Und es ist nicht nur das. Die grossspurige Ankündigung verrät eine gewisse Nonchalance im Umgang mit Fakten. Wie schwer es sein würde, namhafte Summen bei der Sozialhilfe zu kürzen, war allen Kennern der Materie seit je klar. Denn das Armutsrisiko hängt in Deutschland weitgehend davon ab, ob man Migrant oder ethnischer Deutscher ist.
Die Armut unter Eingesessenen bleibt seit vielen Jahren konstant, bei etwas mehr als einem Zehntel der Bevölkerung. Deutschland ist entgegen allen Behauptungen eben kein Land der sozialen Kälte. Hingegen sind laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zwei von drei Flüchtlingen armutsgefährdet.
Der drastische Anstieg der Einwanderungen geht aber weitgehend aufs Konto der CDU und ihrer verantwortungslosen Migrationspolitik. Die meisten Menschen bleiben dauerhaft in Deutschland und damit auf Sozialhilfe angewiesen, solange sie keinen regulären Vollzeitjob finden. Diese Art von Einwanderung ist ein Minusgeschäft für Deutschland.
Das Gesäusel von der «Bereicherung» durch Syrer und Afghanen war nie mehr als Geschwätz. Zugleich scheitern alle Versuche, ausländische Leistungsempfänger schlechterzustellen als ethnische Deutsche, am Verfassungsgericht.
Was in anderen Ländern gang und gäbe ist, nämlich die Begrenzung der Hilfe für Flüchtlinge aufs absolute Existenzminimum, machen in Deutschland realitätsblinde Richter unmöglich. Sie ignorieren ein Grundgesetz: Man kann entweder nur offene Grenzen oder einen funktionierenden Sozialstaat haben. Beides zusammen führt zur wirtschaftlichen Überforderung.
Über die doppelte Realitätsverweigerung der deutschen Migrationspolitik, die Rolle der CDU bei diesem Schlamassel und die Folgen für das Bürgergeld verliert Merz keine Silbe. Ihm bleibt einmal mehr nur die Flucht in starke Worte. Er poltert dann gegen «Probleme im Stadtbild» und verlangt mehr Abschiebungen. Merz hat recht damit, und seine Kritiker sind weit weg von der Stimmung im Volk. Aber an der Lage im Land ändert das noch nichts.
So gesehen ist auch die Wählertäuschung bei der Schuldenbremse kein einmaliger Ausrutscher. Auch hier waren die Fakten allen, denen nicht Ideologie die Wahrnehmung trübte, längst bekannt. Angesichts der Schuldenbremse hätten die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur und die Verteidigung drastische Einschnitte beim Sozialstaat erfordert. Solche Ausgabenkürzungen waren aber von vornherein aussichtslos.
Putin hat die deutsche Schuldenbremse zerschossen
Eigentlich hat Putin die deutsche Schuldenbremse zerschossen. Sein Krieg verteuerte Öl und Gas erheblich. Inzwischen betragen die Energiesubventionen laut einer Studie der Denkfabrik Dezernat Zukunft 38 Milliarden Euro pro Jahr. Dies und die beispiellose Unterstützung der Ukraine machten einen regelkonformen Haushalt nahezu unmöglich.
Das ist auch der zentrale Grund für den unrühmlichen Kollaps der Ampelkoalition – und nicht das Heizungsgesetz oder andere Frivolitäten. Die drei Partner konnten die neue Weltunordnung und die Schuldenregeln nicht in Einklang bringen.
Alle westlichen Demokratien sind nun einmal sehr träge, wenn es darum geht, Besitzstände abzuschaffen und Budgetmittel für neue Aufgaben freizumachen. Dabei versagt auch das Musterland Schweiz. Ihr gelingt es seit bald vier Jahren nicht, die Verteidigungsausgaben im heute notwendigen Ausmass und in Einklang mit der Schuldenbremse zu erhöhen.
Merz kannte die Zusammenhänge und zog doch mit dem Versprechen in den Wahlkampf, die Schuldenbremse nicht anzutasten. So leidet der Kanzler am Pinocchio-Syndrom. Seine Nase wird lang und länger.
Mit Wahlkampf-Lügen kennt sich die Union aus. Ihre Bundestagsfraktion (mit dabei der Abgeordnete Merz) setzte 2002 einen Untersuchungsausschuss wegen des «Wahlbetrugs» von Gerd Schröder durch. Die CDU/CSU kündigte einen «Ehrenkodex» an und erklärte, sie wolle «ein Exempel statuieren für die Zukunft». Manche Lügen haben lange Beine.
Ein normaler Kanzler in einer anormalen Zeit
Der nächste Realitätscheck lässt nicht auf sich warten. Merz verspricht, die «stärkste konventionelle Armee in Europa» aufzustellen. Wie schwer das wird, zeigt der Streit zwischen CDU/CSU und SPD um die Wehrpflicht.
Zieht man den Komödiantenstadl rund um das Losverfahren ab, bleibt eine Tatsache bestehen: Die Koalitionspartner haben sehr unterschiedliche Ansichten über die Verteidigung. Die SPD lehnte das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ebenso ab wie den Kauf bewaffneter Drohnen oder die Abschreckung Russlands, die Frank-Walter Steinmeier als «Säbelrasseln» verhöhnte. Dieser Partei die Zeitenwende und Waffenlieferungen an die Ukraine abgerungen zu haben, ist das historische Verdienst von Scholz.
Ohne den eigenen Kanzler als Zuchtmeister fällt die SPD in alte Sitten zurück. Sie lehnt die Wehrpflicht genauso ab wie (gemeinsam mit der ostdeutschen CDU) die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. Wegen des gefühligen Pazifismus seiner Partei verweigert Verteidigungsminister Boris Pistorius auch jede deutsche Teilnahme an Nato-Planungen für eine europäische Friedenstruppe in der Ostukraine.
Mit dieser SPD ist keine wehrhafte Demokratie zu machen. Wenn Merz das herbeizureden versucht, wird er ein weiteres Mal scheitern. Bleibt ihm als Errungenschaft seine Zeitenwende in der Migrationspolitik. Bei Licht besehen, ist diese aber nicht allzu eindrücklich. Zwar sinken die Zahlen der illegalen Einreisen, aber das geht zu einem guten Teil auf Massnahmen der «Ampel» zurück, etwa die regelmässigen Grenzkontrollen.
Ob Bürgergeld, Schuldenbremse, Verteidigung oder Migration: Stets klaffen Realität und Propaganda auseinander. Merz ist nicht der erste Kanzler, dem das widerfährt. Helmut Kohl schloss im Wahlkampf Steuererhöhungen aus und führte dann den Soli ein. Angela Merkel machte erst den Atomausstieg rückgängig, um ihn später endgültig durchzusetzen.
Umfaller, wohin man schaut. Merz ist also ein ganz normaler Kanzler. Aber die Zeiten sind nicht normal. Vor allem ist die deutsche Politik nicht mehr normal. Das stabile Parteiensystem der Vergangenheit ist verschwunden.
Jetzt gibt es nur noch Treibsand: die AfD oder eine «Nationale Front» gegen die Nationalisten. Die Wiederauferstehung der DDR wird so zum letzten Aufgebot der Demokratie. Auch darauf hat Merz keine Antwort. Er klammert sich ans «Weiter so». Keine Rede mehr davon, dass er die AfD halbieren werde – auch so eine leere Ankündigung. Vielleicht lautet das Verdikt am Ende einfach: Die Probleme der Zeit sind größer als dieser Kanzler.


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