09 Oktober 2025

Der andere Blick: Der Ankündigungskanzler – Friedrich Merz wird zu Recht von den Wählern abgestraft (NZZ)

Der andere Blick
Der Ankündigungskanzler – Friedrich Merz wird zu Recht von den Wählern abgestraft (NZZ)
Bürgergeld, Abschiebungen und neue Schulden: Zahlreiche Wahlversprechen sammelte der Kanzler schnell wieder ein. Viel zu spät hat Merz begonnen, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen.
Susann Kreutzmann, Berlin, 09.10.2025, 3 Min
Der deutsche Kanzler Friedrich Merz wird derzeit mit Negativzuschreibungen überhäuft: «Ganz weit unten», «Allzeittief», «So unbeliebt wie nie zuvor». Nur etwa 26 Prozent der Menschen sind laut einer aktuellen Umfrage zufrieden mit seiner Politik. Auf einer Rangliste der beliebtesten Politiker Deutschlands dümpelt Merz auf Platz 18 von 20.
Damit ist er nach fünf Monaten im Amt noch unpopulärer als sein abgewählter Vorgänger Olaf Scholz, der es sogar laut einer Umfrage der New York Times zum unbeliebtesten Regierungschef der westlichen Welt brachte. So eine Überbietung schien kaum möglich.
Doch die schlechten Umfragewerte hat sich Merz ganz allein zuzuschreiben.
Mehr als drei Jahre ertrugen die Deutschen das Dauergezänk der damaligen Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen. Als das Bündnis vor rund elf Monaten endgültig zerbrach, war nicht nur in der Opposition die Erleichterung groß.
Kanzlerkandidat Merz trat im Wahlkampf mit dem Versprechen an, alles anders als die mürbe Vorgängerregierung zu machen. Schon das war gewagt. Er wollte das Land wieder nach vorne bringen. Die grosse Asylwende sollte her, der Missbrauch von Sozialleistungen endlich gestoppt werden und die Wirtschaft wieder anspringen. Ab dem ersten Tag seiner Regierung sollten die Veränderungen spürbar sein, so lautete eines seiner Versprechen. Doch das geschah nicht, und es war auch nicht zu erwarten.
Kaum Erfolge bei Abschiebungen
Keine Frage, Deutschland braucht nichts dringender als grundlegende Reformen, die den jahrzehntelangen Investitionsstau beenden und den ausufernden Sozialstaat, der nicht mehr die Fleißigen belohnt, auf seine Grundfunktion zurückführt. Nur so kann es Wachstum und damit auch finanziellen Spielraum für Sozialpolitik und Klimaschutzinvestitionen geben. Merz hat Recht, wenn er immer wieder auf diesen Zusammenhang hinweist, der von der Ampel-Koalition konstant geleugnet wurde.

Doch bei allen vollmundigen Versprechungen lassen sich Veränderungen in den seltensten Fällen ohne Zumutungen bewerkstelligen. Merz vergaß, den Wählern auch das zu erklären. Das holte er in seinen ersten Regierungserklärungen nach und erntete in Umfragen prompt die Quittung dafür.

Gleichzeitig kassierte Merz im Zweiwochentakt seine selbst gemachten Versprechungen wieder ein. Ein Beispiel: Die deutsche Grundsicherung, das sogenannte Bürgergeld, wollen die Christlichdemokraten «vom Kopf auf die Füsse stellen». 30 Milliarden Euro – und damit mehr als die Hälfte der gesamten Grundsicherungskosten – ließen sich einsparen, wenn eine Million Empfänger wieder in Arbeit gebracht würden, rechnete Kanzleramtsminister Thorsten Frei im Wahlkampf vor. Die Rechnung ging weit an der Realität vorbei.

Wenig später waren es nur noch sechs Milliarden Euro, die Merz bei der Sozialhilfe einsparen wollte. Im Sommer sprach er von zehn Prozent der Grundsicherungskosten und damit etwa fünf Milliarden Euro. «Das muss möglich sein», untermauerte Merz seine Forderung. Inzwischen sind es realistische 1,5 Milliarden Euro, die mit einer Gesetzesreform eingespart werden könnten. Vom Kopf auf die Füße gestellt wird das System damit nicht.

Merz hielt die bittere Wahrheit zurück

Ähnlich verhielt es sich mit den Abschiebungen. Menschen, die «vollziehbar ausreisepflichtig» seien, müssten Deutschland umgehend verlassen, versprach Merz im Wahlkampf. Dafür sollten sie in Abschiebegewahrsam genommen werden. Doch zum einen gibt es viel zu wenig Plätze für Abschiebehaft, zum anderen scheitern nach wie vor etwa 60 Prozent aller Abschiebungen.

Die Diskrepanz ist grß: Im ersten Halbjahr wurden rund 12 000 Menschen abgeschoben, etwa 240 000 gelten als ausreisepflichtig. Nach Syrien wird auch nach Ende des Krieges nicht abgeschoben, das wollte Merz umgehend ändern.

Weitere Beispiele für nicht eingelöste Versprechen lassen sich leicht finden. Die Senkung der Stromsteuer kam nicht, weil das Geld fehlte. Die Lohnnebenkosten werden nicht kleiner, im Gegenteil. Künftig müssen die Deutschen höhere Kosten für Gesundheit und Pflege aufbringen. Willkommen in der Wirklichkeit. Die Wirtschaft nimmt immer noch keine Fahrt auf. Dafür machte die Regierung Rekordschulden, die Merz im Wahlkampf noch strikt ablehnte.

Merz hat den Mund zu voll genommen. Wer markig auftritt, darf sich nicht beschweren, wenn er daran gemessen wird. Die Probleme des Landes bleiben derweil bestehen. Jetzt ist es an der Zeit, sie anzupacken, Popularitätswerte hin oder her. Am Ende seiner Amtszeit wird es darauf ankommen und nicht mehr auf seine gebrochenen Versprechen.

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