Wehrhafte Demokratie und die Verwirkung von Grundrechten
Der Niedergang der Weimarer Republik und die Wahlerfolge der NSDAP in Deutschland sowie der Aufstieg autoritärer Regime in Europa regten den Verfassungsrechtler Karl Loewenstein Ende der 1920er Jahre dazu an, ein Konzept zur Verteidigung freiheitlicher demokratischer Verfassungen zu entwickeln, das er nach seiner Emigration 1933 in die USA unter dem Namen „militant democracy“ – „wehrhafte“ oder auch „streitbare“ Demokratie – weiter ausbaute. Eine freiheitliche Demokratie müsse rechtzeitig Kräfte abwehren, die sie von innen her zerstören könnten. Loewenstein sah es geboten, dass zur Rettung der Demokratie eine vorübergehende „Verletzung grundlegender Prinzipien“ , darunter Zensur und Parteiverbote, angebracht sein kann. Allerdings sollten solche Maßnahmen mit hohen rechtlichen Hürden verbunden sein.
In Deutschland wurde dem Konzept wehrhafter
Demokratie bei der Gründung der Bundesrepublik auf zweierlei Weise
Rechnung getragen. Zum einen geschah dies durch die Einrichtung des
Verfassungsschutzes 1950. Der Verfassungsschutz erhielt die Aufgabe,
Bestrebungen, also Zusammenschlüsse von Personen, die die freiheitliche
Grundordnung beschädigen oder abschaffen wollen, auszumachen, zu
überwachen, Material für Verbotsverfahren zu sammeln und auch durch
Bekanntgabe der Überwachung die öffentliche Wirksamkeit solcher
Bestrebungen abzuschwächen. Zum anderen wurden im Grundgesetz von 1949
Artikel zum Selbstschutz der Demokratie verankert. Hierzu gehört die
Möglichkeit zum Verbot von Vereinen (Art. 9 Abs. 2) und Parteien (Art.
21 Abs. 2). Artikel 18 sieht ferner das Verwirken von Grundrechten mit
politischer Wirksamkeit auch für einzelne Bürger vor, wenn sie
Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische
Grundordnung mißbraucht“ haben, wie Pressefreiheit, Lehrfreiheit,
Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht.
Die Anwendung der Artikel 18 und 21 Abs. 2 muss vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen werden. Parteiverbotsverfahren in Deutschland waren selten und gelangen bisher nur zwei Mal: 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) verboten. Das Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) scheiterte 2017. Der Entzug von Grundrechten nach Artikel 18 wurde in bisher nur vier Fällen versucht, die jedoch scheiterten.
Angesichts solcher Hürden für ihren Einsatz erscheint die wehrhafte Demokratie als wenig geeignet, auf Gefährdungen zu reagieren, wie sie im digitalen Zeitalter neu entstanden sind. Daher wurde in der letzten Zeit eine Neuausrichtung der wehrhaften Demokratie etabliert, die vornehmlich auf den einzelnen Bürger und die Bildung der öffentlichen Meinung gerichtet ist.
Ein Demokratieschild zum Schutz vor Desinformation
In ihrer Rede am 10. September 2025 in Straßburg vor dem EU Parlament kündigte Ursula von der Leyen die Einrichtung eines „Europäischen Zentrums für demokratische Resilienz“ an, welches Aufbau und Koordination eines „Europäischen Demokratieschilds“, einer Art Iron Dome der Demokratie, leisten soll, denn „unsere Demokratie steht unter Beschuss“. Die Initiative richtet sich insbesondere gegen „Bedrohungen“ im Internet, da sich „globale Informationsökosysteme zu geostrategischen Gefechtsfeldern entwickelt“ hätten; die „Meinungsfreiheit“ brauche einen „sicheren und geschützten Online-Raum“.
Die Realisierung des Demokratieschilds erfolgt durch EU-Gesetze wie das Digitale Dienste Gesetz (DSA) und das Medienfreiheitsgesetz (EMFA), ein Netzwerk aus Organisationen der EU und nationalen Institutionen sowie unabhängigen Organisationen, darunter das Europäische Netzwerk für Fact-Checking-Standards (EFCSN), sowie spezielle Förderprogramme für Demokratie, Medienresilienz und spezielle Themen, die als „systemische Risiken“ eingestuft werden.
Die Europäische Beobachtungsstelle
für digitale Medien (EDMO) ist spezialisiert auf Desinformation.
Zusammen mit Partnern entwickelt sie in Orientierung am
„wissenschaftlichen Konsens“, der durch autoritative Institutionen
repräsentiert sein soll, Kriterien zur Beurteilung von Informationen.
Diese Kriterien werden Presseorganen sowie Onlineanbietern zur Verfügung
gestellt. In Orientierung an diesen Kriterien können die Meldung von
Inhalten und Accounts, die Einschränkung ihrer Reichweite, die
Kennzeichnung als falsch oder schädlich oder auch die Löschung von
Inhalten oder ganzen Profilen vorgenommen werden. Das Gegenstück zur
Behinderung der Verbreitung ungewünschter Inhalte bildet das sogenannte
„prebunking“, d.h. Propaganda der als „richtig“ bzw. „förderlich“
eingestuften Ansichten, welche die abzuwehrenden Positionen übertönen
sollen.
Der sogenannte „wissenschaftliche Konsens“ hat sich in der Geschichte der Wissenschaft jedoch immer wieder als falsch herausgestellt. Auch kann der „wissenschaftliche Konsens“ manipuliert worden sein. Förderprogramme und Sponsoren bzw. Investoren lenken das Forschungsinteresse. Durch politische Weisungsbindung staatlicher Institutionen kann, wie im Fall von RKI und PEI in Deutschland, ein Einfluss ausgeübt werden, der wissenschaftliche Fragen und Erkenntnisse, die dem politischen Willen widersprechen, ausblenden oder sie zur Legitimation politischer Entscheidungen anpassen kann, wie dies eindrucksvoll für die Coronazeit die sog. „RKI Files“ für Maßnahmen belegen, welche Grundrechte einschränkten.
Mittlerweile liegen gerichtliche Bestätigungen vor, dass nicht nur Meinungen, sondern sogar wissenschaftliche Positionen von großen Internetplattformen (VLOPs) gelöscht werden dürfen, wenn sie in Widerspruch zur institutionellen Repräsentation des „wissenschaftlichen Konsenses“ stehen, wie im Fall einer Klage gegen LinkedIn. Dietrich Murswiek, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, sieht hierin eine fundamentale Verletzung der Meinungsfreiheit und hat am 17. Oktober 2025 „als Prozessvertreter des betroffenen LinkedIn-Nutzers Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt“.
Eine weitere Form
politischer Einhegung des öffentlichen Diskurses durch Gesetze ist die
Verschärfung des Paragraphen zur Volksverhetzung im Jahr 2022 und des
Disziplinarrechts 2023, bei denen Verfassungsrechtler, wie etwa Josef
Franz Lindner, den Einsatz begrifflicher „Unschärfe“ (ZER Heft 7/8/2024,
S. 222) bemängeln, welche einen Spielraum für politisch motivierte Auslegungen eröffnet.
Dass der Verdacht auf Schaffung legaler Möglichkeiten zur Abwehr oppositioneller politischer Tendenzen und Gruppierungen nicht ganz unbegründet ist, deutet sich durch das Vorhaben der Koalition an, den Tatbestand der Volksverhetzung (130 StGB) durch den „Entzug des passiven Wahlrechts bei mehrfacher Verurteilung“ zu sanktionieren, also eine Kandidatur für ein Parlament zu untersagen. Bereits jetzt werden mit Hausdurchsuchungen aufgrund von Posts, welche unter Verdacht auf Volksverhetzung stehen, Exempel zur Erziehung der vielen anderen statuiert. Mobbing und Benachteiligung im Dienst gehören zum neuen Alltag.
Umgekehrt geben Förderprogramme dem Bürger auch die Chance, vom Objekt zum Subjekt der wehrhaften Demokratie zu wechseln. Es wird die Moral vermittelt, dass es gut ist, „dazuzugehören“, sich von Abweichlern der politischen Leitagenden zu distanzieren, diese ggf. zu melden oder anzuzeigen. Auch gehört es zum guten Ton, an auf Regierungskurs liegenden Protestaktionen teilzunehmen. Ein Signal für die gute Positionierung ist eine Unterstützung der Trägergruppen, darunter auch der Antifa, mit staatlichen Geldern und durch amtierende Politiker.
Dies alles sind Strategien des Demokratieschilds, der als Neuausrichtung der wehrhaften Demokratie verstanden werden kann. Es ermöglicht eine Stigmatisierung, sogar Kriminalisierung politischer Opposition und erlaubt, die öffentliche Meinung gezielt einzuhegen.
Der Bürger im Visier des Verfassungsschutzes
Als
Strategie einer erneuerten wehrhaften Demokratie kann auch die
Transformation des Verfassungsschutzes verstanden werden. Die
verfassungsschutzrechtliche Überwachung wurde mit Wirkung vom 9.7.2021
vom „Personenzusammenschluss“ auf als möglicherweise
verfassungsfeindlich einzustufende Einzelpersonen ausgeweitet (§ 4 Abs. 1 lit. c BVerfSchG). Dies gilt ausdrücklich auch für Personen, die gar nicht die Verfassung bzw. „die Demokratie als solche“ ablehnen (S.144 im Verfassungsschutzbericht 2023),
aber ihre Realisierung vehement kritisieren. 2021 steigt die Zahl der
Personen, die im Nachrichtendienstlichen Informationssystem und
Wissensnetz (NADIS-WN) abgespeichert sind, sprunghaft an: Wenn in sechs
Jahren 2015–2020 420.000 Personen hinzukamen, wurden 2020 bis 2025 ganze
1.850.000 Personen neu abgespeichert, ein Anstieg also um mehr als das
Vierfache auf insgesamt 4.180.000 Personen (nach Statista 2025):
Die wohl prominenteste Person, die aktuell vom Verfassungsschutz überwacht wird, ist ihr ehemaliger Präsident, der Jurist Hans-Georg Maaßen. Er hat dagegen geklagt. Sein Ziel ist es, in einem „Stellvertreterkampf für die Meinungsfreiheit in Deutschland“ öffentlich sichtbar zu machen, wie der Verfassungsschutz durch Überschreitung seines ursprünglichen, klar definierten Auftrags hin zur Überwachung von Regierungskritikern selbst zu einer „Gefahr“ für die freiheitliche Demokratie geworden ist.
Am 15. Oktober 2025 hat Maaßen seine „Akten“, die der Verfassungsschutz über ihn gesammelt hat, auf einer Webseite öffentlich gemacht.
Ratlos könnte stimmen, wie legale, harmlose, allenfalls als
geschmacklos zu bezeichnende Meinungsäußerungen so gedeutet werden, dass
sie Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verfassungsfeindlichkeit
belegen sollen. Dazu gehören Positionierungen Maaßens zu
Corona-Maßnahmen und der Covid-Impfung ebenso wie seine polemisch
überspitzte Kritik an Parteien, die aber nun einmal laut
Verfassungsschutz auf keinen Fall als „Kartell“ bezeichnet werden
dürfen.
Ähnlich wie am Verfassungsschutzgutachten über die AfD kann auch an der „Akte Maaßen“ studiert werden, wie die Beurteilung von Aussagen als verfassungsfeindlich mit pseudologischen Tricks erfolgt. Ein bizarres Beispiel für solche Pseudologik lautet wie folgt: „Wenn die Straße nass ist, muss es geregnet haben. Aber es kann auch einen Rohrbruch gegeben haben oder die Straßenreinigung war da.“ Wieso die Straße nass ist, muss also ermittelt werden. Die Logik des Verfassungsschutzes tut dies gerade nicht, sondern sie setzt gleich den Sonderfall als gegeben an: „Wenn die Straße nass ist, muss es einen Rohrbruch gegeben haben.“ Entsprechend ist für den Verfassungsschutz die alleinige Verwendung des Wortes „globalistisch“ eine antisemitische Chiffre, obwohl der inkriminierte Artikel überhaupt keine Bezugsmöglichkeit auf ein jüdisches Thema hergibt.
Die „Akte Maaßen“ ist ein Zeugnis für die Umwandlung des Verfassungsschutzes in ein Instrument zur Bekämpfung politischer Opposition, die sich, wie Maaßen, verbal pointiert und mit großer, auch internationaler Reichweite gegen politische Leit-Agenden von weltweiter Bedeutung, wie die Corona-Maßnahmen oder die Recht überschreitende Zulassung von Migration, wendet und die, wie der Ex-Verfassungsschutzpräsident, potenziell in der Lage sein könnte, aufgrund seines Ansehens deutlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung auszuüben. Durch die Bekanntgabe der Einstufung als Verdachtsfall, die auch nachrichtendienstliche Überwachung ermöglicht, wurde Maaßen öffentlich diskreditiert. Die Einstufung war unerlaubterweise an die Presse durchgestochen worden – und dies wohl nicht zufällig, nachdem bekannt geworden war, dass er eine Partei zu gründen beabsichtigte. Die WerteUnion scheiterte dann bei den Wahlen 2024 und 2025, u.a. weil Sponsoren und namhafte Persönlichkeiten sich scheuten, eine Partei zu unterstützen, deren Vorsitzender überwacht wird. Maaßen hat vor rund drei Wochen die Partei verlassen.
Es braucht Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen
Zur vollumfänglichen Wiederherstellung der Meinungsfreiheit müsste die wehrhafte Demokratie wieder auf ihre frühere Form zurückgeführt werden. Der Verfassungsschutz sollte sich auf seine ursprünglichen Kernaufgaben zurückbesinnen. Eine ganze Reihe an Gesetzen bzw. Gesetzesänderungen, auch auf EU-Ebene, welche die Meinungsäußerungsfreiheit einhegen und politische Einflussnahme ermöglichen, sollte aufgehoben werden.
Eine solche Reform würde ein anderes Menschenbild voraussetzen. Wenn der Demokratieschild den Bürger mithilfe von Angst vor Bestrafung und umgekehrt von Belohnung für Mitwirken konditionieren soll, würde dagegen in der freiheitlichen Gesellschaft jedem Bürger der Mut zugesprochen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen – und es gäbe keinen Demokratieschild, sondern Bildungsprogramme zur Förderung kritischer Urteilsbildung.
Dieses Menschenbild liegt ursprünglich dem Grundgesetz zugrunde – es täte not, sich wieder darauf zurückzubesinnen.
Dieser Artikel ist Resultat ehrenamtlicher publizistischer Tätigkeit.

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen