14 November 2022

„Ich habe große Zweifel, dass Katar auf uns als Lehrer wartet“ (WELT)

 WM in Katar
„Ich habe große Zweifel, dass Katar auf uns als Lehrer wartet“ (Ich auch)
Chefreporter
Der Politologe Nicolas Fromm gilt als einer der führenden Katar-Experten in Deutschland – und hält die aktuelle Kritik am Ausrichter der Fußball-WM nicht nur für maßlos überzogen, sondern auch für naiv und inkonsequent. Speziell Nancy Faeser zeige große Unkenntnis von der Region.
Ganz Deutschland diskutiert über einen Golfstaat, auf den man im Frühjahr noch als Gaslieferant hoffte, deutsche Fußball-Fans rufen zum Boykott der Weltmeisterschaft in Katar auf. Es ist geradezu eine Hysterie um den WM-Austragungsort entstanden. Nicolas Fromm ist Politikwissenschaftler an der Bundeswehr-Universität in Hamburg mit dem Forschungsschwerpunkt arabische Golfstaaten, speziell Katar. Fromm gilt als der führende Katar-Experte in Deutschland. Er hat das Buch „Katar: Sand, Geld und Spiele“ geschrieben und warnt vor einem unsachlichen Umgang mit dem Emirat.
WELT: War Ihr Buch eine Auftragsarbeit, oder warum haben Sie es geschrieben?
Nicolas Fromm: Als ich meine Doktorarbeit über Katar geschrieben habe, musste ich feststellen, dass die deutschsprachige Publikationslage sehr dünn ist. Es gibt auf Deutsch kaum verlässliche Informationen zu Katar. Daher habe ich mich entschieden, meine Informationen und Ergebnisse in zugänglicher Form aufzuschreiben.
WELT: Also bekommen Sie kein Geld aus Katar? Oder hat Katar in irgendeiner Weise auf Sie eingewirkt?
Fromm: Nein. Jeder, der das Buch gelesen hat, weiß, dass es keine Auftragsarbeit von Katar gewesen sein kann, denn ich nehme das Land für nichts in Schutz. Ich gehe nur sachlicher mit ihm um als viele im Moment.
WELT: Erst war Robert Habeck in Katar und bat um Gas, dann kam Nancy Faeser und bat darum, Touristen anständig zu behandeln. So einen ungewöhnlichen Wunsch sprach vor einer WM noch nie ein Politiker aus.
Fromm: Ja, das zeugt von einem sehr großen Misstrauen, gleichzeitig auch von einer großen Unkenntnis oder Unsicherheit im Umgang mit der Region. Es stimmt mich nachdenklich, diese Unsicherheit bei Personen zu beobachten, die die Verbindung zu Katar allein ihres Amtes wegen eigentlich konstruktiv mitgestalten sollten. Somit ist es auch Ausdruck einer etwas diffusen Erwartungshaltung, mit der sich Katar derzeit international konfrontiert sieht.
WELT: War es richtig, Katar die Fußball-WM ausrichten zu lassen?
Fromm: Das möchte ich nicht pauschal bewerten, denn letztlich geht es um eine Diskussion der Kriterien, nach denen internationale Großveranstaltungen vergeben werden sollten. Mit Blick auf Katar sehe ich positive und negative Aspekte. Katar hat sich seit Jahren konsequent um internationale Aufmerksamkeit bemüht und eine gute Bewerbung vorgelegt, sodass wir in diesem Jahr zum ersten Mal eine WM in einem arabischen Land verfolgen können. Das halte ich im Hinblick auf die extrem verbreitete Fußball-Fan-Kultur in den arabischen Staaten für überfällig, denn der internationale Sport ist nicht Eigentum der westlichen Industriestaaten. Die meisten Kritikpunkte sind durch die aktuelle Debatte ja bekannt, mich wundert, dass gerade in Zeiten der Energieknappheit und des Klimabewusstseins kaum auf die erwartbar verheerende ökologische Bilanz der WM 2022 hingewiesen wird.
WELT: Wie kommt es, dass Katar für so vieles am Pranger steht?
Fromm: Für sportpolitische Akteure macht es gerade durchaus Sinn, Katar als „Bösewicht“ zu verwenden. Weil Katar für alles steht, was man am internationalen Fußball aus Fan-Perspektive zu Recht bemängelt. Dass man große Vereine aufkauft, dass man für eine komplette Eskalation der Transfersummen sorgt und auch für eine Loslösung von der lokalen Fan-Basis hin zu einer klaren internationalen Marktorientierung. Katar ist damit nicht allein, spielt seine Rolle aber sehr konsequent. Vereine wie der FC Bayern München haben an dieser Entwicklung jedoch sicher einen ebenso großen Anteil wie der Emir von Katar.
WELT: Also verstehen Sie die Fans der Bundesligisten, die möchten, dass Deutschland die WM boykottiert?
Fromm: Ich verstehe das, halte es für politisch aber überhaupt nicht angemessen.
WELT: Warum?
Fromm: Erstens ist Katar ein westlicher Verbündeter und zweitens ein Land, das für uns ganz konkret wichtig und relevant ist, was kaum kommuniziert wird. Katar vertritt diplomatisch die deutschen Interessen in Afghanistan, es bildet eine Brücke zu ganz vielen Akteuren, zu denen Deutschland überhaupt keine eigenen Kontakte hat. Auch abgesehen von der Frage der Energieversorgung gibt es also viele Situationen, in denen wir dieses Land wirklich brauchen, deshalb ist es merkwürdig, wie ungehalten Kritik an der WM derzeit auch aus der Bundesregierung formuliert wird. Katar ausgerechnet jetzt für lange bekannte Eigenschaften zu bestrafen wäre Ausdruck großer Naivität und Inkonsequenz, immerhin arbeiten wir tagtäglich sehr eng mit autokratischen Regimen in unfreien Ländern zusammen, ohne dass wir uns im Geringsten daran stören. Deutsche Firmen haben an den Vorbereitungen zur WM erheblich mitverdient.
WELT: Rühren die harten Urteile über Katar auch daher, dass die Menschen zu wenig über das Land wissen?
Fromm: Man weiß voneinander in der Tat sehr wenig. Beide Seiten haben sich in der Vergangenheit zu wenig bemüht, in einen echten Austausch zu kommen. Es gab stets nur wirtschaftlichen Austausch, die Bevölkerungen Europas und der Golfregion sind sich ziemlich fremd geblieben. Das liegt natürlich auch an uns, weil es teils starke Vorbehalte gegen die reichen Golfstaaten gibt. Oft werden sie als Inkarnation des Bösen dargestellt, was nicht hilfreich ist, wenn man zwei Tage später bei ihnen vor der Tür steht und Gas oder Öl kaufen möchte.
WELT: Katar ist noch ein sehr junges Land, jünger als Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann. Es wurde 1971 gegründet. Muss Katar noch vieles lernen?
Fromm: Selbstverständlich. Ich habe nur große Zweifel daran, dass sie dabei auf uns als Lehrer warten, man holt sich Wissen und Inspirationen aus der ganzen Welt. Katar lernt jeden Tag. Viele Projekte machen sie zum ersten Mal. Sie sind dabei notgedrungen risikofreudiger und bereit, ständig anzupassen und nachzubessern.

WELT: Kern vieler Kritiker sind fehlende Menschenrechte in Katar. Während China und Russland bei diesem Thema in den vergangenen Jahren durchschlüpften, sagen die Leute bei Katar nun: Stopp, jetzt reicht’s. Woran liegt das?
Fromm: Bei Katar haben viele noch die Meinung, man könne sich diesem Land und seinen Bewohnern überlegen fühlen. Das Land ist erstens sehr klein und sollte daher in den Augen vieler dem Muster folgen, das wir ihnen vorgeben. Zweitens werden arabische Gesellschaften oft generell als rückständig empfunden und sollen sozusagen zu unserer Moderne aufschließen. Diese kolonial gefärbte Denkweise halte ich für gefährlich, weil man falsche Erwartungen hegt und früher oder später Konflikte hervorruft.
WELT: Angeworbene Gastarbeiter sollen auf WM-Baustellen zu Tode gekommen sein. Die Zahlen gehen in die Tausende. Der Emir hat Reformen versprochen, umgesetzt aber wurden sie kaum.
Fromm: Doch, doch, das wurden sie. Es hat sich, auch als Reaktion auf den internationalen Druck, einiges maßgeblich verbessert. Trotzdem leben die meisten Arbeiter weiterhin unter teils schwierigen Bedingungen in Massenunterkünften. Es gibt mittlerweile jedoch einen flächendeckenden Mindestlohn, der ist niedrig, wurde aber gerade erhöht. Es wurden Anlaufstellen geschaffen, wo sich Arbeiter melden können, die Opfer von Ausbeutung geworden sind. Die Schwierigkeiten stecken in der flächendeckenden Anwendung der Gesetze. Wenn Sie beispielsweise Hausangestellte sind und das Haus gar nicht verlassen können, ohne von Ihrem Arbeitgeber geschlagen zu werden, dann können Sie de facto auch nicht zur Polizei gehen. An dieser Stelle möchte ich aber darauf hinweisen, dass es diese Fälle auch in Deutschland, Österreich oder Schweden gibt und auch in unseren Gesellschaften Fälle von Menschenhandel und Ausbeutung an der Tagesordnung sind, etwa im Kontext der Prostitution.
WELT: Kennen Sie die „Cards of Qatar“? Das ist ein Quartettspiel mit toten Arbeitern.
Fromm: Nein, das kenne ich nicht. Wenn die Kontrollen und die Ausbildung der Arbeiter besser wären, würden sicher weniger schwere Unfälle passieren, aber solche Strukturen lassen sich nicht über Nacht ändern. Meines Wissens beziehen sich die schärfsten Kritiker auf Fälle aus der Vergangenheit, sodass anscheinend auch in diesem Punkt eine Verbesserung der Situation eingetreten ist. Mich würde interessieren, ob auf den von deutschen Baufirmen betreuten WM-Baustellen tatsächlich weniger Menschen zu Schaden gekommen sind als im katarischen Durchschnitt, denn die Verantwortung für die Sicherheitsprobleme liegt nicht nur beim Staat, sondern auch bei den beteiligten internationalen Firmen. Leider fehlen hier grundsätzlich verlässliche Zahlen.
WELT: Acht WM-Stadien in einem so kleinen Land. Wie nachhaltig ist das?
Fromm: Das ist ein Punkt, bei dem ich mich sofort der Kritik anschließe. Ökologisch wird diese WM eine Katastrophe. Alle werden mit dem Flugzeug anreisen, die Infrastruktur vor Ort ist nach wie vor unheimlich CO₂-intensiv. Ob dann der Abriss einiger Stadien umwelttechnisch noch ins Gewicht fällt, kann ich nicht beurteilen. Ich stelle nur fest: Ökologisch betrachtet wird das eine sehr gestrige WM. Aber bei uns sind ja auch die Volksfeste von der Energiesparverordnung ausgenommen. Wo man Spaß haben soll, wird nicht der Stecker gezogen.
WELT: Ein Punkt in der Liste der Vorwürfe lautet: Katar ist das Land der Kamelrennen, nicht des Fußballs. Was soll das also mit der Fußball-WM in der Wüste?
Fromm: Das ist dieser Alltagsrassismus, der verkennt, dass die Menschen in den arabischen Staaten unheimlich große Fußballfans sind. Viele verfolgen die europäischen Ligen sehr aufmerksam, garantiert mehr, als sich zu Kamelrennen treffen. Das ist kein künstliches Event. Die Liga in Katar ist so alt wie die Bundesliga und die Fußballbegeisterung groß.
WELT: Angehörige der LGBTQ-Community berichten davon, inhaftiert und misshandelt worden zu sein. Katars WM-Botschafter hat gesagt, Homosexuelle hätten quasi einen Hirnschaden und bräuchten Heilung.
Fromm: Das ist natürlich eine völlig untragbare Aussage und zum jetzigen Zeitpunkt maximal ungeschickt für das WM-Marketing. Leider ist diese Ansicht nicht nur in Katar noch weitverbreitet.
WELT: Wie ist die Situation der Homosexuellen in Katar aus Ihrer Sicht?
Fromm: Wie in vielen Staaten der Welt werden in Katar sexuelle Minderheiten nicht geschützt, sondern kriminalisiert. Als homosexueller Mensch kann man dort nicht offen leben, wird aber in der Regel nicht aktiv verfolgt, wenn es lediglich den privaten Bereich betrifft, das gilt insbesondere für Touristen. Die Schwierigkeiten der betroffenen Personen vor Ort sollen damit nicht verharmlost werden, im regionalen Kontext kann die Situation aber kaum überraschen. Einen Aspekt sollten wir bei dieser Diskussion nicht vergessen: Das flächendeckende Verbot von Homosexualität wurde von den europäischen Kolonialherren in die arabische Welt importiert. Deshalb sollte man bei dem Thema vielleicht nicht ganz so heftig draufhauen.
WELT: Kann Katar noch eine Imagekorrektur vornehmen?
Fromm: Das ist aktuell schwer vorstellbar. In der deutschen Bevölkerung existieren sehr viele Berührungsängste gegenüber der arabischen Welt und Vorbehalte gegenüber den reichen Golfstaaten. Die Tatsache, dass Doha im Vergleich zu Dubai weniger stark von Touristen geprägt ist und somit die von Westeuropa abweichenden sozialen Normen noch stärker sichtbar sind, macht es Katar auch vor dem Hintergrund der islamkritischen Diskurse in Europa ziemlich schwer, sich aus der Bösewichtrolle zu befreien. Ich gehe dennoch davon aus, dass sich die Diskussion spätestens nach der WM beruhigen wird und man in anderen Kontexten weniger kritisch mit Katar umgeht, zum Beispiel, wenn es um Gaslieferungen geht. Das wird auch das Image Katars in der Bevölkerung in Zukunft wieder positiv beeinflussen.
WELT: Fahren Sie nach Katar und schauen sich die WM an?
Fromm: Nein, ich war noch bei keiner Fußball-Weltmeisterschaft. Ich fahre lieber nach der WM dorthin, denn ich bin sehr gespannt, die baulichen und sozialen Veränderungen im Land zu sehen. Nächste Woche halte ich online einen Vortrag an der deutschen Schule in Doha. Mal sehen, wie die jungen Leute dort der Fußball-WM entgegensehen.

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