03 November 2022

Der andere Blick «Shit happens»: Wer behauptet, für den Klimaschutz zu kämpfen, kann im Ampel-Deutschland auch Menschenleben gefährden (NZZ)

Der andere Blick
«Shit happens»: Wer behauptet, für den Klimaschutz zu kämpfen, kann im Ampel-Deutschland auch Menschenleben gefährden (NZZ)
Menschen, die sich auf der Strasse festkleben, sind keine Aktivisten, sondern Straftäter. Doch Deutschlands Regierungsparteien schicken ihnen höchstens liebevolle Mahnungen. Eine Farce.
Marc Felix Serrao 01.11.2022,
Man stelle sich vor, die Demonstranten, die sich auf Berlins Strassen festkleben, hätten andere Ziele. Was wäre los, wenn sie statt «fürs Klima» für weniger illegale Migration oder für die Aufhebung der Maskenpflicht in Bussen und Bahnen protestieren würden? Die Republik würde beben. Mitglieder der Regierung würden vor radikalisierten «Demokratiefeinden» warnen. Leitartikler wären in Aufruhr. Und an diesem Montag wäre die Stimmung wohl endgültig gekippt.

Da lag eine Radfahrerin lebensgefährlich verletzt unter einem Betonmischer, und ein Wagen der Feuerwehr, der bei der Bergung helfen sollte, konnte nicht zu ihr gelangen – weil er in einem Stau steckte, den die Klebe-Truppe ausgelöst hatte. Die Frau hat überlebt, sie befindet sich laut der Polizei aber nach wie vor in einem kritischen Zustand. (03.11.: Die Radfahrerin ist inzwischen verstorben.)

«Shit happens» (etwa: "So etwas passiert eben")

Die Reaktionen? Nahe null. Die Feuerwehr kritisierte die Blockierer. Aber der politische Betrieb blieb gelassen. «Wer durch Protestaktionen die Rettung von Menschenleben gefährdet, diskreditiert nicht nur die hehren Ziele, für die er/sie kämpft, sondern verspielt damit auch Glaubwürdigkeit», twitterte der Grünen-Co-Vorsitzende Omid Nouripour mit einem Tag Verspätung. Immerhin, könnte man meinen. Aber die Ansprache blieb doch seltsam liebevoll. Nicht: Was ihr da macht, ist kriminell. Sondern: Vorsicht, Freunde, ihr verspielt Sympathien.

«Shit happens», schrieb ein anderer Kommentator, der sich im Netz als «Aktivist für globale Klimagerechtigkeit, als durchtriebene queere Schlampe und als Politikwissenschafter» vorstellt. Der Mann ruderte später zurück. Aber eigentlich hat er die Stimmung gut zusammengefasst.

Shit happens: Wenn es irgendwie ums Klima geht, dann drücken die Repräsentanten des Staates in Deutschland beide Augen zu. Kaum einer wagt es, die Menschen, die sich auf zentralen Kreuzungen und Autobahnzufahrten festkleben, als das zu bezeichnen, was sie sind: Extremisten, die Straftaten begehen und Leben gefährden. Randbemerkung: Die Nachsicht gilt auch für den Umgang mit den Leuten, die in Kunstmuseen mit Suppe und Brei werfen. Alles, so die etablierte Wortschöpfung, «Klimaaktivisten»: leicht überreizt, aber doch für die gute Sache kämpfend.

Die verrückte Verniedlichung wird deutlich, wenn man sich abermals vorstellt, der Protest hätte andere Ziele. Kein Mensch würde von «Migrationsbegrenzungsaktivisten» oder «Corona-Aktivisten» sprechen. Es wären wahlweise Demokratiefeinde, Extremisten oder Nazis, und die Forderungen nach einem harten Durchgreifen von Polizei und Staatsanwaltschaft könnte man schnell nicht mehr zählen.

Die Schieflage hat sicher auch etwas mit der Relevanz des Themas zu tun: Der Klimawandel ist eine reale Bedrohung, und dem Schutz des Klimas und der Umwelt fühlen sich die meisten Menschen zu Recht verpflichtet. Aber das allein erklärt nicht die Scheu der politisch Verantwortlichen, einen Radikalismus, der immer häufiger ins Extremistische kippt, beim Namen zu nennen.

Träume von Degrowth und Deindustrialisierung

Bei den Grünen ist die Angst am ehesten nachvollziehbar. Als die Partei noch in der Opposition war, hat sie den Schulterschluss mit den Demonstranten gesucht. Bloss nicht das eigene Vorfeld verprellen, scheint nun die Devise zu sein. Wobei «Vorfeld» auch falsch ist. Die erklärtermassen linksextreme Grüne Jugend und sehr viele Parteimitglieder träumen zusammen mit den Strassenblockierern von Degrowth und Deindustrialisierung.

Bleiben SPD und FDP. Die eine war einmal eine Arbeiterpartei und schaut heute zu, wie Menschen von Fanatikern davon abgehalten werden, zur Arbeit zu kommen. Die andere war einmal eine Stimme der Wirtschaft und meldet sich selbst dann nicht zu Wort, wenn Kraftwerke lahmgelegt werden oder der Ausstieg aus der klimaschonenden Kernenergie für unausweichlich erklärt wird. Vermutlich handelt es sich hier wie da um eine Mischung aus Opportunismus und Angst. Oder kürzer: ein Trauerspiel.

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