Interview «Dann ist nur die Meinung der deutschen Regierung richtig. Alles andere ist Desinformation» (NZZ)
Interview
«Dann ist nur die Meinung der deutschen Regierung richtig. Alles andere ist Desinformation» (NZZ)
Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek warnt vor autoritären
Tendenzen in Deutschland: Er spricht über ein Berliner Urteil, wonach
der Staat unfehlbar ist, auch wenn er sachlich daneben liegen sollte.
Und über die Hausdurchsuchung beim Publizisten Norbert Bolz.
Elke Bodderas, Berlin,
Herr
Murswiek, das Kammergericht Berlin hat als höchste zivilrechtliche
Instanz entschieden, dass die Online-Plattform Linkedin alle Beiträge
löschen darf, wenn sie der Weltgesundheitsorganisation (WHO),
einer Regierung oder Behörden wie dem Robert-Koch-Institut
widersprechen. Sie haben dagegen Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wie
sehen Sie die Chancen?
In
diesem Fall geht es um einen Nutzer, dessen impfkritische Postings
gelöscht worden waren. Das Online-Portal Linkedin beruft sich auf seine
Richtlinien, wonach man nichts posten dürfe, was etwa der WHO
widerspreche. Man habe die Beiträge gelöscht, weil es sich um «falsche
Inhalte» handele. Anschliessend wurde das Nutzerkonto meines Mandanten
gesperrt. Das Berliner Kammergericht hat seine Klage abgewiesen. Es
komme nicht darauf an, ob die Beiträge falsch oder richtig seien,
sondern nur darauf, dass sie im Widerspruch zur Auffassung der WHO
stünden. Damit verkennt das Gericht in grotesker Weise die Bedeutung der
Meinungsfreiheit. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir mit dieser Verfassungsbeschwerde Erfolg haben werden.
Hat Linkedin nicht das Recht, festzulegen, was auf seiner Plattform veröffentlicht werden darf?
Die
Internetkonzerne haben ein Forum für Meinungsäusserungen eingerichtet
und verdienen gutes Geld damit. Das ist ihr Geschäftsmodell. Daran
müssen sie sich messen lassen. Auch die EU mit ihrer «Digital Services
Act» verbietet willkürliches Löschen und verpflichtet die
Plattformbetreiber, ihre Richtlinien mit der Meinungsfreiheit in
Einklang zu bringen. Dennoch meint das Kammergericht, die Klausel, nach
der eine Meinungsäusserung verboten ist, wenn sie der WHO oder dem
Gesundheitsministerium widerspricht, sei nicht zu beanstanden.
Dem
Kläger ist es ebenso gegangen wie Tausenden anderen Nutzern in der
Pandemie, als die sozialen Netzwerke Facebook, Youtube und Instagram im
Kampf gegen «Desinformation» impf- und massnahmenkritische Beiträge
löschten. Später entschuldigte sich der Facebook-Chef Mark Zuckerberg
und sagte, die Biden-Regierung habe die Konzerne massiv unter Druck
gesetzt, Corona-Inhalte zu zensieren. Die meisten Plattformen sind
offenbar davon abgekommen, nur Linkedin nicht.
Das
Bundesverfassungsgericht hat fast alle Verfassungsbeschwerden gegen die
Corona-Politik abgelehnt. Was macht Sie so sicher, dass es diesmal
anders entscheiden wird?
Die
Richter in Karlsruhe haben es zur Essenz des Demokratieprinzips
erklärt, dass jeder ungehindert und frei Kritik an der Regierung, an der
Obrigkeit, an den hoheitlichen Institutionen üben kann. Ohne diese
Freiheit gäbe es keine Demokratie. Deshalb kann es absolut nicht sein,
dass auf irgendeiner Ebene des Rechts, und sei es in den allgemeinen
Geschäftsbedingungen von Internetkonzernen, verbindlich festgelegt wird,
dass es nur eine einzige richtige Meinung gebe, nämlich die des
Gesundheitsministeriums oder der WHO. Das Bundesverfassungsgericht ist
hier sehr klar: Die Regierungsmeinung darf nicht als alleinverbindlich
festgelegt werden.
Das Urteil ist bedeutsam, weil sich die Rechtsprechung künftig daran orientiert.
Ja.
Würde das Kammergericht mit seiner Missachtung von Meinungsfreiheit und
Demokratie nicht korrigiert, könnte sein Urteil verheerende
Konsequenzen haben. Dann wäre es möglich, für alle politisch relevanten
Lebensbereiche entsprechende Wahrheitsinstanzen einzusetzen – für die
Konjunkturpolitik, die Infrastrukturplanung, die Verteidigung, den
Umweltschutz, die Klimapolitik, die Altersvorsorge. Die
Regierungsmeinung wäre immer die «richtige» Meinung, alles damit nicht
Vereinbare wäre «Desinformation» und daher verboten. So etwas kennen wir
nur aus Orwells «1984» und von diktatorischen Willkürregimen.
Auch die WHO ruft zum Kampf gegen Desinformation
auf. Die Bundesregierung will das in ein Gesetz überführen, am
6. November geht es durch den Bundestag. Droht hier eine weitere
Einschränkung der Meinungsfreiheit?
Ja,
denn man fragt sich, was genau Desinformation sein soll. Beiträge der
Tagesschau zur Pandemie der Ungeimpften? Aussagen des
Gesundheitsministers zur angeblich nebenwirkungsfreien Impfung? Auf
wessen Sicht kommt es an? Sofern es keine falschen Tatsachenbehauptungen
sind, muss doch die Auseinandersetzung darüber, ob eine Information
sachlich richtig oder irreführend ist, öffentlich geführt und nicht
hoheitlich entschieden werden. Ich finde es eine dystopische
Vorstellung, es gäbe hoheitliche Instanzen, die über die Wahrheit
entscheiden.
Ein
schönes Beispiel für den Facettenreichtum der Wahrheit entdeckte am
Freitag die Berliner Polizei. Sie durchsuchte die Wohnung des
Medienwissenschafters und «Welt»-Kolumnisten Norbert Bolz wegen eines
ironisch gemeinten Tweets, den die Staatsanwaltschaft als
nationalsozialistische Parole erkannt haben will. Was geht da vor?
Für mich war auf den ersten Blick vollkommen klar, dass sein Tweet Ironie und Sarkasmus war.
Bolz
hatte vor anderthalb Jahren eine Überschrift der «TAZ» mit der
NS-Parole «Deutschland erwacht» aufgegriffen und sich lustig gemacht. Er
schrieb, «Deutschland erwacht» sei doch die perfekte Übersetzung von
«woke».
Ja,
aber Bolz hat ihn nicht im Sinne des NS-Regimes verwendet, sondern
gerade entgegengesetzt zur Kritik von Tendenzen, die in eine totalitäre
Richtung gehen. Diesen Tweet als strafbar anzusehen, ist ein klarer
Verstoss gegen die Meinungsfreiheit.
Hausdurchsuchungen
sind offenbar beliebt. Aber sie sind auch dann ein scharfes Schwert,
wenn die Polizisten offenbar «ganz nett waren», wie Bolz schreibt.
Es
ist eine bedrückende Tendenz, dass wegen Lappalien Hausdurchsuchungen
gemacht werden, auch wenn hier nicht mit Maschinenpistolen aufmarschiert
wurde. Das sind Aktionen, die der Einschüchterung dienen. Es ist eine
schlimme Fehlentwicklung, wenn die Staatsanwaltschaft sich als politisch
motivierte Institution versteht, die gegen unerwünschte
Meinungsäusserungen in abschreckender Weise vorgehen will. Noch
schlimmer ist es, dass sich Richter finden, die solch einen
Durchsuchungsbefehl unterschreiben. Richter sollten die
Staatsanwaltschaft kritisch im Auge behalten und genau prüfen, ob das,
was da beantragt wird, rechtlich haltbar ist. In diesem Fall ist es das
nicht.
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