Folge der Wissenschaft ! – Aber wohin? (Cicero)
Heute wissen wir natürlich, dass nicht Gott, sondern die Plattentektonik für Erdbeben verantwortlich ist. Dennoch hat auch sie anscheinend ein Faible für christliche Feiertage. Das Seebeben im Jahre 2004, das den fürchterlichen Tsunami ausgelöst hat, fand am zweiten Weihnachtsfeiertag statt. Das stärkste Beben, das jemals in Nordamerika gemessen wurde, ereignete sich 1964 an Karfreitag.
Die Geburtsstunde der Wissenschaft
Rückblickend geht man davon aus, dass das Allerheiligen-Beben in Portugal einer der entscheidenden Auslöser war, weshalb sich die Gelehrten erstmals wirklich Gedanken über die echten Gründe von Naturereignissen gemacht haben. Nach und nach entstand so die Denkmethode der Wissenschaft.
Eine wahrhaft revolutionäre Erfindung. Schritt für Schritt begann man, systematisch Wissen zu erlangen, das auf Logik, auf Beweisen und auf experimenteller Überprüfung basierte und nicht auf Glauben oder Bauchgefühl.
Viele stutzen jetzt und verweisen auf die griechische Antike als die Geburtsstunde der Wissenschaft. Doch das stimmt nicht. Archimedes hat zwar eine Entdeckung gemacht, aber er hat seine Idee, wie es zu dieser Entdeckung kam, nie überprüft. Auch Aristoteles war der Meinung, dass man alle Geheimnisse der Natur ausschließlich durch reines Nachdenken erforschen kann. So ist es zu erklären, dass er der festen Überzeugung war, dass Männer mehr Zähne im Mund haben als Frauen. Einfach nachzuschauen – also wissenschaftlich zu überprüfen –, war ihm wohl viel zu unphilosophisch. In der griechischen Philosophie gab es keine Doppelblindstudien. Weder Demokrit noch Sokrates kümmerten sich um Evidenzen, Verifizierbarkeiten und Placebo-Gruppen.
Nicht bewerten, sondern verstehen
All das entwickelte sich erst innerhalb der vergangenen 300 Jahre. Dadurch kam es in kürzester Zeit zu einem enormen Erkenntnisgewinn. So wissen wir inzwischen, dass das Universum expandiert, dass unsere Welt aus Atomen besteht und dass der Mensch die Hälfte seines Erbmaterials mit einer Banane gemeinsam hat. Was übrigens nicht bedeutet, dass man aus zwei Bananen einen Menschen zusammensetzen kann. Auch wenn man das bei manchen vermuten könnte.
Banal gesagt, geht es in der Naturwissenschaft darum, Phänomene zu beobachten, Hypothesen über mögliche Zusammenhänge und Mechanismen zu formulieren und diese dann mithilfe von Experimenten und/oder Modellen zu überprüfen. Dadurch wird die aufgestellte Hypothese entweder bestätigt, verändert oder verworfen.
Genau das tun Naturwissenschaftler. Sie beschäftigen sich mit der Erforschung von messbaren, objektiven Zusammenhängen.
Noch interessanter ist, was die Wissenschaft nicht tut. Die Kernphysik zum Beispiel beschreibt sehr genau, wie viel Energie durch eine Kernspaltung frei wird. Aber sie macht keinerlei Aussagen darüber, ob Kernenergie gut oder schlecht ist. In der Wissenschaft versucht man nicht, die Welt zu bewerten, sondern man versucht, sie zu verstehen.
Falsche Vorstellungen der Wissenschaft
Im Laufe der zurückliegenden Jahre fiel mir in Gesprächen mit Besuchern meiner Wissenschafts-Shows immer wieder auf, dass die Allgemeinheit von der Aufgabe der Wissenschaft ein teilweise falsches Bild hat. So erwarteten zum Beispiel beim Corona-Ausbruch viele Menschen, dass die Wissenschaft nun klar sagen müsste, was wir als Gesellschaft tun sollen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Als sich in dieser Frage die meisten Epidemiologen und Virologen sehr zurückhaltend, vorsichtig und diffus ausdrückten, reagierten große Teile der Bevölkerung mit Irritation und Enttäuschung. Doch der Grund für die unkonkreten Äußerungen der Forscher war nicht, dass sie schlecht in ihrem Job waren, sondern dass die Beantwortung solcher Fragen nicht Aufgabe der Wissenschaft ist.
Nicht dass wir uns falsch verstehen. Natürlich sollten in einer aufgeklärten Gesellschaft solide wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage für politisches Handeln sein. Aber die Wissenschaft als Methode sagt uns eben nicht, was wir tun sollen.
Und damit sind wir bei meinem Lieblingsthema: dem Klimawandel. Dort fällt immer wieder der Slogan: „Follow the Science!“ Damit wird suggeriert, dass man einfach nur der Wissenschaft folgen müsse, um unsere ökologischen Probleme zu lösen. Dass also die Wissenschaft bereits alle Antworten und Maßnahmen parat hat, wie wir die Welt retten können. Aber ist das wirklich so?
Zunächst die Fakten: In den vergangenen Jahrzehnten hat die Klimaforschung unstrittig nachgewiesen, dass menschliche Aktivität die Atmosphäre, den Ozean und die Landflächen erwärmt. Der Klimawandel wird in großem Maße von Kohlendioxid verursacht, das wir seit der industriellen Revolution durch das Verbrennen von fossilen Energieträgern freisetzen. Dadurch hat sich in den letzten 200 Jahren die Erde um etwa ein Grad Celsius erwärmt. Diese Entwicklung hält bis zum heutigen Tag an und stellt aus vielerlei Gründen ein zunehmendes Problem dar.
Ein schier unlösbares Problem
Gibt uns diese grundsätzliche Erkenntnis nun Auskunft darüber, was genau zu tun ist? Ein ganz entschiedenes: Jein.
So gibt der Weltklimarat auf Basis seiner Forschungsergebnisse in regelmäßigen Abständen Empfehlungen ab, welche Maßnahmen die Welt ergreifen müsste, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Im Wesentlichen ist es die Empfehlung, den weltweiten CO2-Ausstoß massiv einzudämmen.
Doch wie die letzten 20 Jahre gezeigt haben, in denen wir immer intensiver Klimapolitik betreiben, erweist sich genau das als ziemlich schwierig. Zum Beispiel ist nur wenigen klar, wie viel es die Weltgemeinschaft kosten würde, das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten. 2017 schätzten Ökonomen, dass es sich um einen Betrag von 5,4 Billionen Dollar handelt. Pro Jahr. Zum Vergleich: Das weltweite Bruttosozialprodukt beträgt derzeit etwa 85 Billionen Dollar.
Naturgemäß können wir uns nur schwer vorstellen, welche konkreten Einschränkungen mit diesen hohen Kosten verbunden wären. Daher ein Vergleich zum Covid-Jahr 2020: Als durch die Pandemie große Teile der Weltwirtschaft und des Luftverkehrs stillstanden, sanken auch die Kohlendioxidemissionen um etwa 4 Prozent – eine plötzliche Reduzierung, wie es sie in den letzten 100 Jahren nicht gegeben hat. Doch selbst dieser Rückgang ist zu gering, um dauerhaft das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Laut Weltklimarat müssten dazu die globalen Emissionen um 7,6 Prozent sinken. Und zwar Jahr für Jahr.
Salopp gesagt, hätte Corona also Verkehr und Wirtschaft doppelt so schwer treffen müssen und müsste ab sofort kontinuierlich auftreten, damit wir unsere selbstauferlegten Klimaziele schaffen.
Allein dieser Vergleich zeigt, warum effektiver Klimaschutz so schwer ist. Von den zahllosen anderen Schwierigkeiten gar nicht erst zu sprechen. Wie sieht es zum Beispiel mit der technischen Umsetzbarkeit der geforderten Klimaneutralität aus? Ist eine Nation, die bereits mit der Einführung eines Mautsystems überfordert ist, überhaupt fähig, den kompletten technologischen Umbau unserer Industriegesellschaft zu stemmen? Und falls ja, ist das mit unseren freiheitlich-demokratischen Mitteln möglich? Ist deutsche Klimaneutralität auch dann sinnvoll, wenn andere große Volkswirtschaften nicht mitmachen? Wäre es für viele Entwicklungs- und Schwellenländer mitunter sogar klüger, ihre begrenzten Mittel nicht in die Bemühungen zu stecken, CO2 einzusparen, sondern in Maßnahmen, sich an den Klimawandel anzupassen?
Das Prinzip der Falsifizierbarkeit
Fragen über Fragen, deren Beantwortung nichts mehr mit Naturwissenschaft zu tun hat. Politische Forderungen werden nicht automatisch zu wissenschaftlichen Fakten, nur weil sie von Wissenschaftlern ausgesprochen werden. Sie müssen genauso diskutiert, abgewogen und hinterfragt werden wie jede andere politische Forderung auch.
Der Philosoph Karl Popper warnte bereits vor 80 Jahren vor einer blinden Autoritätsgläubigkeit gegenüber der Wissenschaft. Popper zeigte, dass die Methode der Wissenschaft niemals absolute Wahrheiten hervorbringt, sondern sich der Wahrheit immer nur systematisch annähern kann. Das, was heute als gesichert gilt, kann sich schon morgen als falsch erweisen.
Ein Bauer kommt jeden Morgen zum Füttern in den Gänsestall. Die Gänse freuen sich jedes Mal und schwärmen: „Unser Bauer ist ein super Typ …“ Kurz vor Weihnachten allerdings wird den Gänsen schlagartig klar: „Irgendwas an unserer Theorie ist faul …“ Popper bezeichnete dieses Prinzip als „Falsifizierbarkeit“. Jede Theorie gilt nur so lange als richtig, bis sie durch eine bessere ersetzt wird. In der Wissenschaft irrt man sich sozusagen Schritt für Schritt nach oben. Doch man weiß nie, ob man am Ende der Fahnenstange angelangt ist.
Ein Missbrauch der Wissenschaft
Daher liefert uns die Wissenschaft auch keine Patentrezepte, geschweige denn Lösungen, wie wir unsere Zukunft gestalten sollen. Sie bietet uns lediglich Methoden an, um immer bessere Erkenntnisse zu gewinnen, auf deren Basis wir neue Wege für die Zukunft definieren können. Doch diese Zukunft ist und bleibt offen, weil die gefundenen Erkenntnisse und Fakten immer nur vorläufig sind.
Klimaforschung ist objektive Wissenschaft. Klimapolitik dagegen ist subjektiv, unscharf und verhandelbar. Wer beides bewusst miteinander vermischt oder gar gleichsetzt, gewinnt vielleicht die Sympathien der Öffentlichkeit, aber er missbraucht damit die Wissenschaft für populistische Zwecke.
Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld sagte dazu: „Als Methode ist sie [die Wissenschaft] sehr erfolgreich. Wir verdanken ihr einen enormen Gewinn an Lebensqualität und Lebensverlängerung. Wissenschaft ist aber kein politisches Programm, das man zur Steuerung der Gesellschaft einsetzen kann. Als politisches Programm – ,Follow the Science‘ – zerstört die Wissenschaft sich selbst und die Gesellschaft gleichermaßen.“
Belehrung statt Information
Ottmar Edenhofer, Direktor und Chefökonom des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, sieht das anscheinend anders. Bereits 2010 machte er in einem Interview keinen Hehl daraus: „Wir verteilen durch die Klimapolitik de facto das Weltvermögen um … Man muss sich von der Illusion frei machen, dass internationale Klimapolitik Umweltpolitik ist. Das hat mit Umweltpolitik fast nichts zu tun.“
Ich halte die zunehmende Politisierung von Wissenschaft für eine ungute Entwicklung. Kaum eine Wissenschaftssendung im deutschen Fernsehen kommt inzwischen ohne mahnende Worte und Appelle aus, dass wir über unsere Verhältnisse leben, den Planeten ruinieren und dringend umsteuern müssen. Die Grauzone zwischen objektiver Wissensvermittlung und subjektiver Bewertung verschwimmt immer mehr. Man möchte nicht nur informieren, man möchte missionieren.
Doch genau diese Verquickung von Fakten und Meinungen provoziert bei vielen Widerstand. Für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft ist das fatal. Denn wer sich ständig von oben herab belehrt fühlt, ist immer weniger bereit, den echten Fakten Aufmerksamkeit zu schenken. Man schaltet einfach auf Durchzug. Wer daher alle, die von dem Klimathema genervt sind, pauschal als Wissenschaftsgegner oder Klimaleugner bezeichnet, macht es sich zu einfach. Ich denke, die wenigsten lehnen die Wissenschaft als solche ab. Viele stört es einfach, dass massive politische Forderungen und moralische Zurechtweisungen als zwingende Folge objektiver Wissenschaft dargestellt werden.
Kein Grund zur Schwarzmalerei
Natürlich ist es legitim und begrüßenswert, wenn Wissenschaftler und Wissensvermittler vor den Folgen des Klimawandels warnen. Wenn man aber immer nur den dramatischen Teil von wissenschaftlichen Szenarien präsentiert, wenn objektive Zusammenhänge ständig emotionalisiert und weltanschaulich aufgeladen werden, dann zeichnet man nicht das vollständige Bild der Situation. Hans Joachim Schellnhuber, wissenschaftlicher Chefberater der Bundesregierung unter Angela Merkel, sagte in einer ZDF-Dokumentation wörtlich: „Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt.“
Rein wissenschaftlich gesehen, ist diese desaströse Einschätzung mit großer Skepsis zu betrachten. In keinem IPCC-Bericht des Weltklimarats wird je das Wort „Apokalypse“ oder „Klimakatastrophe“ verwendet. Die Berichte beschreiben in recht sachlichem Ton unterschiedliche Szenarien, die natürlich dazu auffordern, zu handeln. Aber die alles andere als das Ende der Welt verkünden. Brian O’Neill, Direktor des Joint Global Change Research Institute und einer der IPCC-Leitautoren des Weltklimarats, sagt ganz unmissverständlich: „Es gibt kein Mad-Max-Szenario in unseren Abschätzungen.“
Die Wissenschaftler des IPCC erwarten, dass in Zukunft trotz des Klimawandels die durchschnittliche Lebenserwartung weiter steigen wird, dass die Armut weiter zurückgehen wird, dass immer weniger Menschen Hunger leiden müssen und dass die Durchschnittseinkommen der Menschen weiter steigen werden. Und zwar in jeder realistischen Prognose, selbst im wissenschaftlichen Worst-Case-Szenario.
Eine Frage der Überzeugungen
Zweifellos werden Teile der Weltbevölkerung unter dem Klimawandel leiden, er kann sogar den Fortschritt der gesamten Menschheit bremsen. Aber im Durchschnitt, so O’Neill, „ist in der Klimafolgenforschung nicht die Rede von einer Zukunft, die schlechter sein wird als die Gegenwart“.
Dennoch bedienen sich viele Journalisten, Aktivisten – ja sogar manche Wissenschaftler – einer immer stärkeren Weltuntergangsrhetorik. Wie ist diese Überdramatisierung zu erklären?
Der Kognitionswissenschaftler Steven Pinker beschäftigt sich seit Jahren schon mit diesem Phänomen. Pinker beschreibt in seinen Arbeiten mehrere wissenschaftliche Experimente, in denen nachgewiesen werden konnte, dass Probanden mit sehr starken gesellschaftspolitischen Überzeugungen dazu neigen, seriös erhobenes Datenmaterial fehlzuinterpretieren, sofern die Daten das Gegenteil ihrer Überzeugungen zeigen. Das gilt sogar für statistisch-mathematisch versierte Personen, die in anderen Bereichen problemlos fähig sind, Zusammenhänge korrekt zu erkennen. Ihre Fehlinterpretationen haben also nichts mit mangelnder Bildung oder einem niedrigen IQ zu tun. Es sind ihre starken Überzeugungen, die sie buchstäblich blind für Fakten machen.
Beim Phänomen des Klimawandels ist das besonders gut zu beobachten. Untersuchungen aus den USA zeigen, dass gebildete Demokraten, die sich um den Klimawandel große Sorgen machen, die Häufigkeit von Dürren, Waldbränden oder Überschwemmungen in der Vergangenheit tendenziell überschätzen. Gebildete Republikaner dagegen, die den Klimawandel weniger ernst nehmen, unterschätzen die Häufigkeit dieser Ereignisse.
Schutz vor Selbsttäuschung
Der Psychologe Drew Weston konnte dieses Phänomen sogar neurologisch nachweisen. Er durchleuchtete mithilfe eines Magnetresonanztomografen die Gehirne von Menschen mit starken politischen Einstellungen. Sobald man die Probanden mit unangenehmen Details ihrer Überzeugungen konfrontierte, waren Bereiche ihres präfrontalen Kortex (ein Teil des Gehirns, der für bewusstes Denken verantwortlich ist) praktisch inaktiv. Ein klarer Fall von neurologischer Selbsttäuschung.
Offenbar unterliegen ignorante Klimawandelleugner und radikale Klimaschützer einem ähnlichen Denkfehler. Die einen glauben entgegen aller Fakten, der Klimawandel wäre eine Erfindung von Al Gore und Greta Thunberg, die anderen sind entgegen aller wissenschaftlichen Erkenntnisse der festen Überzeugung, die Apokalypse stünde kurz bevor.
Das menschliche Gehirn ist ohne Frage in der Lage, wissenschaftliche Daten und Fakten zu analysieren. Aber es ist eben auch unglaublich geschickt darin, sich selbst irgendwelche unumstößlichen Wahrheiten vorzugaukeln. Deshalb hat man in der Wissenschaft eine Vielzahl von Mechanismen entwickelt, die die gröbsten Denkfehler, Fehlschlüsse und Selbsttäuschungen verhindern. Irrtümer und Fehlinterpretationen werden durch ständige Überprüfungen mit Experimenten, durch Doppelblindstudien oder Kontrollen durch unabhängige Expertenkommissionen bestmöglich ausgeschlossen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Wissenschaftler nicht genauso in die oben erwähnten Denkfallen tappen können.
Ich mache mir die Welt ...
Galileo weigerte sich standhaft, Keplers nachgewiesene Hypothese anzuerkennen, dass der Mond die Gezeiten verursacht. Leibnitz lehnte strikt das Newtonsche Gravitationsgesetz ab. Newton wiederum glaubte fest daran, dass die Erde 6000 Jahre alt ist. Die willkürliche Behauptung der Kirche überzeugte den tiefgläubigen Newton in diesem Fall mehr als die rationalen Beweise seiner Wissenschaftskollegen. Und manchmal hält sogar die Mehrheit der Forscher an einem Irrtum fest und weigert sich beharrlich, neue Erkenntnisse anzuerkennen: Der junge Alfred Wegener, der die Kontinentalverschiebungstheorie formuliert hatte, wurde von der gesamten wissenschaftlichen Elite ausgelacht. Ignaz Semmelweis, der herausfand, dass das Kindbettfieber von Ärzten ausgelöst wurde, die sich nicht die Hände gewaschen hatten, hat man in Expertenkreisen für verrückt erklärt.
Die meisten von uns sehen sich als klar denkend, rational und reflektiert. Immerhin lesen wir Zeitung und informieren uns über gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen. Doch das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir trotz 300 Jahren Logik und Wissenschaft immer noch sehr irrationale Wesen sind. Besonders, wenn wir uns zu einem Sachverhalt ein bestimmtes Weltbild zusammengebastelt haben.
So lehnen zum Beispiel viele Klimaschützer die Nutzung der Kernenergie kategorisch ab. Und das, obwohl unabhängige Studien eindeutig zeigen, dass Kernenergie nahezu klimaneutral Strom produziert und verglichen mit allen anderen Energieträgern die wenigsten Schäden pro erzeugte Energiemenge verursacht. Selbst die Endlagerung stellt inzwischen technisch kein Problem mehr dar. Unter Einbeziehung dieser Fakten kam auch der Weltklimarat IPCC zu dem Ergebnis, dass Kernenergie ein wichtiger Baustein ist, um die angestrebten Klimaziele zu erreichen. Leider weiß ich aus zahllosen persönlichen Diskussionen, dass sich hartgesottene Kernenergie-Gegner von diesen Fakten wenig beeindrucken lassen. „Follow the Science“ gilt für sie nur, wenn es in ihr Weltbild passt.
Wir haben es in der Hand
Doch die Wissenschaft ist kein Buffet, an dem man sich die passenden Häppchen herauspicken kann und die, die einem nicht schmecken, lässt man stehen. Wissenschaft gibt es nur als gesamtes Menü. Und das bedeutet zwangsläufig, Erkenntnisse zu akzeptieren, auch wenn sie dem eigenen Weltbild widersprechen.
In der Wissenschaft gibt es weder absolut gesicherte Wahrheiten noch schlüsselfertige Lösungen für die Zukunft. Das gilt besonders für den Umgang mit dem Klimawandel. Wissenschaftler mögen vielleicht die Höhe der Globaltemperatur im Jahr 2050 bestimmen können. Und doch kann kein Forscher fundierte Aussagen darüber machen, welche Technologien, Erfindungen oder Anbaumethoden eine zukünftige Gesellschaft zur Verfügung hat, um mit dieser Situation umzugehen. Die Zukunft ist offen, und wir sind in der Lage, sie zu gestalten.
Bis vor 300 Jahren war das eine völlig absurde Behauptung. Die meisten vorwissenschaftlichen Kulturen dachten, Gott lenke die Geschicke der Welt, und wir alle seien nur sein Spielball. Die modernen Wissenschaften räumten mit dieser Vorstellung auf. Sie behaupteten: Durch den Erwerb von Wissen ist eine Verbesserung möglich. Zum ersten Mal in der Geschichte glaubten die Menschen, dass sie selbst die Welt gestalten können. Die Idee des Fortschritts wurde geboren. Zukunft ist nicht das, was uns zustößt, sondern das, was wir aktiv gestalten.
„Follow the Science“ bedeutet demnach nicht, den genauen Weg zu kennen. Sondern sich auf einen unbekannten Weg einzulassen.
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