16 Oktober 2025

Forscher verzweifelt - Ein Sozialstaat, der Verrückte macht (Cicero)

Forscher verzweifelt
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Ein Sozialstaat, der Verrückte macht (Cicero)
Unglaublich, aber wahr: Ökonomen wollten die Wirkung des Sozialstaats in Deutschland erforschen. Doch die schiere Masse an Sozialleistungen hat sie überfordert. Ihnen blieb nur, die Zahl der Hilfen zu zählen. Und selbst das gelang nicht vollständig.
VON CARSTEN KORFMACHER am 15. Oktober 2025 7 min
Manchmal gibt es Geschichten, die sind so bizarr, aber auch so exemplarisch, dass man kaum glauben kann, dass sie wahr sind. In dieser Woche erschien eine Studie des Müncher Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Und diese Studie erzählt genau eine solche Geschichte. Fangen wir von vorne an: Mittlerweile herrscht in der deutschen Politik ja einigermaßen Einigkeit darüber, dass das friedliche Zusammenleben in der Bundesrepublik nur noch über tiefgreifende Strukturreformen sichergestellt werden kann. Die Kosten für Verteidigung, Schuldzinsen und den infrastrukturellen Wiederaufbau des Landes explodieren, ebenso wie die allein schon demografisch bedingt steigenden Ausgaben für das Sozialsystem. 
Die Lage ist ernst, so viel ist klar. Denn unter den derzeitigen Bedingungen ist der Sozialstaat mittelfristig nicht mehr bezahlbar – und das stellt ein Destabilisierungsrisiko für das gesamtgesellschaftliche Gefüge dar. Also, was braucht es, um Reformen anzugehen? Es braucht neben Erkenntnissen auch Einigungen, Kompromisse und Ergebnisse. Diese können nur auf der Basis guter Daten gefunden werden. Die Erstellung einer solchen Datengrundlage hat sich jüngst ein Team von vier Ökonomen des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung zur Aufgabe gemacht – und ist, kein Scherz, an der schieren Masse der Sozialleistungen in Deutschland gescheitert.
Es gibt mehr als 500 Sozialleistungen
„Ursprünglich wollten wir Ausmaß und Wirkung aller Sozialleistungen berechnen“, sagt Andreas Peichl, Leiter des Zentrums für Makroökonomik und Befragungen am Ifo-Institut. Doch die „Vielzahl an Vorschriften und Leistungen ließ diese Aufgabe beinahe unlösbar erscheinen“. Daher sind die Wirtschaftsforscher umgeschwenkt und haben sich stattdessen darauf beschränkt, eine Liste aller Sozialleistungen in Deutschland zu erstellen. Das Ergebnis: Es gibt 502 verschiedene Sozialleistungen, die in 3246 verschiedenen Paragraphen geregelt werden.Doch das ist nicht das ganze Ausmaß des Schreckens. Denn erstens handelt es sich bei den aufgeführten Sozialleistungen nur um jene, die auf Bundesebene geregelt werden. Tatsächlich fallen aber viele Sozialhilfen unter das Recht der Länder oder Kommunen. Dazu zählen beispielsweise Härtefallfonds, Sozialmietförderung, Landespflegegelder, Landeserziehungsgelder oder kommunale Vergünstigen für sozial schwache Haushalte, wie vergünstigte ÖPNV-Tickets oder kostenfreie Eintrittskarten für Kinos, Schwimmbäder, Theater.

Der Sozialstaat als Raubtier

Und zweitens erheben die Autoren keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es könne „nicht gewährleistet werden, dass diese Liste abschließend und vollständig ist“, heißt es in der Studie, trotz der Nutzung von Künstlicher Intelligenz. Es sei durchaus möglich, dass bestimmte Leistungen übersehen wurden. Andere Forscher seien daher eingeladen, potenzielle Ergänzungen mitzuteilen, um die Qualität der Informationen zu verbessern.

Man muss sich einmal vor Augen halten, was das eigentlich bedeutet. Hauptgrund für den Ausbau des Sozialstaats war, dass er einen, wie viele eher links orientierte Mitbürger glauben, „zügellosen, gierigen Raubtier-Kapitalismus“ domestizieren sollte. Und nun ist der Sozialstaat selbst zu einem Raubtier geworden, das zügelloser und gieriger nicht sein könnte, so sehr sogar, dass die Bestandsaufnahme der Sozialleistungen zu einem Gemeinschaftsprojekt der Wirtschaftsforscher in der Bundesrepublik geworden ist. Und da sind wir noch gar nicht bei dem, was die Ifo-Forscher eigentlich leisten wollten, nämlich eine Gesamtbewertung des deutschen Sozialhilfesystems. Das scheint mittlerweile so komplex zu sein, dass man einen Big-Data-Analysten wie Palantir darauf ansetzen müsste, um etwas Ordnung in das Sozialwirrwarr zu bringen.

Das Haus, das Verrückte macht

Die Forscher beschreiben ihr Projekt in der Studie jedenfalls mit einer gehörigen Portion Galgenhumor, nämlich sinnbildlich als die unmögliche Suche von Asterix und Obelix nach dem Passierschein A38 im sogenannten „Haus, das Verrückte macht“. In dieser knapp zehnminütigen Passage aus dem Zeichentrickfilm „Asterix erobert Rom“ werden die beiden Comic-Helden von verschiedenen Amtsmitarbeitern in einer Behörde von Pontius zu Pilatus geschickt, um eine einfache Bestätigung zu erhalten. Da niemand zuständig ist und keiner ihnen weiterhelfen will, werden die beiden fast verrückt.

Am Ende tricksen sie die Behördenmitarbeiter aus, indem sie nach einem nicht existierenden Formular fragen, für das angeblich Handlungsanweisungen in einem nicht existierenden Rundschreiben festgelegt wurden. Das Haus steht Kopf, und Asterix und Obelix erhalten ihren Passierschein. In der realen Welt der deutschen Sozialleistungsregulatorik hingegen reichen wohl keine Tricksereien mehr. Um diesen bürokratischen Wust zu zerschlagen, ist der legendäre Zaubertrank nötig, der Asterix und Obelix übermenschliche Kräfte verleiht.

„Es gibt zu viele Sozialleistungen“

Der Normenkontrollrat hat bereits in einem Gutachten aus dem Jahr 2024 empfohlen, das „Haus der sozialen Hilfe und Förderung“ auf den Prüfstand zu stellen und Sozialleistungen zu bündeln. Die Ifo-Forscher kommen zu demselben Schluss: „Man kann sicherlich über die ein oder andere Leistung diskutieren oder aber Teilleistungen unterschiedlich zusammenfassen oder aufteilen“, schreiben sie in ihrer Studie. „An der grundsätzlichen Aussage dürfte sich jedoch nicht viel ändern: Es gibt sehr viele Sozialleistungen in Deutschland.“

Um feststellen zu können, welche Sozialleistungen überhaupt sinnvoll sind, wollten die Forscher eigentlich sieben Fragen beantworten, zu denen sie aber aufgrund der schieren Masse an Sozialleistungen nicht gekommen sind. Zum Beispiel wollten sie wissen, wie viele Haushalte Anspruch auf die jeweilige Leistung haben, wie viel tatsächlich abgerufen wird, wie hoch die Gesamtkosten wären, wenn alle Berechtigten die Leistung auch abriefen, oder wie viele Haushalte die Leistung unberechtigterweise in Anspruch nehmen. 

Bürger müssen erwachsen werden

Allerdings wäre diese Untersuchung nicht nur aufgrund der Masse, sondern auch wegen der mangelhaften Datenlage fast unmöglich gewesen. Die entsprechenden Informationen würden für die meisten Sozialhilfen nicht allgemein zur Verfügung gestellt, so die Forscher. „Es ist fraglich“, heißt es in der Studie, „ob die Antworten auf die sieben Fragen der Bundesregierung vorliegen.“ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wir in Deutschland nicht eine viel allgemeinere Diskussion brauchen. Wir wissen mittlerweile, dass Mitnahmeeffekte im Sozialstaat nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und dass es selbst für Gutverdiener normal geworden ist, Sozialleistungen in dieser oder jener Form abzugreifen. Umverteilung findet in Deutschland nämlich in erster Linie nicht von oben nach unten statt, sondern innerhalb der Mittelschicht.

Sollten wir uns als Bürger nicht langsam die Frage stellen, was es eigentlich bedeutet, ein aufrichtiges, erwachsenes und selbstbestimmtes Leben zu führen? Die Anspruchshaltung an den Staat ist in der Bundesrepublik nämlich völlig aus dem Ruder gelaufen. Und sie wird befeuert von einer Melange aus linksgrünen Politikern, Profiteuren der Sozialindustrie und Aktivisten, die in steuerfinanzierten NGOs und Sozialverbänden beschäftigt sind. Diese überziehen jeden mit abstrusen Vorwürfen der sozialen Kälte oder des Rechts-Seins, der glaubt, dass zu einem Leben in Würde auch gehört, unabhängig von staatlichen Zuwendungen zu leben. In diesem einmaligen, einzigartigen Leben sollte jeder das berauschende, erfüllende, selbstermächtigende Gefühl verspüren dürfen, am Steuerrad des eigenen Lebens zu sitzen – das ist die wahre soziale Idee!

Die Deutschen wären nicht nur glücklichere Bürger, wenn ein solcher Sinneswandel gelänge. Der ganze sozialstaatliche Komplex, und mit ihm viele der finanziellen Probleme des Landes, hätte sich auch ziemlich schnell von alleine erledigt – und dann wäre auch endlich genug Geld für die Menschen da, die unsere Hilfe wirklich brauchen.

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