31 Oktober 2025

Moral statt Analyse - Deutschland leistet sich die dümmsten Debatten (Cicero)

Moral statt Analyse
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Deutschland leistet sich die dümmsten Debatten (Cicero)
Es ist fast schon ein Volkssport: Kaum sagt jemand etwas Unbequemes, dauert es keine Stunden, bis die nächste nationale Erregungsschleife läuft. Dann debattiert Deutschland so lange über Nebensächlichkeiten, bis keiner mehr weiß, worum es eigentlich ging.
VON NIKOLAOS GAVALAKIS am 28. Oktober 2025 6 min
Wir hatten sie alle: den ukrainischen Botschafter Melnyk, Sänger und Fast-Hotelgast Gil Ofarim, Klima- und Palästina-Aktivistin Greta, die Mittzwanzigerin Jette Nietzard, die ein Jahr lang die Grüne Jugend anführte, die „Pascha“-Affäre – und jetzt das „Stadtbild“. Jede Woche ein neuer Aufreger, jede Woche ein neues Schlachtfeld zwischen Empörungslust und Abwehrreflex. Der Ablauf folgt stets derselben Dramaturgie: Einer provoziert, die Gegenseite hyperventiliert – und die Substanz bleibt auf der Strecke.
Nehmen wir die jüngste Debatte um Friedrich Merz’ „Stadtbild“-Äußerung. Sie war pauschalisierend, überspitzt, ohne Kontext. Aber anstatt nüchtern zu widersprechen, oder besser: zu präzisieren, kam der gewohnte Reflex: „Rassismus! Nazi!“ Zack, Diskussion beendet. Und das, obwohl hinter Merz’ plumpem Satz ein reales Problem steckt. Die meisten sehen irreguläre Migration kritisch. Und ja, es gibt Orte, an denen sich Menschen unwohl fühlen. Der Kanzler hätte sich und uns allen einen Gefallen getan, wenn er nicht suggeriert hätte, das eine führe zwangsläufig zum anderen. Aber offensichtliche Missstände anzusprechen ist nicht per se Hetze. Nur reden wir darüber zu wenig – und schon gar nicht über Lösungen. Ein Problem zu benennen ist inzwischen gefährlicher, als es zu ignorieren. Stattdessen drehen wir uns in moralischen Echokammern.
Diese Debatten sind oft unredlich bis infam. Denn empört wird sich selten über das, was jemand wirklich gemeint hat, sondern über das, was man hören will, um sich empören zu können. Es geht nicht um Argumente, sondern um das Ritual. Man legt dem anderen das Schlimmstmögliche in den Mund und klopft sich anschließend selbstzufrieden auf die Schulter. Mit einem ehrlichen Meinungsaustausch hat das wenig zu tun.
Die meisten Menschen haben andere Sorgen
Und all das findet in einer Blase statt, die mit der gesellschaftlichen Mehrheit immer weniger zu tun hat. Die meisten Menschen draußen im Land haben andere Sorgen – steigende Lebenshaltungskosten, fehlende Ärzte, kaputte Schulen. Während um Wörter und Empfindlichkeiten gestritten wird, hat sich die politische Debatte längst von der Lebensrealität vieler Bürger entkoppelt.

Das Muster zieht sich durch fast jede politische Diskussion. Wir verwechseln Haltung mit Handlung. Wer am lautesten empört ist, gilt als moralisch überlegen. Wer versucht, differenziert zu argumentieren, hat „kein Rückgrat“. Und die andere Seite liegt ohnehin immer falsch.

Migration ist dafür das beste Beispiel. Sie wird entweder verklärt oder verteufelt. Die einen wollen offene Grenzen für alle, die anderen am liebsten Mauern und Stacheldraht. Dazwischen gäbe es reichlich Platz für Vernunft: illegale Migration begrenzen, Straftäter abschieben, qualifizierte Zuwanderung fördern, Integration endlich ernst nehmen. Stattdessen wird alles in denselben Topf geworfen – Asyl, Arbeitsmigration, Fachkräftebedarf – und so lange umgerührt, bis am Ende nur noch Empörung übrig bleibt.

Beim Verbrenner-Aus das gleiche Spiel. Die einen tun so, als könne Deutschland das Weltklima im Alleingang retten, die anderen hängen an ihren Benzinern wie an einem Familienerbstück. Dazwischen die Vernünftigen, die sagen: Natürlich müssen wir umbauen – aber mit Blick auf Wirtschaft und Arbeitsplätze. Fährt die deutsche Industrie an die Wand, gepaart mit Massenentlassungen, wird sich im Ausland niemand ein Beispiel am deutschen Modell nehmen. Doch diese Balance interessiert kaum jemanden – zu kompliziert, zu wenig Drama.

Auch in der Rentendebatte herrscht dieselbe Logik. „Länger arbeiten!“, ruft die eine Seite. „Bloß nichts ändern!“, die andere. Niemand fragt, ob die Pflegekraft mit 68 noch Nachtschichten stemmen kann. Oder ob es fair ist, dass ich mit meinem Laptopjob dieselbe Regelung habe wie jemand, der körperlich kaputt ist, bevor er 60 wird. Das Rentensystem ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels so nicht zu halten. Es bringt weder etwas, davor die Augen zu verschließen, noch, den Menschen pauschal ihre wohlverdiente Rente zu kürzen.

Die Brandmauer ist längst mehr Symbol als Strategie

Und dann das Lieblingsgespenst der Republik: die AfD. Seit zehn Jahren wächst diese Partei. Und seit zehn Jahren reagiert das politische Establishment mit denselben Rezepten: Empörung, Ausgrenzung, Verbotsfantasien. Hat bislang nicht funktioniert – und wird es auch künftig nicht tun. Das Gerede von der „Brandmauer“ hilft der AfD mehr als jede Kampagne. Es zementiert die Vorstellung einer abgehobenen Elite, die mit der Realität des Alltags nichts mehr zu tun hat. Während man sich in Talkshows gegenseitig versichert, wie gefährlich diese Partei sei, wächst sie weiter – weil die sogenannte Mitte zu oft an den Lebensrealitäten vorbeiregiert.

Dass die Brandmauer längst mehr Symbol als Strategie ist, scheint niemanden zu stören. Sie war gut gemeint – als klare Abgrenzung gegen rechts –, ist aber zum Selbstzweck geworden: Hauptsache, man signalisiert Haltung, egal ob’s was bringt. Lieber zeigt man mit dem moralischen Zeigefinger, statt in den Spiegel zu schauen.

Auch in der Außenpolitik diskutieren wir lieber in Phrasen. Man pocht mantraartig auf die „regelbasierte internationale Ordnung“. Klingt gut, ist aber zunehmend Selbsttäuschung. In einer Welt, in der Großmächte Regeln nach Belieben brechen, wirken solche Floskeln naiv. Vielleicht sollten wir anfangen, Politik wieder von realistischen Möglichkeiten her zu denken – nicht von Idealen, die ohnehin keiner teilt.

Man will rechthaben, nicht verstehen

Diese Debattenkultur – oder das, was davon übrig ist – hat eine Ursache: Moral hat die Analyse ersetzt. Natürlich ist dabei nicht alles gleich richtig oder gleich falsch. Aber die permanente Zuspitzung, das Denken in Lagern, verhindert, dass wir überhaupt noch Gemeinsamkeiten finden oder pragmatische Lösungen zulassen. Wer differenziert, gilt als weich. Wer übertreibt, bekommt Applaus. Und wer versucht, beides zu verbinden – Vernunft mit Haltung –, wird von beiden Seiten beschimpft. So funktioniert keine demokratische Streitkultur, sondern ein Erregungstheater mit festem Spielplan.

Dabei gäbe es genug echte Themen: Eine alternde Gesellschaft, die auf ein Rentensystem trifft, das bald kollabiert. Eine Wirtschaft, die zwischen Bürokratie und Fachkräftemangel erdrückt wird – und immer abhängiger wird von Entscheidungen in Washington und Peking. Eine Digitalisierung im Schneckentempo. Eine Infrastruktur, über die man sich im Ausland lustig macht. Eine internationale Ordnung, in der Deutschland und Europa stärker für ihre Sicherheit sorgen müssen.

Darauf Antworten zu finden, erfordert Nachdenken, Abwägen – und manchmal auch das Eingeständnis, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig existieren können. Doch unsere politischen Debatten sind längst keine Orte des Austauschs mehr, sondern Bühnen für Selbstinszenierung. Man will rechthaben, nicht verstehen. Und weil das bequemer ist, drehen wir uns in Endlosschleifen aus Empörung, Ironie und Belehrung.

Deutschland leistet sich die dümmsten Debatten – weil es sich den Luxus leistet, nicht ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Dabei wäre genau das nötig: weniger Schaum vorm Mund, mehr Substanz im Kopf.

In gekürzter Form ist der Text erstmals in der Tageszeitung taz erschienen.

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