19 November 2022

Waldemar Hartmann über die Fußball-WM in Katar - „Die größten Heuchler sind ARD und ZDF“ (Cicero+)

Vorbemerkung von mir:
"Und die deutschen Weltverbesserer fliegen in die Vereinigten Arabischen Emirate in Urlaub. Was glauben die denn, von wem und unter welchen Umständen die Hotels und Skylines in Dubai und Abu Dabi in die Höhe gezogen wurden? Und schon vergessen? Unter welch erbärmlichen Umständen Leiharbeiter aus Osteuropa in deutschen Schlachthöfen Schweine und Rinder zerlegt haben?"

Waldemar Hartmann über die Fußball-WM in Katar -
„Die größten Heuchler sind ARD und ZDF“

Eine Woche vor WM-Beginn die schlimmen Zustände in Katar beklagen? Typisch deutsche Bigotterie, sagt Sportreporter-Legende Waldemar Hartmann. Im Interview erklärt er, warum man Fußballer nicht zu Botschaftern für Menschenrechte erklären sollte, warum Thomas Müller keine gute WM haben wird – und warum er glaubt, dass die Friseure der deutschen Nationalspieler aus Nordkorea kommen.
INTERVIEW MIT WALDEMAR HARTMANN am 19. November 2022
Waldemar Hartmann, 1948 in Nürnberg geboren, ist Sportjournalist mit Legendenstatus. Er ist aktives Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsunion und warb im Wahlkampf 2021 für die CDU.
Herr Hartmann, ich nehme an, Sie gehören nicht zu den WM-Boykotteuren, richtig?
Nein, ich gehöre nicht zu den Boykotteuren, weil ich das für eine scheinheilige Diskussion halte.
Inwiefern?
Ich könnte Ihnen einen Gastbeitrag für den Bayernkurier vom Dezember 2010 vorlesen, den ich damals geschrieben habe – kurz nach der Vergabe an Katar. Ich habe gegen diese Entscheidung gewettert, die in den Hinterzimmern der Fifa gemeinsam mit der Entscheidung über die Vergabe nach Russland gefällt wurde. Katar ist so groß wie Hessen, da waren damals Kamelreiten und die Falknerei populär. Fußball wurde vor 50 Zuschauern gespielt, es gab kein echtes Fußball-Stadion. Die Entscheidung war ein Unding und hat alles, was den Fußball ausmacht, mit Füßen getreten.  
Warum halten Sie die Debatte dann für scheinheilig?
Es war wie so oft: Zuerst gab es nach der Vergabe einen großen Aufschrei, aber kurze Zeit später war das gegessen, weil es ja so weit weg war. Damals hätte der Widerstand anfangen und sich steigern müssen, anstatt einzuschlafen und dann eine Woche vor Beginn wieder hochzukochen. Und die größten Heuchler sind derzeit ARD und ZDF.
Die Öffentlich-Rechtlichen sollen vor sieben Jahren 214 Millionen Euro für die Übertragungsrechte gezahlt haben. Momentan überbieten sie sich mit kritischen Beiträgen über Katar.
Das ist wohl so Usus. Ich erinnere mich gut, als ich noch aktiv war und es 2008 nach Peking ging. Ich habe damals bei den Olympischen Spielen mit Harald Schmidt die ARD-Late-Night-Show „Waldi und Harry“ moderiert. Monatelang ist vor allem in den Öffentlich-Rechtlichen ein China-Bashing betrieben worden. Meine Frau meinte schon zu mir: „Willst du da wirklich hinfliegen? Das ist doch so gefährlich, wenn du ein falsches Wort sagst, landest du im Gefängnis!“ Es wurde den Zuschauern und mir die Stimmung vermittelt: Wir fahren in die Hölle.
Und wie war’s?
Das Ergebnis war letztendlich, Herr Thiele: Ich war noch nie so schnell akkreditiert bei Olympischen Spielen, und ich war bei elf davon dabei. Über Peking habe ich nur von Smog und den schlimmsten Dingen dieser Welt gelesen und gesehen – und ich fahre in eine Stadt mit achtspurigen Stadtautobahnen und allen Geschäften von Adidas bis Bulgari. Wir wohnten im 5-Sterne Kempinski und erlebten eine Weltstadt, nicht anders wie in New York oder London. Harald wollte bei einem Dreh mit einem Kamerateam auf der Chinesischen Mauer bewusst provozieren. Das Team wurde auch beobachtet, aber nix geschah.
Aber ist doch klar, dass Sie nur die schönen Seiten zu sehen bekommen.
Ja, hallo? Ich würde doch auch bei einem privaten Urlaub mir nicht die hässlichen Seiten aussuchen. Wenn Sie sich das vornehmen, dann finden Sie auch in Deutschland mehr als genug Gegenden, die Sie niemandem als Ziel vorschlagen, der sich ein Bild über dieses Land machen möchte.
Werden Sie nach Katar fliegen?
Ich würde auch ohne diese WM nicht nach Katar fliegen. Und das hat nichts zu tun mit all den Vorwürfen, die dem Emirat gemacht werden in Sachen Menschenrechte. Ich fliege nämlich auch nicht auf die Malediven oder nach Mauritius, ich fahre lieber mit dem Auto an die See oder in die Berge.

Haben Sie einen Überblick über all die Dinge, für die Katar in der Kritik steht?

Ja, ich habe einen Überblick. Aber ich beziehe diesen Überblick nur aus den üblichen Medienquellen. Und die Informationen sind alle gezielt negativ. Das gehört zu dieser Doppelzüngigkeit und leider auch zu einem deutschen Gen: An unserem Wesen soll die Welt genesen. Mir gehen diese deutschen Moralapostel und Weltverbesserer auf den Geist. Über zehn Jahre hatten sie Zeit, einen echten Widerstand gegen diese Farce einer WM in Katar zu organisieren. Es war bestenfalls ein laues Lüftchen. Zwei Monate vorher wollen sie jetzt einen Sturm entfachen. Zu spät, Freunde! Hugo Lloris, der Torwart und Kapitän der Franzosen, hat gerade erst gesagt: „Nein, ich trage diese One-Love-Armbinde nicht. Wir erwarten in Frankreich, wenn Ausländer zu uns kommen, dass sie sich nach unseren Regeln richten und unsere Ordnung achten. Ich fahre als Gast nach Katar, ich werde dort das Gleiche tun.“ Darüber könnte man mal nachdenken. Gestern habe ich übrigens gelesen, dass ein deutscher Gewerkschafter sagt, in den vergangenen Jahren hätte sich extrem viel an den Zuständen für die Bauarbeiter und andere Arbeiter verbessert.

Glauben Sie, das wird nach der WM noch so sein?

Ich habe schon gedacht, wir reden hier über Fußball – schreiben Sie das bitte genauso auf!

Versprochen. Aber wir haben im Vorgespräch doch abgeklärt, dass wir über die Debatte um Katar reden.

Ja, aber sehen Sie, das ist ein deutsches Problem: Da kommt ein Teller Suppe auf den Tisch und die Deutschen probieren nicht zuerst, wie die Suppe schmeckt, sondern sie suchen das Haar darin.

Naja, 6000 Gastarbeiter sind bereits tot.

Haben Sie die Toten gezählt?

Natürlich nicht.

Sehen Sie. Diese Zahl hat ein britischer Journalist in die Welt gesetzt. Sie ist selbst von ernsthaften Organisationen stark bezweifelt worden. Klar ist: Jeder Tote ist einer zu viel.

Was schließen Sie aus Ihrem Zweifel in Bezug auf die Zustände? Alles nicht so schlimm?

Ich bezweifle nicht, dass Schlimmes passiert ist. Es kursieren nur so viele Zahlen, für die ich keine wirklich glaubwürdige Quelle sehe. Und nochmal: Es ist zehn Jahre nichts passiert. Und jetzt eine Woche vorher einen ganzen Abend in der ARD freizuräumen, um auf dieses Land einzudreschen, halte ich für doppelzüngig und scheinheilig. ARD und ZDF wussten vor sieben Jahr schon Bescheid, als sie die Rechte kauften. Und was noch scheinheiliger ist: Der wahre Adressat dieser Irrsinnsentscheidung, die WM nach Katar zu vergeben, wäre die Fifa! Wie reagiert da der DFB? Sie wollen erstmal abwarten, wie sie sich bei der Wiederwahl von Herrn Infantino im März verhalten wollen. Typisches Funktionärsverhalten: Sowohl als auch mit einem entschiedenen Vielleicht.

Auch der deutschen Nationalmannschaft wird immer wieder Doppelmoral vorgeworfen. Wie finden Sie das?

Man überlastet junge Menschen. Da sind 20- bis 22-jährige Burschen dabei, die nur Fußball spielen wollen, das ist ihr Beruf. Und die werden jetzt belastet, als Botschafter für Menschenrechte zu kämpfen. Was all die Regenbogenbinden und das Niederknien angeht, zitiere ich gerne Ihren Kolumnisten Frank A. Meyer: Das ist Bekenntniskitsch. Ich bin eher ein Praktiker: Vor zwei Monaten ist Robert Habeck in diesen Unrechtsstaat geflogen, hat dort den wichtigsten Mann der Herrscherfamilie getroffen, ihn in tiefster, ja buckelnder Haltung gegrüßt und über Gaslieferungen verhandelt. Und jetzt erklären Sie einem jungen Fußballer mal, warum er nicht in diesem Staat spielen oder ein „Zeichen“ setzen soll.

Leon Goretzka hat angekündigt, man werde in Katar ein „Zeichen für unsere Werte“ setzen.

Ich bin weniger gespannt auf diese Zeichen als auf die Zeichen auf dem Fußballplatz. Ich schalte den Fernseher nicht ein, weil ich etwas über das Land erfahren will, sondern weil ich Fußballspiele sehen will. Wenn ich etwas über das Land erfahren will, dann liefern mir die bekannten politischen Magazine und Talkshows mehr, als mein Gemüt ertragen kann. Wenn Goretzka meint, er muss auch politische Botschaften verkünden – die SPD hat ihn ja als politisch denkenden Menschen auch schon entdeckt –, dann ist das okay. Jeder soll seine Meinung offen sagen! Um Gottes Willen, aber man sollte das nicht zur Voraussetzung für alle machen.

Dem Desaster bei der WM 2018 ging die Aufregung um ein Foto von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan voraus. Auch dieses Jahr geht die Mannschaft nicht unbelastet von Drumherum-Debatten ins Turnier. Wird die WM wieder enttäuschend?

Ich glaube, wir können uns freuen, wenn wir ins Viertelfinale kommen. Aber das hat nicht unbedingt mit den Diskussionen über Katar zu tun.

Sondern?

Die Erkenntnis hatte schon Sepp Herberger: Spiele gewinnst du vorne, Turniere gewinnst du hinten.

Das heißt, Deutschland scheitert an der Verteidigung, und Neuer bekommt viel zu tun?

Ja, das ist meine feste Überzeugung. Toni Rüdiger ist der Einzige, der da hinten internationale Klasse hat. Niklas Süle hätte auch Weltniveau haben können, hat aber selbst dazu beigetragen, dass es nicht so gekommen ist, weil er im Training nicht der Fleißigste ist und sich durch den Vereinswechsel und andere Einflüsse – Berater, die sich plötzlich von außen melden – selber ein bisschen aus der Bahn gebracht. Schlotterbeck ist aus meiner Sicht in einen plötzlichen Hype geraten. Er ist kein Schlechter, aber gehört nicht zur Weltklasse. Alle anderen sind gutes Bundesliga-Niveau, aus meiner Sicht nicht gut genug für ein Weltmeisterteam.

Im Mittelfeld gibt es umso mehr internationale Klasse.

Und jetzt kommt die Sorge: Einen Spieler von Weltrang muss man draußen sitzen lassen. Hansi Flick wäre blöd, wenn er Goretzka und Kimmich, die bei Bayern zusammenspielen, auseinanderreißen würde. Das heißt, von den drei Granaten Gündogan, Müller oder Musiala müsste einer auf die Bank. Ein Luxusproblem, und kein kleines für die allgemeine Stimmung,

Müller ist ohnehin noch angeschlagen.

Ich glaube so oder so, dass das nicht Müllers WM wird.

Warum das?

Weil Flick Musiala vorziehen wird. Und Sané und Gnabry sind vorne gesetzt, weil sie bei Bayern auch gesetzt sind.

Und wer wird Weltmeister?

Argentinien oder Brasilien. Der Messi hat die letzte Chance, Weltmeister zu werden, und die Brasilianer haben einfach immer eine geile Truppe. Die haben zwar einige Rückkehrer, die weit über 30 sind und in der brasilianischen Liga ihren Heimathafen gefunden haben. Aber sie haben eine sehr gute Quali gespielt. Ich glaube aber sogar ein bisschen mehr an Argentinien.

Und die europäischen Top-Mannschaften?

Die Europäer waren jetzt 16 Jahre dran, das ist einfach statistische Wahrscheinlichkeit. Und ich sehe in Europa keine überragende Mannschaft.

Der Weltmeister fliegt ja sowieso traditionell in der Vorrunde raus.

Genau. Aber auch die Engländer, die ich vor der EM sehr geschätzt habe, haben durch die Finalniederlage einen Knacks mitbekommen. Das ist nicht mehr so toll, was sie abliefern. Selbst die Spanier, die uns letztes Jahr zwar weggefegt haben, aber dann zu Hause gegen die Schweiz verlieren, sind nicht überragend.

Spanien ist mit Deutschland in der Gruppe, zusammen mit Costa Rica und Japan. Haben Sie eine Prognose für die Gruppenphase?

Es kann schon sein, dass wir nach den Gruppenspielen die Koffer packen müssen. Spanien war noch nie unser Lieblingsgegner, und das hat sich bis heute nicht geändert. Am meisten Sorgen macht mir aber Japan. Japan ist als erstes Spiel die schlechteste Nummer, die wir kriegen konnten. Die haben vier Bundesligaspieler, die in ihren Vereinen alle entscheidende Rollen spielen. Das sind Spitzenkicker, und die Mannschaft, das war schon immer so in Japan, ist ein Kollektiv, die geben alles. Und im Land herrscht eine Riesenstimmung, die WM ist ein gigantisches Event für Japan.

Wie sehen Sie die Stimmung in Deutschland?

Beim harten Kern hat Deutschland sieben oder acht Millionen Zuschauer, bei Events sind es dann plötzlich 20 Millionen, mit einem hohen Frauenanteil erfreulicherweise. Aber diese Bewegung ist noch nicht da – wie soll sie auch kommen, wenn die Leute jeden Tag in der Zeitung lesen, wie schlimm dieses Katar ist? Das Interesse am Fußball ist aber generell rückläufig. Ich glaube, das hat nicht zwangsläufig mit der WM in Katar zu tun, sondern eher mit den ständigen Diskussionen um Geld, Geld, Geld.

Sie meinen die absurd hohen Ablösesummen?

Ja, und die absurden Dinge, die in die Verträge geschrieben werden. Seit Neymar mit seinen 220 Millionen werden inzwischen auch für mittelmäßige Spieler 500 Millionen als Festablöse in den Vertrag geschrieben. Das bewirkt, dass die Leute denken: Hier geht es nur noch um die Kohle. Dazu tragen auch Fußballprofis bei, die Fotos von sich mit vergoldeten Steaks posten, die mit 400.000 Euro teuren Autos zum Training fahren oder die in 25.000 Euro teuren Pelzjäckchen posieren, was die Bild-Zeitung dann genüsslich ausbreitet. Vielleicht denken sich da einige Normalbürger, „Hey, Alter, das finanziere ich ja mit“, und springen ab. Ich habe keine empirische Grundlage für die These, es ist ein Bauchgefühl. Solche Allüren, die nichts mit Fußball zu tun haben, gibt es ja leider auch während der WM.

Was meinen Sie?

2018 haben die deutschen Nationalspieler sich ihre Friseure einfliegen lassen, das gibt es jetzt auch noch. Ich wundere mich dann immer, wenn ich sie nach dieser Behandlung sehe, und denke mir: Kam der Friseur aus Nordkorea? Die sehen ja aus wie Kim Jong-un. All diese Geschichten, das ganze Beiwerk drumherum, interessiert mich als Fußballfan nicht. Wenn ein Spieler eine neue Freundin hat, ist sie plötzlich genauso wichtig in den sozialen Medien. Gestern habe ich im Videotext gelesen, dass Cathy Hummels jetzt eine Doku bei RTL II hat. Ja, hallo? Also zu meiner Zeit hieß die Frau des Spielers noch Frau des Spielers und nicht Spielerfrau. Den Beruf gab es damals noch nicht. Das distanziertere Verhältnis ist jedenfalls spürbar, man merkt es auch an den immer kritischer werdenden Artikeln. Übrigens, kein Witz, ich sehe hier gerade nebenbei Kim Jong-un bei ntv und ich fühle mich bestätigt in meiner Aussage. (lacht)

Darf ich das auch ins Interview schreiben?

Ja, unbedingt, machen Sie das! Sensationell! Oder ist das ein Fußballspieler? (lacht)

Das Interview führte Ulrich Thiele.



 

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