"Dabei ist die Empörung über Merz am Ende so hanebüchen wie vorhersehbar. Nicht nur in Gelsenkirchen wissen die meisten Politiker aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie unwohl längst vielen Bürgerinnen und Bürgern in der Stadt ist – wie fremd sie sich fühlen in ihrer eigenen Heimat. Und das völlig unabhängig davon, ob sie Merve heißen oder Maria."
Essay zum „Stadtbild“Merz und das „Stadtbild“: „Ich fühle mich nicht angesprochen“ (Funke Mediengruppe, u.a. GZ)
Berlin.
Unser Autor ist FUNKE-Journalist
aus Gelsenkirchen. So erlebt der Deutsche mit türkischen Wurzeln die
vom Bundeskanzler angestoßene Debatte.
Von Sinan Sat, 23.10.2025, 16:07 Uhr
Sinan Sat ist Journalist und Redaktionsleiter der WAZ Gelsenkirchen.
Der 37-Jährige ist in Deutschland geboren, seine Eltern sind vor mehr
als 40 Jahren aus der Türkei ins Ruhrgebiet eingewandert. Der Fan von
Schalke 04 ist mit einer Deutschen verheiratet und hat zwei Kinder. Für
unsere Redaktion hat er aufgeschrieben, wie er die Diskussionen um das
„Stadtbild“ empfindet:
In Kürze:- Die Empörung ist groß – in den sozialen wie in den klassischen Medien. Friedrich Merz stigmatisiere mit seiner „Stadtbild“-Aussage Menschen mit Migrationshintergrund.
- „Stadtbild“-Aussage: Einige wollen Friedrich Merz missverstehen
- Ich jedenfalls fühlte mich trotz meiner türkischen Wurzeln nicht angesprochen
- Merz hat sich mit der schwammigen Aussage keinen Gefallen getan
- Angst im öffentlichen Raum? Für einige an der Tagesordnung
Cem Özdemir: Es braucht ein Umdenken in der Migrationspolitik
Die Empörung ist groß – in den sozialen wie in den klassischen Medien.
Friedrich Merz stigmatisiere mit seiner „Stadtbild“-Aussage Menschen mit Migrationshintergrund. Der
Bundeskanzler schüre Ressentiments, bediene die Klaviatur der
AfD, die er doch zum größten Feind seiner
CDU erklärt hat – nicht selten ist gar von Rassismus die Rede.
So
jedenfalls klingt weitestgehend die Berichterstattung zum Thema, so
beurteilen inzwischen einige Linguisten und Politikwissenschaftler die
Aussagen des Kanzlers. Und ganz sicher empfinden einige Menschen im Land
das auch so – sehr viele andere aber eben auch nicht.
„Stadtbild“-Aussage: Einige wollen Friedrich Merz missverstehen Ich jedenfalls fühlte mich trotz meiner
türkischen
Wurzeln nicht angesprochen, als der Kanzler sagte, „aber wir haben
natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der
Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch
Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Und ich fühlte mich
auch nicht beleidigt, ausgegrenzt oder sonst wie erniedrigt, als Merz
nachlegte und sagte, „fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint
haben könnte. Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und
deutliche Antwort.“
Das sagt viel
über die aufgeregte Debattenkultur in Deutschland aus – und den immer
gleichen und ermüdenden Kampf um die Deutungshoheit. Rassismus-Keule und
der Vorwurf des Links-Grün-Versifften liegen jederzeit bereit in der
Schublade und kommen reflexartig zum Einsatz.
Merz hat sich mit der schwammigen Aussage keinen Gefallen getan
Dabei
steht außer Frage, dass Merz mit seiner schwammigen und unpräzisen
Aussage der Debatte, um die es im Kern eigentlich geht, keinen Gefallen
getan hat. Ein
Bundeskanzler sollte Ross und Reiter klar benennen, nicht herumdrucksen und Raum für Interpretationen lassen. Das ist des Amtes nicht würdig.
Nicht von ungefähr hat Merz daher nun seine Aussage konkretisiert
und gesagt, es brauche auch in Zukunft Einwanderung und „wir können auf
Menschen mit Migrationshintergrund gar nicht mehr verzichten.“ Zugleich
sagte er, Probleme machten diejenigen, „die keinen dauerhaften
Aufenthaltsstatus haben, nicht arbeiten und sich auch nicht an unsere
Regeln halten“. Viele von ihnen bestimmten das öffentliche Bild in den
Städten. „Deshalb haben mittlerweile so viele Menschen in Deutschland
und in anderen Ländern der Europäischen Union – das gilt nicht nur für Deutschland – einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.“
Angst im öffentlichen Raum? Für einige an der Tagesordnung
Dieses
Unbehagen ist real. Es äußert sich etwa darin, dass ein junges Mädchen
im Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf nur äußerst ungern alleine zum
nahegelegenen Supermarkt geht. Zu oft hat der Teenager anzügliche
Sprüche und unangenehme Situationen erlebt, wenn dort schon kleine Jungs
und junge Männer mit Migrationshintergrund in großen Gruppen
zusammenstehen und sich aufführen, als gehöre ihnen die Straße. Ein
Einzelfall? Ein gesondertes Phänomen in einer Stadt, in der die AfD für westdeutsche Verhältnisse besonders stark ist? Oder sogar rassistisch? Sicher nicht.
„Wenn sie in der
Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre
Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft
oder sexualisiert werden.“ Sie rede nicht gern darüber, „weil sie nicht
möchte, dass Rechtsradikale daraus Kapital schlagen“. Das hatte vor
ziemlich genau einem Jahr Grünen-Spitzenpolitiker Cem Özdemir in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschrieben.
Und
auch wie enttäuscht seine Tochter sei, dass nicht offensiver
thematisiert werde, was dahinterstecke: „Die patriarchalen Strukturen
und die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern.“
Cem Özdemir: Es braucht ein Umdenken in der Migrationspolitik
Özdemir
forderte ein Umdenken in der deutschen Migrationspolitik, wobei
reguläre und irreguläre Migration auseinandergehalten werden müssten.
Die deutsche Asylpraxis habe sich im vergangenen Jahrzehnt „immer mehr
zu einem Recht des Stärkeren entwickelt. Es kommen eben gerade nicht nur
die Verletzlichsten und Schutzbedürftigsten aus den Krisengebieten der
Welt, sondern in ganz überwiegender Zahl die Stärkeren, das heißt junge
Männer.“ Diese Entwicklung höhle zunehmend die Akzeptanz für das
Grundrecht auf Asyl aus und führe zu massiven gesellschaftlichen
Verwerfungen.
Friedrich Merz
hat im Kern das Gleiche zum Ausdruck bringen wollen. Durch seine zum
wiederholten Male unpräzisen und provokanten Formulierungen jedoch,
trägt er entscheidend dazu bei, dass
Deutschland
wieder über Semantik und Wortwahl diskutiert, über Pauschalisierungen
und Ausgrenzung. Wenn es am Ende nützt, die Probleme zu lösen, dann möge
sich vorher eine Runde um die „richtige“ Wortwahl streiten, wer nichts
Besseres zu tun hat.
Dabei ist die Empörung über Merz am
Ende so hanebüchen wie vorhersehbar. Nicht nur in Gelsenkirchen, wo die
AfD bei der Kommunalwahl vor einigen Wochen mit der SPD
gleichgezogen ist und alle anderen Parteien hinter sich ließ, wissen
die meisten Politiker aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie unwohl
längst vielen Bürgerinnen und Bürgern in der Stadt ist – wie fremd sie
sich fühlen in ihrer eigenen Heimat. Und das völlig unabhängig davon, ob
sie Merve heißen oder Maria.
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