31 Oktober 2025

Der andere Blick - Die Wirtschaft befindet sich im Niedergang. Jeden Tag finden zwei Gruppenvergewaltigungen statt. Aber die Eliten spielen Kulturkampf. (NZZ)

Der andere Blick
Die Wirtschaft befindet sich im Niedergang. Jeden Tag finden zwei Gruppenvergewaltigungen statt. Aber die Eliten spielen Kulturkampf. (NZZ)
 von Eric Gujer 31.10.2025, 5 Min
Angeblich gibt es keine Probleme mehr, sondern nur noch Herausforderungen. Alles lässt sich lösen, lautet die Botschaft dieser sich wie die Beulenpest ausbreitenden Floskel. Doch bei Deutschland hilft kein Euphemismus mehr. Das Land steht vor Problemen, gewaltigen sogar.

Die wichtigste Branche, die Automobilindustrie, schrumpft markant.
50 000 Stellen gingen allein in einem Jahr verloren. Die hohen Energiekosten treiben die Chemie, ebenfalls eine Traditionsbranche, ausser Landes. Seit 2019 wächst die Wirtschaft nicht mehr.
Der Staat ist ein Sanierungsfall. Bundeswehr und Bahn – und damit die staatlichen Kernaufgaben Verteidigung und Infrastruktur – sind bis ins übernächste Jahrzehnt Grossbaustellen. Hierfür ist inzwischen reichlich Geld vorhanden, zugleich herrscht rasender Stillstand. Diverse Beschaffungsvorhaben der Streitkräfte kommen genauso schleppend voran wie die Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Genügend Stoff für kontroverse Debatten, sollte man meinen. Doch Deutschland stürzt sich mit Inbrunst in einen absurden Kulturkampf. Die «Talking Classes», also Politiker, Journalisten und Heerscharen überflüssiger «Experten», sezieren seit zwei Wochen eine harmlose Äusserung von Friedrich Merz.
Ein Kanzlerwort erregt Empörung, eine Vergewaltigung nicht
Wie im Frühjahr protestieren Tausende gegen den Kanzler und seine Partei. Die Grünen und die Linkspartei sind ohnehin empört und verlangen eine Entschuldigung, aber auch die Fraktionsführung des Koalitionspartners SPD reiht sich in die Demonstrationen ein.

Warum das ganze Tollhaus? Merz äussert keine Zweifel am Klimawandel, er bezeichnet Hitler nicht als Vorbild, und er rüttelt an keinem anderen Tabu, dessen Verletzung die Exkommunikation nach sich zieht.


Der Kanzler machte nur eine kurze Bemerkung zum «Stadtbild». Obwohl er sich zunächst weigerte, diese zu präzisieren, war allen sofort klar, was er meint. Dazu muss man abends nur einen Bahnhof besuchen, und das nicht nur in einer Grossstadt wie Hannover, sondern auch in Kleinstädten. Man wähnt sich manchmal eher in Tunis, Kabul oder Damaskus: viele junge Männer, die überall auf der Welt einen Risikofaktor darstellen.

Merz ist deswegen kein Rassist, er grenzt nicht aus, und er spaltet auch nicht die Gesellschaft. Er weist damit nur verklausuliert darauf hin, dass Ausländer und besonders Asylsuchende in der Kriminalstatistik übervertreten sind, besonders bei Straftaten wie Raub, Gewalt und Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Das verknüpft er mit der alles andere als radikalen Forderung, solche Straftäter konsequent auszuschaffen.


Während der Kanzler die Gemüter in Wallung bringt, ereignete sich in Heinsberg eine Gruppenvergewaltigung. Fünf Syrer machten sich ihr minderjähriges, ebenfalls ausländisches Opfer mit einem Taser gefügig. Im Gegensatz zum Kanzlerwort findet die Tat kaum Aufmerksamkeit.

Niemand demonstriert auf den Strassen, niemand unterschreibt eine Petition. Weder die Grünen noch die Linken sind aufgebracht, nicht einmal die Unionsparteien. Warum auch? Jeden Tag kommt es in Deutschland zu zwei Gruppenvergewaltigungen. Das Land hat sich daran gewöhnt und die Entrüstung an die AfD delegiert.

Die unterschiedlichen Reaktionen im Stadtbild-Streit lassen sich auf zwei Arten interpretieren. Die Opposition schlachtet ein kontroverses Thema genüsslich aus, betreibt also ihr Kerngeschäft. Sie bringt die ohnehin taumelnde schwarz-rote Koalition in Bedrängnis, weil die Regierungsparteien in Migrationsfragen uneins sind.

Die SPD folgt dem Kurs des Kanzlers nur zähneknirschend, weshalb Nebensächlichkeiten unvermittelt eskalieren. Es handelt sich um klassische «Politique politicienne», um die Selbstbeschäftigung der politischen Eliten, also um das übliche Parteiengezänk.

Zwei Drittel der Bürger stimmen der Aussage des Kanzlers zu. Die Vorwürfe des Rassismus und der Ausgrenzung scheinen sie nicht sonderlich zu interessieren. Es ist daher nur eine kleine Minderheit, die laut und unter Zuhilfenahme dankbarer Medien eine Anti-Merz-Stimmung zu schüren versucht.

Dieselbe Minderheit hat auch die «Brandmauer» zu einem Popanz aufgeblasen. Sie kann damit die Union unter Druck setzen.

Die andere Erklärung geht tiefer. Deutschland hat in anderthalb Jahrzehnten einer beispiellosen Hochkonjunktur verlernt, sich seinen Problemen zu stellen. Mit Unsummen von Geld wurden alle Streitfragen zugeschüttet, bis hin zu den Beihilfen für Unternehmen in der Pandemie und den Energiesubventionen seit Kriegsbeginn. Der Status quo und die trügerische Ruhe eines konformistischen Konsenses sollten konserviert werden.

Die etablierten Parteien leisteten deshalb einem Klima Vorschub, in dem unorthodoxe Ansichten geahndet werden. Besonders deutlich war das in der Pandemie.Missliebige Fakten wurden kurzerhand zu Verschwörungstheorien erklärt. Gegner der militärischen Unterstützung Kiews werden – zumindest wenn sie der AfD angehören – rasch als Vaterlandsverräter abgestempelt. Die Putin-Freunde und Ukraine-Verächter liegen falsch, und doch sollte man den Diskurs nicht verweigern. Wer die AfD verteufelt, darf sich nicht wundern, wenn sich diese wie der Leibhaftige aufführt.


Der Ökonom sieht Deutschland im «wirtschaftlichen Niedergang»

Das Land verdrängt kollektiv sein Malaise, denn weder die Krise der Automobilbranche noch jene der Chemieindustrie sind neueren Datums. Seit langem ist die Zahl der in der Bundesrepublik gefertigten Personenfahrzeuge rückläufig.

Der Standort Deutschland ist ein Verlustgeschäft. Nur das Engagement im Ausland, die effizienten Fabriken dort wie die Märkte, polierte die Bilanzen der deutschen Konzerne auf – bis jetzt.

Inzwischen funktioniert auch dieses Modell nur noch eingeschränkt. Die Geopolitik funkt dazwischen. Die Regierung hat wie ihre Vorgängerinnen dagegen weder Rezepte noch konkrete Massnahmen. Inzwischen sind die Wirtschaftsverbände mit Merz so unzufrieden wie zuvor mit Olaf Scholz. Nur die weltanschauliche Nähe zum Amtsinhaber dämpft den Zorn.

Was aber ist die Folge der kollektiven Verdrängung? Das ganze Land spürt den Abstieg, Unternehmer ebenso wie AfD-Anhänger. Jeder weiss, dass Wandel unabdingbar ist, und fast jeder fürchtet ihn.

Es fehlt ein Konsens über die Probleme genauso wie eine Regierung, die den gordischen Knoten durchtrennen könnte. So bleibt alles beim Alten.

Die Wähler flüchten sich in Frust und Trotz. Harald Martenstein beschreibt die Stimmung in der «Welt» so: «Die meisten, die ich kenne, wollen nur noch, dass sich endlich etwas ändert. Die AfD ist ihnen egal, Friedrich Merz ist ihnen egal, sein Stadtbild-Zitat, alles egal. Sie wollen nur wieder eine Hoffnung auf Zukunft, egal, wer es schafft, er ist willkommen, und seien es die Wildecker Herzbuam oder die Zeugen Jehovas.»

Deutschland steckt wie Frankreich oder Grossbritannien in der Falle saturierter Wohlfahrtsstaaten. Jede Reform produziert so viele Verlierer, dass zwar alle nach einem Aufbruch rufen, aber keiner ihn wirklich will. Der Ökonom Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts, nennt die Situation «dramatisch» und sieht Deutschland im «wirtschaftlichen Niedergang».

Fuest fordert einschneidende Reformen. Aber auch er weiss, dass diese sehr unwahrscheinlich sind. Die Deutschen wollen Hoffnung auf Zukunft, aber die Unbeweglichkeit der ganzen Gesellschaft (und nicht nur einzelner Parteien oder Politiker) verhindert das.

In dieser Lage bedeutet ein zünftiger Kulturkrieg die Flucht in eine Scheinwelt mit vermeintlichen Gewissheiten: progressive Humanisten gegen finstere Reaktionäre oder umgekehrt: rationale Realisten gegen gefühlige Gutmenschen. Schwarz und Weiss, wo sonst tristes Grau herrscht. Dieser Eskapismus verschlimmert die Selbstblockade nur.

Ein Ausweg existiert nicht. Die Sozialdemokraten leiden an der Koalition, aber Neuwahlen würden nur ihre Situation verschlimmern. Also bleiben sie und bremsen.

Die Union sitzt genauso in der Tinte. Eine Koalition mit der AfD würde zwar einige Probleme lösen, aber viele neue schaffen. Ein Seitenwechsel wäre ein Himmelfahrtskommando und ist machtpolitisch doch die einzige plausible Option.

Keiner der Akteure hat die leiseste Ahnung, wie Deutschland aus diesem Schlamassel herausfindet. Selbst der Kanzler pfeift im Wald, wenn er so tut, als habe er eine Strategie.

Das ist das eigentlich Beängstigende an der Lage. Alle vermeintlichen Notausgänge scheinen sich sofort als Sackgassen zu entpuppen.

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