26 Oktober 2025

Vom Rechts- zum Einschüchterungsstaat - Das Recht als Waffe (Cicero)

Vom Rechts- zum Einschüchterungsstaat
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Das Recht als Waffe (Cicero)
Der Rahmen des Sagbaren hat sich peu à peu verkleinert. Gegen die Meinungsfreiheit tritt eine Methode an: Bestrafe einen, erziehe hundert. So macht man aus einem Rechtsstaat einen Einschüchterungsstaat.
VON VOLKER BOEHME-NESSLER am 23. Oktober 2025 18 min
Gemeindeordnung – was ist das? Klingt nicht so spannend, und nur wenige Experten und Kommunalpolitiker wissen es. Das änderte sich schlagartig im August dieses Jahres. Der Wahlausschuss der Stadt Ludwigshafen schloss den AfD-Kandidaten im Vorfeld von der Oberbürgermeisterwahl aus. Die Begründung: An der Verfassungstreue des Bewerbers bestünden Zweifel – und deshalb erlaube die Gemeindeordnung keine Kandidatur. Eine unscheinbare, versteckte kommunalrechtliche Norm beeinflusst entscheidend eine demokratische Wahl? Kann das sein, oder wird hier das Recht als Waffe in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt?
Schaut man sich die vergangenen Jahre an, stellt man fest, dass Recht immer öfter als (politisches) Instrument eingesetzt wird. 
Niemand weiß, wer das Recht wirklich erfunden hat. Aber es hat über die Jahrtausende seinen Siegeszug geführt. Das hat natürlich Gründe. Größere Gruppen und Gesellschaften funktionieren nicht ohne eine Ordnung, auf die man sich verlassen kann. Das gilt besonders für hochkomplexe moderne Gesellschaften. Rote Ampeln heißen: Stopp; grüne Ampeln: Go. Und: Wer einen Vertrag abschließt, weiß, was ihn erwartet. Dass man sich darauf (fast) immer verlassen kann, liegt am Recht und erleichtert das Zusammenleben enorm. Verlässlichkeit und Ordnung – so verhindert das Recht Konflikte oder löst sie (einigermaßen) friedlich auf. Recht und Gesetz befrieden eine Gesellschaft und verhindern Chaos und Gewalt.
Wie alles im Leben hat das Recht zwei Seiten. Es kann ein starker Schutz gegen Macht und Willkür sein. Wenn es kein Recht gibt, gilt das Recht des Stärkeren. Die Idee des Rechts ist der Gegenentwurf zum Recht des Stärkeren. Das ist die Grundlage des Rechtsstaats, des Verfassungsstaats. Recht und Gesetze haben aber auch eine dunkle Seite. Sie können als Waffe missbraucht werden. Dann sind sie überaus effektive Instrumente der willkürlichen Machtausübung.
Die Verfassung ist kein SelbstläuferSchon immer setzen Machthaber das Recht ein, um renitente Untertanen zu knechten oder selbstbewusste Bürger zu unterdrücken. Die Rechtsgeschichte ist auch eine Geschichte der Unterdrückung. Sie wimmelt von Unrechtsgesetzen. Die Nürnberger Gesetze der Nationalsozialisten von 1935 sind ein besonders böses Beispiel dafür.

Mit den Mitteln und Techniken des Rechts machten sie die Juden zu Menschen zweiter Klasse – und ebneten damit den Weg zum Holocaust. 

Der demokratische Verfassungsstaat, wie ihn sich das Grundgesetz vorstellt, ist ein radikaler Bruch mit solchen Unrechtsgesetzen, die als gefährliche Waffe der Machthaber gegen die eigenen Bürger eingesetzt werden. Zum Verfassungsstaat gehören Grundrechte und Menschenrechte, die Schutz vor dem übergriffigen Staat bieten (sollen). Das Grundgesetz hat sogar ein Gericht eingesetzt, dessen einzige Aufgabe es ist, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen. Karlsruhe sieht sich selbst als „Hüter der Verfassung“. Die Grundidee des Verfassungsstaats ist: Das Recht darf nie mehr als Machtinstrument des Staates gegen seine Bürger eingesetzt werden. Das ist eine Lehre der deutschen Verfassung aus der Geschichte des NationalsozialismusDie Krux einer Verfassung ist: Sie ist kein Selbstläufer. Sie wirkt nur, wenn sie von allen akzeptiert wird. Alle, Staat und Bürger, müssen sie als entscheidende Grundlage des öffentlichen Miteinanders respektieren und entsprechend handeln. Staatliche Institutionen müssen sorgfältig die Grenzen beachten, die ihr von der Verfassung gezogen werden. Und die Bürger müssen mutig die Grundrechte in Anspruch nehmen – und sie auch verteidigen, wenn es nötig ist. Sonst ist das Grundgesetz keine freiheitliche Verfassung, sondern nur totes Papier.

Natürlich sind Verfassungen immer gefährdet. Es gibt jederzeit gesellschaftliche und politische Kräfte, die eine Verfassung in ihrem Interesse instrumentalisieren oder verändern wollen. Verfassungen werden selten oder nie vollständig abgeschafft. Das müsste schon ein Staatsstreich oder ein Militärputsch sein. Gefährlich für eine Verfassung sind die kleinen, (partei)politisch motivierten und mitunter sehr versteckten Änderungen oder neuen Auslegungen, die sich auf Dauer summieren. Es kann ein kleiner Dreh sein, der ein Grundrecht faktisch ins Leere laufen lässt. Verfassungen sterben – um ein Wort des FDP-Politikers Guido Westerwelle abzuwandeln – zentimeterweise. Man muss deshalb genau hinschauen und auch auf die kleinen, versteckten, manchmal bösartigen Geschehnisse achten, um Gefahren für die Verfassung zu erkennen. Wenn man das tut, gibt es in den vergangenen Jahren viel Grund zur Besorgnis.

Demokratie lebt durch Meinungsfreiheit

Im November 2024 muss ein Rentner in Bayern eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen. Was wird ihm vorgeworfen? Er hatte im Frühjahr ein Meme geteilt, das den damaligen Bundeswirtschaftsminister Habeck zu einer Anzeige veranlasst hat. Das Meme ist einer Shampoo-Werbung nachempfunden. Im Stil eines schwarzen Scherenschnitts ist das Profil des Wirtschaftsministers zu sehen, darunter der Slogan: „Schwachkopf Professional“. Bei der Hausdurchsuchung wird ein Tablet beschlagnahmt; das Ermittlungsverfahren wird später eingestellt. Das ist der bekannteste Fall, allerdings lange kein Einzelfall.

Was passiert hier? Ein Bundesminister stellt Strafantrag wegen einer Lappalie. Manche Spitzenpolitiker kommen in ähnlich gelagerten Fällen auf bis zu 1000 Strafanträge. Mächtige Vertreter des Staates setzen die mächtige staatliche Institution Justiz in Bewegung, um kritische Bürger unter Druck zu setzen. Die Justiz spielt mit und führt eine Hausdurchsuchung durch, die völlig unverhältnismäßig ist. Das ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie der Staat das Recht als Waffe einsetzt. 

Um es klar zu sagen: Es ist in einer Demokratie unerträglich, wenn kritische Bemerkungen zu Strafanträgen und Hausdurchsuchungen führen. Kritik, auch harte und polemische Kritik, ist in einer funktionierenden Demokratie normal. Die Wirkung dieser Hausdurchsuchung reicht weit über den einzelnen Fall hinaus. Sie schüchtert zahllose Bürger ein, die in Zukunft zögern werden, ihre kritische Meinung zu äußern. Im klassischen chinesischen Rechtsdenken heißt das: „Bestrafe einen, erziehe hundert.“ Für die Demokratie, die von offenen und kritischen Meinungsäußerungen lebt, ist das fatal. Sie braucht kritische Bürger mit Zivilcourage, keine eingeschüchterten Untertanen.

In anderen Fällen wurden wegen ähnlicher Meinungsäußerungen drakonische Strafen verhängt. Bekannt geworden ist der Fall des rechten Publizisten David Bendels, der für ein kritisches Meme eine mehrmonatige Bewährungsstrafe kassierte. Ein Foto der damaligen Innenministerin Nancy Faeser mit dem fiktiven Spruch: „Ich hasse die Meinungsfreiheit“ wertet das Gericht als Politikerbeleidigung. Das ist erstaunlich. Es ist juristisch schwierig, dieses Meme nicht als straffreie Satire anzusehen. Solche Fälle verstärken natürlich den Einschüchterungseffekt noch weiter. Und die Einschüchterung – der chilling effect – funktioniert. Nach neueren Umfragen hat knapp die Hälfte der Bürger Bedenken, ihre Meinung frei zu äußern. Für eine Demokratie ist das ein katastrophaler Wert. Man kann es nicht schönreden: Hier wird das Recht als Waffe gegen Bürger eingesetzt, die ihre Grundrechte wahrnehmen. 

Die Politik geht den harten, undemokratischen Weg unverdrossen weiter. Sie etabliert und finanziert sogenannte „Meldestellen“ gegen Hass und Hetze. Diese sollen es Bürgern leicht machen, schnell und unkompliziert (oft nur angebliche und mutmaßliche) Verstöße gegen Gesetze und Regeln zu melden. Ausdrücklich geht es dabei auch um Inhalte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Das ist verfassungswidrig. Denn die Verfassung ist ganz klar: Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt.

Es wäre eine bodenlos naive und völlig ahistorische Sichtweise, die Meldestellen als harmloses, aber wichtiges Mittel im Kampf braver Staatsbürger für einen guten Zweck anzusehen. Meldestellen sind Instrumente, die Denunziationen erleichtern – und sie dadurch auch hervorrufen. Eine von Misstrauen und Einschüchterung geprägte Denunziantenkultur ist Gift für eine Demokratie, die vom Engagement kritischer Bürger lebt. Die politische Mode des Meldewesens, die wir gerade in Deutschland (und der EU) beobachten, muss schleunigst beendet werden. Denn sie richtet großes Unheil an.

AfD-Verbot und ein Ausschluss per Gemeindeordnung

Auf Einschüchterung durch Rechtsmissbrauch setzt man auch beim Umgang mit der AfD. Die Unzufriedenheit der Bürger mit den Regierungsparteien wächst. Sie wünschen sich eine andere Politik, die andere Prioritäten setzt. Das wird von der Mehrheit der Politiker allerdings weitgehend ignoriert. Jetzt passiert das, was in Demokratien in solchen Fällen passiert: Die Bürger suchen sich eine andere Partei, die verspricht, ihre Ängste und Interessen ernst zu nehmen und eine andere Politik zu betreiben. In einer Demokratie ist das ein völlig normaler Vorgang.

Wir leben in einer Parteiendemokratie. Die Demokratievorstellung des Grundgesetzes ist: Alle Parteien liefern sich einen fairen und gleichberechtigten Wettkampf auf der politischen Bühne um die Zustimmung der Wähler. Sie stellen ihre politischen Argumente, Ideen, Konzepte und Kandidaten vor. Am Ende entscheiden die Wähler. 

In der Auseinandersetzung mit der AfD ignorieren die anderen Parteien diese Vorgabe des Grundgesetzes vollständig. Sobald die AfD wieder an Zuspruch gewinnt, wird ein Parteiverbot ins Spiel gebracht. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben es allerdings erst nach längeren Diskussionen und mit großen Bauchschmerzen in die Verfassung aufgenommen. Sie hatten noch in schlechter Erinnerung, dass die Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung alle Parteien außer der NSDAP verboten hatten. Ein Parteiverbot ist im Kern undemokratisch, denn es setzt den politischen Wettbewerb der Parteien – ein Kernstück der Demokratie – außer Kraft. Deshalb sieht das Grundgesetz es nur als allerletztes Mittel vor. 

Die rechtlichen Hürden für ein Verbot sind äußerst hoch. Trotzdem: Immer wieder bringen Parteipolitiker ein AfD-Verbot ins Spiel. Weil man politisch nicht weiterweiß, will man zu rechtlichen Mitteln greifen. Dass dabei das Verfassungsrecht verbogen werden müsste, ist egal. Um die politische Konkurrenz auszuschalten, will man das Recht als Waffe einsetzen. In aller Klarheit: Das ist ein Missbrauch des Verfassungsrechts. Auch wenn ein Verbotsverfahren – wie alle wissen – wenig Erfolg verspricht, wird damit gedroht. Vielleicht lassen sich damit ja die Wähler der AfD einschüchtern: Das ist das perfide Kalkül der Verbotsbefürworter. Gleichzeitig versuchen sie, ein „Parteiverbot light“ durchzusetzen, indem sie AfD-Mitglieder über das Verwaltungsrecht unter Druck setzen. Dabei geht es etwa darum, AfD-Mitglieder aus dem Beamtenstatus zu entfernen oder ihnen – wegen angeblicher Unzuverlässigkeit – den Waffenschein wegzunehmen. Das ist alles offensichtlich rechtswidrig. An die Mitgliedschaft einer rechten Partei, die nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten ist, lassen sich keine rechtlichen Nachteile knüpfen. Trotzdem wird das immer wieder versucht. Das ist ein klassisches Beispiel für den Einsatz des Rechts als Waffe gegen politische Konkurrenz.

Die bereits erwähnte Gemeindeordnung von Rheinland-Pfalz ist ein unscheinbares Gesetz, aber als politische Waffe lässt es sich auch missbrauchen. Das konnte man im vergangenen September bei der Oberbürgermeisterwahl in Ludwigshafen wie unter einem Brennglas beobachten. Nach einem perfiden Zusammenspiel hinter den Kulissen zwischen einer grünen NGO, der noch amtierenden Oberbürgermeisterin, dem rheinland-pfälzischen Innenministerium und dem Verfassungsschutz schloss der Wahlausschuss den Bewerber der AfD von der Wahl aus. Seine Begründung: Es gebe Zweifel an der Verfassungstreue des Kandidaten. 

Das Material, das der Verfassungsschutz zusammengestellt hatte, war allerdings hanebüchen; darauf Zweifel an der Verfassungstreue zu stützen, völlig indiskutabel und erkennbar politisch motiviert. Und der Paragraf der Gemeindeordnung, auf den der Wahlausschuss sich gestützt hatte, wurde offensichtlich verfassungswidrig ausgelegt und angewendet. 

Alle Wahlen in Deutschland müssen demokratisch sein. Das sagt das Grundgesetz ganz klar. Und vor einer Wahl einen Kandidaten aus politisch-inhaltlichen Gründen auszuschließen, ist undemokratisch. Das war ein plumpes, aber dadurch sehr deutlich sichtbares Beispiel für den Einsatz des Rechts als Waffe. Die Quittung kam am Wahltag. Eine extrem niedrige Wahlbeteiligung von 29,3 Prozent und mit 9,2 Prozent eine ungewöhnlich hohe Quote von ungültigen Stimmen im ersten Wahlgang zeigen den Unmut der Bürger. Die beteiligten Politiker lernen daraus nichts. Wahrscheinlich feiern die trickreichen Hinterzimmerstrategen aus Rheinland- Pfalz das als Erfolg. Dass sie damit die Demokratie beschädigen, kümmert sie nicht. 

Kampfparolen sind keine Rechtsbegriffe

In der Medizin kennt man sogenannte Adjuvantien: Mittel, die einem Medikament beigegeben werden, um dessen Wirkung zu verstärken. Solche Wirkungsverstärker gibt es auch, wenn der Staat das Recht als Waffe gegen Bürger einsetzt. In den vergangenen Jahren sind völlig unscharfe, diffuse Begriffe in der öffentlichen Diskussion immer wichtiger geworden. Es geht um „Fake News“, „Desinformation“, „Hass und Hetze“ oder „Delegitimation des Staates“. Das sind jedoch keine Rechtsbegriffe, die verbindliche Wirkung hätten, gleichwohl werden sie in der öffentlichen Diskussion oft so behandelt. Immer wieder wird verbreitet, dass Fake News, Desinformation, Hass und Hetze oder Delegitimation des Staates verboten seien. Vor allem die ehemaligen Bundesministerinnen Nancy Faeser (SPD) und Lisa Paus (Grüne) wurden nicht müde, immer wieder zu betonen, dass „Hass und Hetze“ bekämpft werden müssten. Auch der Verfassungsschutz hat „Hass und Hetze“ ebenso auf dem Schirm wie die „Delegitimation des Staates“. 

Ein genauerer Blick zeigt, wie perfide diese Methode ist – und wie sie die Einschüchterung der Bürger erreicht. Was sind eigentlich Fake News und Desinformation? Bösartige Manipulationsversuche durch gezielte Falschmeldungen oder auch einfaches, nicht durchdachtes Weitergeben von Inhalten, die man irgendwo aufgeschnappt hat? Weil die Begriffe so diffus sind, weiß man das nicht. Und was auch verschwiegen wird: Fake News verbreiten und Desinformation fördern ist in Deutschland grundsätzlich nicht strafbar. Aber das wird von manchen politischen Akteuren bewusst verschleiert. Und Hass und Hetze oder Delegitimation des Staates sind im Großen und Ganzen von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Das Bundesverfassungsgericht bringt es in seinem grundlegenden „Wunsiedel-Urteil“ auf den Punkt: Meinungsäußerungen „genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art.5 Absatz 1GG heraus.“ Das ist etwas ganz anderes als der enge Meinungskorridor des Sagbaren, den Teile der Politik und der öffentlichen Meinung durchsetzen wollen. 

Was passiert hier? Man lässt die Bürger im Unklaren darüber, was mit diesen Begriffen im Einzelnen gemeint ist. Gleichzeitig wird aber – wahrheitswidrig – suggeriert, dass das verboten sei. Diese perfide Mischung aus begrifflicher Unschärfe und subtiler Drohung schüchtert ein und macht unfrei. Genau das will der Rechtsstaat vermeiden. Deshalb kennt der Rechtsstaat das Bestimmtheitsgebot: Der Bürger muss jederzeit klar und eindeutig erkennen können, was der Staat von ihm will. Und was nicht verboten ist, ist erlaubt. Auf diese Weise wird die Freiheit der Bürger geschützt. Diese rechtsstaatlichen Grundsätze tritt die Politik der unklaren Begriffe und der subtilen Drohungen mit Füßen. Das ist eine besonders perfide Art, das Recht als Waffe gegen die Bürger einzusetzen. 

Recht, Moralisierung und Makel der Unmoral

Verstärkt wird die Wirkung noch durch eine politisch missbrauchte Moralisierung. Seit einigen Jahren ist die Moral wieder zurück in der Politik und in der öffentlichen Debatte. Politische Forderungen werden nicht mehr (nur) politisch, sondern moralisch begründet. Vor allem in der Diskussion um den Klimaschutz lässt sich das immer wieder beobachten.

Wer genau hinschaut, findet aber in immer mehr Debatten moralische Argumente, die den Sachargumenten entgegengestellt werden. Das ist ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist. Ein Grund dafür: Moral liefert immer die stärkeren Argumente. In einer moralisch unterfütterten Politik geht es nicht um vernünftig oder unvernünftig, mehrheitlich gewollt oder nicht. Es geht um gut oder böse, wahr oder falsch. Das verleiht Argumenten eine ganz andere Durchschlagskraft.

Für das Recht hat die Moralisierung eine äußerst problematische Folge: Wer – tatsächlich oder angeblich – gegen eine Rechtsnorm verstößt, muss nicht nur mit Bußgeld oder Strafe rechnen, er wird moralisch abgewertet und als unmoralisch markiert. Wenn man genauer hinschaut, gibt es eine Fülle von Beispielen. Wer während der Corona-Pandemie zu bestimmten Zeiten keine Maske trug, verstieß gegen eine rechtliche Vorschrift und musste mit einem Bußgeld rechnen. Schlimmer war aber noch: Er wurde als unsolidarisch und asozial beschimpft, weil er – angeblich – seine Mitmenschen gefährde. Skeptische Kritiker der aktuellen Klimapolitik werden ganz schnell als „Klimaleugner“ gebrandmarkt und aus dem Diskurs ausgeschlossen. 

Stigmatisierung und Ausgrenzung kennen auch die Gegner der Politik der weitgehend unbegrenzten Einwanderung. Ehe sie sich versehen, werden sie zu „Ausländerfeinden“ oder sogar „Nazis“ gemacht. Staatliches Recht will grundsätzlich nur das äußere Verhalten beeinflussen. Die Gedanken und Gefühle sind weiterhin frei. Moral dagegen zielt auf die inneren Einstellungen und Gesinnungen. Sie will Gedanken und Gefühle in den Griff nehmen. Das ist – jedenfalls potenziell – totalitär. Vor diesem Hintergrund wird klar: Wird das Recht moralisch aufgeladen, wird es zur noch schärferen Waffe gegen kritische Bürger – und bedroht die Freiheit. 

Politische Ambitionen haben keinen Platz auf der Richterbank

Man darf sich keinen Illusionen hingeben: Gesetze wirken nur, wenn sie durch eine wirklich unabhängige Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden (können). Erst im Schatten der Gerichte entfaltet das Recht seine volle Wirkung. Das Grundgesetz garantiert den Richtern ihre Unabhängigkeit. Nichts und niemand darf ihnen Weisungen erteilen. Das gilt nicht nur für Politik und Verwaltung. Auch privater oder gesellschaftlicher Druck ist unzulässig. 

Diese äußere Unabhängigkeit reicht aber nicht. Richterinnen und Richter müssen auch innerlich unabhängig sein. Ihre Rolle erfüllen sie gut, wenn sie Rechtsfragen entscheiden, ohne sich ablenken zu lassen. Ihr einziger Maßstab dafür sind Recht und Gesetz. Während sie Recht sprechen, dürfen sie keine politischen Hintergedanken haben. Wirklich unabhängige Richter haben keinen politischen Ehrgeiz und sind keine Aktivisten. Der Blick auf die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren gibt Anlass zur Sorge, ob das weiterhin der Common Sense in der Richterschaft ist. Der umstrittene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz von 2021 ist eher ein abschreckendes Beispiel für richterlichen (Klima-)Aktivismus als für die von der Verfassung geforderte richterliche Zurückhaltung, den judicial self-restraint, wie es im US-amerikanischen Recht heißt.

Ähnliches gilt sicher auch für manche Urteile von Verwaltungsgerichten etwa im Bereich des Migrationsrechts oder in Fragen, die die AfD betreffen. Der jüngste Streit um die Besetzung offener Richterstellen am Bundesverfassungsgericht zeigt, wo ein Kern des Problems liegt: Man muss echte Richterpersönlichkeiten zu Richtern machen, keine hochpolitischen, aktivistisch ambitionierten Personen. Selbstverständlich ist es völlig legitim, ausgeprägte politische Ansichten zu haben und sie in der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. Von engagierten Bürgern, die sich einmischen, lebt der demokratische Diskurs. Aber wer politisch ambitioniert ist, kann in die Politik oder in den Journalismus gehen. Auf einer Richterbank ist er falsch. Die Loyalität eines Richters oder einer Richterin darf allein dem Recht und dem Gesetz gelten, nicht einer Partei, einer politischen Idee, der Regierung, oder der öffentlichen Meinung und dem Zeitgeist. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass Gerichte die Politik dabei unterstützen, das Recht als Waffe einzusetzen.

Freiheit stirbt zentimeterweise

Recht als Waffe im politischen Kampf, das ist ein eklatanter Missbrauch des Rechts. Die Verfassung kennt kein politisiertes Recht. Der Rechtsstaat bindet Verwaltung und Politik an die rechtlichen Regeln. Das nennen Verfassungsjuristen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Im Rechtsstaat gilt auch ein striktes Willkürverbot. Gegen beide Grundsätze verstößt es offensichtlich, Rechtsnormen politisch, also willkürlich auszulegen und sie in eine politische Richtung zu verbiegen. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es prägnant und eindrucksvoll in Artikel 3 des Grundgesetzes. Politik darf bei der Anwendung des Rechts also keine Rolle spielen. Da ist das Grundgesetz völlig klar. 

Wer das Recht als politische Waffe einsetzt, missachtet den Rechtsstaat – und missbraucht das Recht. Mit Folgen: Das Recht kann dann seine wichtigste Aufgabe nicht mehr erfüllen – zum Zusammenhalt der Gesellschaft beizutragen und sie zu befrieden. Wenn die Politik das Recht politisiert, spaltet sie die Gesellschaft, beschädigt das Vertrauen der Bürger und trägt aktiv zur Verrohung im Alltag bei. Das ist ein schlimmer Rückfall in die Zeit des Machtstaats, in dem nur das Recht des Stärkeren gilt. Und schlimmer noch: Das schädigt nicht nur den Rechtsstaat, sondern auch die Demokratie. Denn die ist existenziell auf Vertrauen und Kooperation angewiesen.

Rechtsstaat und Demokratie sterben nicht mit einem Knall, den jeder hört. Sie sterben – wie die Freiheit – zentimeterweise und lange Zeit unbemerkt. Irgendwann ist es dann zu spät. Wachsamkeit ist deshalb nötig. Nicht alles, was parteipolitisch wünschenswert sein mag, ist (verfassungs)rechtlich erlaubt. Der Respekt der Politik vor der Verfassung und dem Gesetz geht zunehmend verloren. Das muss sich ändern. Sonst wird der freiheitliche Verfassungsstaat zum repressiven Einschüchterungsstaat.

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