24 Oktober 2025

Essay zum „Stadtbild“ Merz und das „Stadtbild“: „Ich fühle mich nicht angesprochen“ (Funke Mediengruppe, u.a. GZ)

"Dabei ist die Empörung über Merz am Ende so hanebüchen wie vorhersehbar. Nicht nur in Gelsenkirchen wissen die meisten Politiker aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie unwohl längst vielen Bürgerinnen und Bürgern in der Stadt ist – wie fremd sie sich fühlen in ihrer eigenen Heimat. Und das völlig unabhängig davon, ob sie Merve heißen oder Maria."
Essay zum „Stadtbild“
Merz und das „Stadtbild“: „Ich fühle mich nicht angesprochen“ (Funke Mediengruppe, u.a. GZ)
Berlin. Unser Autor ist FUNKE-Journalist aus Gelsenkirchen. So erlebt der Deutsche mit türkischen Wurzeln die vom Bundeskanzler angestoßene Debatte.
Von Sinan Sat, 23.10.2025, 16:07 Uhr     
Sinan Sat ist Journalist und Redaktionsleiter der WAZ Gelsenkirchen. Der 37-Jährige ist in Deutschland geboren, seine Eltern sind vor mehr als 40 Jahren aus der Türkei ins Ruhrgebiet eingewandert. Der Fan von Schalke 04 ist mit einer Deutschen verheiratet und hat zwei Kinder. Für unsere Redaktion hat er aufgeschrieben, wie er die Diskussionen um das „Stadtbild“ empfindet:
In Kürze:
  • Die Empörung ist groß – in den sozialen wie in den klassischen Medien. Friedrich Merz stigmatisiere mit seiner „Stadtbild“-Aussage Menschen mit Migrationshintergrund. 
  • „Stadtbild“-Aussage: Einige wollen Friedrich Merz missverstehen
  • Ich jedenfalls fühlte mich trotz meiner türkischen Wurzeln nicht angesprochen
  • Merz hat sich mit der schwammigen Aussage keinen Gefallen getan
  • Angst im öffentlichen Raum? Für einige an der Tagesordnung
  • Cem Özdemir: Es braucht ein Umdenken in der Migrationspolitik
Die Empörung ist groß – in den sozialen wie in den klassischen Medien. Friedrich Merz stigmatisiere mit seiner „Stadtbild“-Aussage Menschen mit Migrationshintergrund. Der Bundeskanzler schüre Ressentiments, bediene die Klaviatur der AfD, die er doch zum größten Feind seiner CDU erklärt hat – nicht selten ist gar von Rassismus die Rede.
So jedenfalls klingt weitestgehend die Berichterstattung zum Thema, so beurteilen inzwischen einige Linguisten und Politikwissenschaftler die Aussagen des Kanzlers. Und ganz sicher empfinden einige Menschen im Land das auch so – sehr viele andere aber eben auch nicht.
„Stadtbild“-Aussage: Einige wollen Friedrich Merz missverstehen
Ich jedenfalls fühlte mich trotz meiner türkischen Wurzeln nicht angesprochen, als der Kanzler sagte, „aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Und ich fühlte mich auch nicht beleidigt, ausgegrenzt oder sonst wie erniedrigt, als Merz nachlegte und sagte, „fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte. Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort.“
Das sagt viel über die aufgeregte Debattenkultur in Deutschland aus – und den immer gleichen und ermüdenden Kampf um die Deutungshoheit. Rassismus-Keule und der Vorwurf des Links-Grün-Versifften liegen jederzeit bereit in der Schublade und kommen reflexartig zum Einsatz.
Merz hat sich mit der schwammigen Aussage keinen Gefallen getan
Dabei steht außer Frage, dass Merz mit seiner schwammigen und unpräzisen Aussage der Debatte, um die es im Kern eigentlich geht, keinen Gefallen getan hat. Ein Bundeskanzler sollte Ross und Reiter klar benennen, nicht herumdrucksen und Raum für Interpretationen lassen. Das ist des Amtes nicht würdig.

Nicht von ungefähr hat Merz daher nun seine Aussage konkretisiert und gesagt, es brauche auch in Zukunft Einwanderung und „wir können auf Menschen mit Migrationshintergrund gar nicht mehr verzichten.“ Zugleich sagte er, Probleme machten diejenigen, „die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, nicht arbeiten und sich auch nicht an unsere Regeln halten“. Viele von ihnen bestimmten das öffentliche Bild in den Städten. „Deshalb haben mittlerweile so viele Menschen in Deutschland und in anderen Ländern der Europäischen Union – das gilt nicht nur für Deutschland – einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.“

Angst im öffentlichen Raum? Für einige an der Tagesordnung

Dieses Unbehagen ist real. Es äußert sich etwa darin, dass ein junges Mädchen im Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf nur äußerst ungern alleine zum nahegelegenen Supermarkt geht. Zu oft hat der Teenager anzügliche Sprüche und unangenehme Situationen erlebt, wenn dort schon kleine Jungs und junge Männer mit Migrationshintergrund in großen Gruppen zusammenstehen und sich aufführen, als gehöre ihnen die Straße. Ein Einzelfall? Ein gesondertes Phänomen in einer Stadt, in der die AfD für westdeutsche Verhältnisse besonders stark ist? Oder sogar rassistisch? Sicher nicht.

„Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden.“ Sie rede nicht gern darüber, „weil sie nicht möchte, dass Rechtsradikale daraus Kapital schlagen“. Das hatte vor ziemlich genau einem Jahr Grünen-Spitzenpolitiker Cem Özdemir in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschrieben.

Und auch wie enttäuscht seine Tochter sei, dass nicht offensiver thematisiert werde, was dahinterstecke: „Die patriarchalen Strukturen und die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern.“

Cem Özdemir: Es braucht ein Umdenken in der Migrationspolitik

Özdemir forderte ein Umdenken in der deutschen Migrationspolitik, wobei reguläre und irreguläre Migration auseinandergehalten werden müssten. Die deutsche Asylpraxis habe sich im vergangenen Jahrzehnt „immer mehr zu einem Recht des Stärkeren entwickelt. Es kommen eben gerade nicht nur die Verletzlichsten und Schutzbedürftigsten aus den Krisengebieten der Welt, sondern in ganz überwiegender Zahl die Stärkeren, das heißt junge Männer.“ Diese Entwicklung höhle zunehmend die Akzeptanz für das Grundrecht auf Asyl aus und führe zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen.
 Friedrich Merz hat im Kern das Gleiche zum Ausdruck bringen wollen. Durch seine zum wiederholten Male unpräzisen und provokanten Formulierungen jedoch, trägt er entscheidend dazu bei, dass Deutschland wieder über Semantik und Wortwahl diskutiert, über Pauschalisierungen und Ausgrenzung. Wenn es am Ende nützt, die Probleme zu lösen, dann möge sich vorher eine Runde um die „richtige“ Wortwahl streiten, wer nichts Besseres zu tun hat.

Dabei ist die Empörung über Merz am Ende so hanebüchen wie vorhersehbar. Nicht nur in Gelsenkirchen, wo die AfD bei der Kommunalwahl vor einigen Wochen mit der SPD gleichgezogen ist und alle anderen Parteien hinter sich ließ, wissen die meisten Politiker aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie unwohl längst vielen Bürgerinnen und Bürgern in der Stadt ist – wie fremd sie sich fühlen in ihrer eigenen Heimat. Und das völlig unabhängig davon, ob sie Merve heißen oder Maria.

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