28 Oktober 2025

Interview «Dann ist nur die Meinung der deutschen Regierung richtig. Alles andere ist Desinformation» (NZZ)

Interview
«Dann ist nur die Meinung der deutschen Regierung richtig. Alles andere ist Desinformation» (NZZ)
Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek warnt vor autoritären Tendenzen in Deutschland: Er spricht über ein Berliner Urteil, wonach der Staat unfehlbar ist, auch wenn er sachlich daneben liegen sollte. Und über die Hausdurchsuchung beim Publizisten Norbert Bolz.
Elke Bodderas, Berlin,
Herr Murswiek, das Kammergericht Berlin hat als höchste zivilrechtliche Instanz entschieden, dass die Online-Plattform Linkedin alle Beiträge löschen darf, wenn sie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), einer Regierung oder Behörden wie dem Robert-Koch-Institut widersprechen. Sie haben dagegen Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wie sehen Sie die Chancen?
In diesem Fall geht es um einen Nutzer, dessen impfkritische Postings gelöscht worden waren. Das Online-Portal Linkedin beruft sich auf seine Richtlinien, wonach man nichts posten dürfe, was etwa der WHO widerspreche. Man habe die Beiträge gelöscht, weil es sich um «falsche Inhalte» handele. Anschliessend wurde das Nutzerkonto meines Mandanten gesperrt. Das Berliner Kammergericht hat seine Klage abgewiesen. Es komme nicht darauf an, ob die Beiträge falsch oder richtig seien, sondern nur darauf, dass sie im Widerspruch zur Auffassung der WHO stünden. Damit verkennt das Gericht in grotesker Weise die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir mit dieser Verfassungsbeschwerde Erfolg haben werden.
Hat Linkedin nicht das Recht, festzulegen, was auf seiner Plattform veröffentlicht werden darf?
Die Internetkonzerne haben ein Forum für Meinungsäusserungen eingerichtet und verdienen gutes Geld damit. Das ist ihr Geschäftsmodell. Daran müssen sie sich messen lassen. Auch die EU mit ihrer «Digital Services Act» verbietet willkürliches Löschen und verpflichtet die Plattformbetreiber, ihre Richtlinien mit der Meinungsfreiheit in Einklang zu bringen. Dennoch meint das Kammergericht, die Klausel, nach der eine Meinungsäusserung verboten ist, wenn sie der WHO oder dem Gesundheitsministerium widerspricht, sei nicht zu beanstanden.
Das klingt ganz nach der Entscheidung der katholischen Kirche, als sie 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes einführte.
Dem Kläger ist es ebenso gegangen wie Tausenden anderen Nutzern in der Pandemie, als die sozialen Netzwerke Facebook, Youtube und Instagram im Kampf gegen «Desinformation» impf- und massnahmenkritische Beiträge löschten. Später entschuldigte sich der Facebook-Chef Mark Zuckerberg und sagte, die Biden-Regierung habe die Konzerne massiv unter Druck gesetzt, Corona-Inhalte zu zensieren. Die meisten Plattformen sind offenbar davon abgekommen, nur Linkedin nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat fast alle Verfassungsbeschwerden gegen die Corona-Politik abgelehnt. Was macht Sie so sicher, dass es diesmal anders entscheiden wird?
Die Richter in Karlsruhe haben es zur Essenz des Demokratieprinzips erklärt, dass jeder ungehindert und frei Kritik an der Regierung, an der Obrigkeit, an den hoheitlichen Institutionen üben kann. Ohne diese Freiheit gäbe es keine Demokratie. Deshalb kann es absolut nicht sein, dass auf irgendeiner Ebene des Rechts, und sei es in den allgemeinen Geschäftsbedingungen von Internetkonzernen, verbindlich festgelegt wird, dass es nur eine einzige richtige Meinung gebe, nämlich die des Gesundheitsministeriums oder der WHO. Das Bundesverfassungsgericht ist hier sehr klar: Die Regierungsmeinung darf nicht als alleinverbindlich festgelegt werden.

Das Urteil ist bedeutsam, weil sich die Rechtsprechung künftig daran orientiert.

Ja. Würde das Kammergericht mit seiner Missachtung von Meinungsfreiheit und Demokratie nicht korrigiert, könnte sein Urteil verheerende Konsequenzen haben. Dann wäre es möglich, für alle politisch relevanten Lebensbereiche entsprechende Wahrheitsinstanzen einzusetzen – für die Konjunkturpolitik, die Infrastrukturplanung, die Verteidigung, den Umweltschutz, die Klimapolitik, die Altersvorsorge. Die Regierungsmeinung wäre immer die «richtige» Meinung, alles damit nicht Vereinbare wäre «Desinformation» und daher verboten. So etwas kennen wir nur aus Orwells «1984» und von diktatorischen Willkürregimen.

Auch die WHO ruft zum Kampf gegen Desinformation auf. Die Bundesregierung will das in ein Gesetz überführen, am 6. November geht es durch den Bundestag. Droht hier eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Ja, denn man fragt sich, was genau Desinformation sein soll. Beiträge der Tagesschau zur Pandemie der Ungeimpften? Aussagen des Gesundheitsministers zur angeblich nebenwirkungsfreien Impfung? Auf wessen Sicht kommt es an? Sofern es keine falschen Tatsachenbehauptungen sind, muss doch die Auseinandersetzung darüber, ob eine Information sachlich richtig oder irreführend ist, öffentlich geführt und nicht hoheitlich entschieden werden. Ich finde es eine dystopische Vorstellung, es gäbe hoheitliche Instanzen, die über die Wahrheit entscheiden.

Ein schönes Beispiel für den Facettenreichtum der Wahrheit entdeckte am Freitag die Berliner Polizei. Sie durchsuchte die Wohnung des Medienwissenschafters und «Welt»-Kolumnisten Norbert Bolz wegen eines ironisch gemeinten Tweets, den die Staatsanwaltschaft als nationalsozialistische Parole erkannt haben will. Was geht da vor?

Für mich war auf den ersten Blick vollkommen klar, dass sein Tweet Ironie und Sarkasmus war.

Bolz hatte vor anderthalb Jahren eine Überschrift der «TAZ» mit der NS-Parole «Deutschland erwacht» aufgegriffen und sich lustig gemacht. Er schrieb, «Deutschland erwacht» sei doch die perfekte Übersetzung von «woke».

Ja, aber Bolz hat ihn nicht im Sinne des NS-Regimes verwendet, sondern gerade entgegengesetzt zur Kritik von Tendenzen, die in eine totalitäre Richtung gehen. Diesen Tweet als strafbar anzusehen, ist ein klarer Verstoss gegen die Meinungsfreiheit.

Hausdurchsuchungen sind offenbar beliebt. Aber sie sind auch dann ein scharfes Schwert, wenn die Polizisten offenbar «ganz nett waren», wie Bolz schreibt.

Es ist eine bedrückende Tendenz, dass wegen Lappalien Hausdurchsuchungen gemacht werden, auch wenn hier nicht mit Maschinenpistolen aufmarschiert wurde. Das sind Aktionen, die der Einschüchterung dienen. Es ist eine schlimme Fehlentwicklung, wenn die Staatsanwaltschaft sich als politisch motivierte Institution versteht, die gegen unerwünschte Meinungsäusserungen in abschreckender Weise vorgehen will. Noch schlimmer ist es, dass sich Richter finden, die solch einen Durchsuchungsbefehl unterschreiben. Richter sollten die Staatsanwaltschaft kritisch im Auge behalten und genau prüfen, ob das, was da beantragt wird, rechtlich haltbar ist. In diesem Fall ist es das nicht.

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