angefahren. Er händigt zwei jungen Frauen ein Päckchen mit Marihuana aus. Sie geben ihm Geld, er fährt wieder weg.
Gemäss einer Umfrage im Auftrag der Stadt Hannover ist der Einbruch der Nacht für viele Hannoveraner mit einem wachsenden Unsicherheitsgefühl verbunden. Tagsüber fühlten sich 2023 weniger als die Hälfte der Befragten in der Innenstadt sicher. Die Zahl der Befragten, die sich abends und nachts sicher oder sehr sicher fühlen, sank von 30 Prozent im Jahr 2018 auf 14 Prozent im Jahr 2023.
Das
mag auch damit zu tun haben, dass es hier immer wieder zu brachialer
Gewalt kommt. Erst Mitte Oktober eskalierte an einem Samstagabend ein Streit zwischen einem 19-jährigen und mehreren anderen Syrern.
Ein 14-Jähriger soll dann auf den Älteren eingestochen haben. Die
Polizei ermittelt wegen eines versuchten Tötungsdelikts. Auch aufgrund
einer Häufung solcher Fälle ist die Hannoveraner Innenstadt ab 21 Uhr
als Waffenverbotszone ausgewiesen, in der die Polizei anlasslos
Personenkontrollen durchführen darf.
«Wir arbeiten, machen Sport und halten uns raus»
Kurz nach Ladenschluss um 20 Uhr sind die Familien verschwunden. Es fühlt sich an, als wäre es bereits tiefe Nacht, so dunkel ist es. Auf dem Bahnhofsvorplatz sind einige Nachtschwärmer unterwegs, sonst viele Grüppchen arabisch sprechender Männer, die herumstehen, Energydrinks trinken, rauchen. Eine Gruppe junger Männer spielt im Kreis Fussball miteinander.
Am Rande der Promenade stehen zwei junge Männer. Sie tragen schwarze Daunenjacken, sind syrische Kurden. Sie wohnten eigentlich in Braunschweig, sagen sie, sie seien in die Stadt gekommen, um einzukaufen. Sie hörten schlechte Dinge über Hannover. «Wir arbeiten, machen Sport und halten uns raus», sagt einer von ihnen. Über die Sicherheitslage wollen sie nicht wirklich sprechen, darum solle sich die Polizei kümmern.
Im Hauptbahnhof, der als sechstgefährlichster Bahnhof Deutschlands gilt, tun das vor allem private Dienste. Insbesondere die Zahl der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Polizei sieht man an diesem Abend keine, dafür patrouillieren umso mehr von der Deutschen Bahn oder den lokalen Nahverkehrsbetrieben beauftragte Sicherheitskräfte. Da sich der Bahnhof seit dem Nachmittag deutlich geleert hat, tritt auch das Elend stärker hervor. An den Hinterausgängen tummeln sich die Obdachlosen und Drogenabhängigen. Das war hier schon immer ein Problem. Wer nach Hannover kommt und die U-Bahn nehmen will, sieht sich zuallererst mit Verwahrlosung konfrontiert.
Ein Mann ist so betrunken, dass er nicht mehr gehen kann. Er trägt eine Handwerkerhose. Er hat keinen sichtbaren Migrationshintergrund. Eine Gruppe von Bahn-Sicherheitskräften stützt ihn und schiebt ihn bis zur Ausgangstür. Da fällt er in sich zusammen, bleibt schlaff auf dem Boden sitzen. Eine ältere Passantin fragt besorgt nach, einer der Sicherheitskräfte erklärt, dass man den Mann schon kenne. Nur wenige Minuten später wird er doch noch aufmüpfig, der Sicherheitsdienst führt ihn ab.
Selbst wegen Spritzen kommt es zu Gewalt
«Unten alles ruhig?», fragt ein Sicherheitsmann eine Gruppe von Kollegen eines anderen Dienstes, die auf der Ebene der U-Bahn patrouillieren. Die Kollegen nicken. Der Mann hat wie viele seiner Kollegen selbst einen Migrationshintergrund, seinen Namen möchte er nicht nennen. Er erzählt davon, dass Drogenabhängige das grösste Problem im Bahnhof seien. Sie würden immer mehr. Er zeigt auf eine Gruppe stark alkoholisierter Männer am Rande. «Die streiten sich ständig. Selbst wegen einer Spritze kommt es zu Gewalt.»
Mit Migration habe das aber nichts zu tun. Dem Bundeskanzler rät er, mehr in die Polizei und Sicherheitsdienste zu investieren, nicht in den Strassenbau. Schliesslich verdienten er und seine Kollegen nur den Mindestlohn und riskierten dabei ihre Gesundheit. So könne sich das Stadtbild nicht verbessern.
Nun ist es spät am Abend. In einer Seitenstrasse des Bahnhofs steht eine Gruppe junger migrantischer Männer um ein Auto. Einer ruft einem vorbeigehenden Passanten provokant zu: «Was glotzt du so?» Der lässt sich das nicht gefallen, geht langsam zurück. Ein Wortgefecht entsteht, schliesslich sagt der Passant: «Bei manchen Leuten weisst du gar nicht, woher sie kommen und was sie so machen.» Es klingt wie eine Drohung. Der Jugendliche entschuldigt sich, der Passant geht weiter.
Neben Bars und Dönerläden haben jetzt nur noch die Kioske geöffnet. Sidat ist 27 und arbeitet in einem Spätverkauf direkt am Steintor. Er sei 2010 aus dem Irak nach Deutschland gekommen, erzählt er. Dem Bundeskanzler gibt er recht. «Es gibt gute und schlechte Ausländer. Diese ganzen Schmarotzer kann man abschieben», sagt Sidat und schimpft auf das Bürgergeld. «Man sieht kaum noch Deutsche. Schau dich mal um, man sieht nicht mal einen einzigen Blonden!» Er findet nicht, dass eine solche Aussage rassistisch ist.
Das Kriminalitätsproblem habe sich aber seiner Erfahrung nach nicht verschärft. Er nimmt einen Kasten Bier in die Hand, um die Flaschen einzuräumen, und erzählt, dass er das bald nicht mehr machen müsse. Denn nach seiner Ausbildung als Maler und Lackierer habe er bald einen Meister. Im kommenden Jahr wolle er seinen eigenen Betrieb eröffnen: «Und dann geht’s ab.»
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen