„Ich habe große Zweifel, dass Katar auf uns als Lehrer wartet“ (Ich auch)
Von Stefan Frommann, Chefreporter
Der Politologe Nicolas Fromm gilt als einer der führenden
Katar-Experten in Deutschland – und hält die aktuelle Kritik am
Ausrichter der Fußball-WM nicht nur für maßlos überzogen, sondern auch
für naiv und inkonsequent. Speziell Nancy Faeser zeige große Unkenntnis
von der Region.
Ganz
Deutschland diskutiert über einen Golfstaat, auf den man im Frühjahr
noch als Gaslieferant hoffte, deutsche Fußball-Fans rufen zum Boykott
der Weltmeisterschaft in Katar auf. Es ist geradezu eine Hysterie um den
WM-Austragungsort entstanden. Nicolas Fromm ist Politikwissenschaftler
an der Bundeswehr-Universität in Hamburg mit dem Forschungsschwerpunkt
arabische Golfstaaten, speziell Katar. Fromm gilt als der führende
Katar-Experte in Deutschland. Er hat das Buch „Katar: Sand, Geld und
Spiele“ geschrieben und warnt vor einem unsachlichen Umgang mit dem
Emirat.
WELT: War Ihr Buch eine Auftragsarbeit, oder warum haben Sie es geschrieben?
Nicolas Fromm:
Als ich meine Doktorarbeit über Katar geschrieben habe, musste ich
feststellen, dass die deutschsprachige Publikationslage sehr dünn ist.
Es gibt auf Deutsch kaum verlässliche Informationen zu Katar. Daher habe
ich mich entschieden, meine Informationen und Ergebnisse in
zugänglicher Form aufzuschreiben.
WELT: Also bekommen Sie kein Geld aus Katar? Oder hat Katar in irgendeiner Weise auf Sie eingewirkt?
Fromm:
Nein. Jeder, der das Buch gelesen hat, weiß, dass es keine
Auftragsarbeit von Katar gewesen sein kann, denn ich nehme das Land für
nichts in Schutz. Ich gehe nur sachlicher mit ihm um als viele im
Moment.
WELT: Erst war Robert Habeck in Katar und bat um
Gas, dann kam Nancy Faeser und bat darum, Touristen anständig zu
behandeln. So einen ungewöhnlichen Wunsch sprach vor einer WM noch nie
ein Politiker aus.
Fromm:
Ja, das zeugt von einem sehr großen Misstrauen, gleichzeitig auch von
einer großen Unkenntnis oder Unsicherheit im Umgang mit der Region. Es
stimmt mich nachdenklich, diese Unsicherheit bei Personen zu beobachten,
die die Verbindung zu Katar allein ihres Amtes wegen eigentlich
konstruktiv mitgestalten sollten. Somit ist es auch Ausdruck einer etwas
diffusen Erwartungshaltung, mit der sich Katar derzeit international
konfrontiert sieht.
WELT: War es richtig, Katar die Fußball-WM ausrichten zu lassen?
Fromm:
Das möchte ich nicht pauschal bewerten, denn letztlich geht es um eine
Diskussion der Kriterien, nach denen internationale Großveranstaltungen
vergeben werden sollten. Mit Blick auf Katar sehe ich positive und
negative Aspekte. Katar hat sich seit Jahren konsequent um
internationale Aufmerksamkeit bemüht und eine gute Bewerbung vorgelegt,
sodass wir in diesem Jahr zum ersten Mal eine WM in einem arabischen
Land verfolgen können. Das halte ich im Hinblick auf die extrem
verbreitete Fußball-Fan-Kultur in den arabischen Staaten für überfällig,
denn der internationale Sport ist nicht Eigentum der westlichen
Industriestaaten. Die meisten Kritikpunkte sind durch die aktuelle
Debatte ja bekannt, mich wundert, dass gerade in Zeiten der Energieknappheit und des Klimabewusstseins kaum auf die erwartbar verheerende ökologische Bilanz der WM 2022 hingewiesen wird.
WELT: Wie kommt es, dass Katar für so vieles am Pranger steht?
Fromm:
Für sportpolitische Akteure macht es gerade durchaus Sinn, Katar als
„Bösewicht“ zu verwenden. Weil Katar für alles steht, was man am
internationalen Fußball aus Fan-Perspektive zu Recht bemängelt. Dass man
große Vereine aufkauft, dass man für eine komplette Eskalation der
Transfersummen sorgt und auch für eine Loslösung von der lokalen
Fan-Basis hin zu einer klaren internationalen Marktorientierung. Katar
ist damit nicht allein, spielt seine Rolle aber sehr konsequent. Vereine
wie der FC Bayern München haben an dieser Entwicklung jedoch sicher
einen ebenso großen Anteil wie der Emir von Katar.
WELT: Also verstehen Sie die Fans der Bundesligisten, die möchten, dass Deutschland die WM boykottiert?
Fromm: Ich verstehe das, halte es für politisch aber überhaupt nicht angemessen.
WELT: Warum?
Fromm:
Erstens ist Katar ein westlicher Verbündeter und zweitens ein Land, das
für uns ganz konkret wichtig und relevant ist, was kaum kommuniziert
wird. Katar vertritt diplomatisch die deutschen Interessen in Afghanistan, es
bildet eine Brücke zu ganz vielen Akteuren, zu denen Deutschland
überhaupt keine eigenen Kontakte hat. Auch abgesehen von der Frage der
Energieversorgung gibt es also viele Situationen, in denen wir dieses
Land wirklich brauchen, deshalb ist es merkwürdig, wie ungehalten Kritik
an der WM derzeit auch aus der Bundesregierung formuliert wird. Katar
ausgerechnet jetzt für lange bekannte Eigenschaften zu bestrafen wäre
Ausdruck großer Naivität und Inkonsequenz, immerhin arbeiten wir
tagtäglich sehr eng mit autokratischen Regimen in unfreien Ländern
zusammen, ohne dass wir uns im Geringsten daran stören. Deutsche Firmen
haben an den Vorbereitungen zur WM erheblich mitverdient.
WELT: Rühren die harten Urteile über Katar auch daher, dass die Menschen zu wenig über das Land wissen?
Fromm:
Man weiß voneinander in der Tat sehr wenig. Beide Seiten haben sich in
der Vergangenheit zu wenig bemüht, in einen echten Austausch zu kommen.
Es gab stets nur wirtschaftlichen Austausch, die Bevölkerungen Europas
und der Golfregion sind sich ziemlich fremd geblieben. Das liegt
natürlich auch an uns, weil es teils starke Vorbehalte gegen die reichen
Golfstaaten gibt. Oft werden sie als Inkarnation des Bösen dargestellt,
was nicht hilfreich ist, wenn man zwei Tage später bei ihnen vor der
Tür steht und Gas oder Öl kaufen möchte.
WELT: Katar
ist noch ein sehr junges Land, jünger als Lothar Matthäus und Jürgen
Klinsmann. Es wurde 1971 gegründet. Muss Katar noch vieles lernen?
Fromm:
Selbstverständlich. Ich habe nur große Zweifel daran, dass sie dabei
auf uns als Lehrer warten, man holt sich Wissen und Inspirationen aus
der ganzen Welt. Katar lernt
jeden Tag. Viele Projekte machen sie zum ersten Mal. Sie sind dabei
notgedrungen risikofreudiger und bereit, ständig anzupassen und
nachzubessern.
WELT: Kern vieler Kritiker sind
fehlende Menschenrechte in Katar. Während China und Russland bei diesem
Thema in den vergangenen Jahren durchschlüpften, sagen die Leute bei
Katar nun: Stopp, jetzt reicht’s. Woran liegt das?
Fromm:
Bei Katar haben viele noch die Meinung, man könne sich diesem Land und
seinen Bewohnern überlegen fühlen. Das Land ist erstens sehr klein und
sollte daher in den Augen vieler dem Muster folgen, das wir ihnen
vorgeben. Zweitens werden arabische Gesellschaften oft generell als
rückständig empfunden und sollen sozusagen zu unserer Moderne
aufschließen. Diese kolonial gefärbte Denkweise halte ich für
gefährlich, weil man falsche Erwartungen hegt und früher oder später
Konflikte hervorruft.
WELT: Angeworbene Gastarbeiter sollen auf
WM-Baustellen zu Tode gekommen sein. Die Zahlen gehen in die Tausende.
Der Emir hat Reformen versprochen, umgesetzt aber wurden sie kaum.
Fromm:
Doch, doch, das wurden sie. Es hat sich, auch als Reaktion auf den
internationalen Druck, einiges maßgeblich verbessert. Trotzdem leben die
meisten Arbeiter weiterhin unter teils schwierigen Bedingungen in
Massenunterkünften. Es gibt mittlerweile jedoch einen flächendeckenden
Mindestlohn, der ist niedrig, wurde aber gerade erhöht. Es wurden
Anlaufstellen geschaffen, wo sich Arbeiter melden können, die Opfer von Ausbeutung
geworden sind. Die Schwierigkeiten stecken in der flächendeckenden
Anwendung der Gesetze. Wenn Sie beispielsweise Hausangestellte sind und
das Haus gar nicht verlassen können, ohne von Ihrem Arbeitgeber
geschlagen zu werden, dann können Sie de facto auch nicht zur Polizei
gehen. An dieser Stelle möchte ich aber darauf hinweisen, dass es diese
Fälle auch in Deutschland, Österreich oder Schweden gibt und auch in
unseren Gesellschaften Fälle von Menschenhandel und Ausbeutung an der
Tagesordnung sind, etwa im Kontext der Prostitution.
WELT: Kennen Sie die „Cards of Qatar“? Das ist ein Quartettspiel mit toten Arbeitern.
Fromm:
Nein, das kenne ich nicht. Wenn die Kontrollen und die Ausbildung der
Arbeiter besser wären, würden sicher weniger schwere Unfälle passieren,
aber solche Strukturen lassen sich nicht über Nacht ändern. Meines
Wissens beziehen sich die schärfsten Kritiker auf Fälle aus der
Vergangenheit, sodass anscheinend auch in diesem Punkt eine Verbesserung
der Situation eingetreten ist. Mich würde interessieren, ob auf den von
deutschen Baufirmen betreuten WM-Baustellen tatsächlich weniger
Menschen zu Schaden gekommen sind als im katarischen Durchschnitt, denn
die Verantwortung für die Sicherheitsprobleme liegt nicht nur beim
Staat, sondern auch bei den beteiligten internationalen Firmen. Leider
fehlen hier grundsätzlich verlässliche Zahlen.
WELT: Acht WM-Stadien in einem so kleinen Land. Wie nachhaltig ist das?
Fromm: Das ist ein Punkt, bei dem ich mich sofort der Kritik anschließe. Ökologisch wird diese WM eine Katastrophe.
Alle werden mit dem Flugzeug anreisen, die Infrastruktur vor Ort ist
nach wie vor unheimlich CO₂-intensiv. Ob dann der Abriss einiger Stadien
umwelttechnisch noch ins Gewicht fällt, kann ich nicht beurteilen. Ich
stelle nur fest: Ökologisch betrachtet wird das eine sehr gestrige WM.
Aber bei uns sind ja auch die Volksfeste von der Energiesparverordnung
ausgenommen. Wo man Spaß haben soll, wird nicht der Stecker gezogen.
WELT: Ein
Punkt in der Liste der Vorwürfe lautet: Katar ist das Land der
Kamelrennen, nicht des Fußballs. Was soll das also mit der Fußball-WM in
der Wüste?
Fromm: Das ist dieser
Alltagsrassismus, der verkennt, dass die Menschen in den arabischen
Staaten unheimlich große Fußballfans sind. Viele verfolgen die
europäischen Ligen sehr aufmerksam, garantiert mehr, als sich zu
Kamelrennen treffen. Das ist kein künstliches Event. Die Liga in Katar
ist so alt wie die Bundesliga und die Fußballbegeisterung groß.
WELT: Angehörige
der LGBTQ-Community berichten davon, inhaftiert und misshandelt worden
zu sein. Katars WM-Botschafter hat gesagt, Homosexuelle hätten quasi
einen Hirnschaden und bräuchten Heilung.
Fromm:
Das ist natürlich eine völlig untragbare Aussage und zum jetzigen
Zeitpunkt maximal ungeschickt für das WM-Marketing. Leider ist diese
Ansicht nicht nur in Katar noch weitverbreitet.
WELT: Wie ist die Situation der Homosexuellen in Katar aus Ihrer Sicht?
Fromm: Wie in vielen Staaten der Welt werden in Katar sexuelle Minderheiten nicht geschützt, sondern kriminalisiert. Als homosexueller Mensch
kann man dort nicht offen leben, wird aber in der Regel nicht aktiv
verfolgt, wenn es lediglich den privaten Bereich betrifft, das gilt
insbesondere für Touristen. Die Schwierigkeiten der betroffenen Personen
vor Ort sollen damit nicht verharmlost werden, im regionalen Kontext
kann die Situation aber kaum überraschen. Einen Aspekt sollten wir bei
dieser Diskussion nicht vergessen: Das flächendeckende Verbot von
Homosexualität wurde von den europäischen Kolonialherren in die
arabische Welt importiert. Deshalb sollte man bei dem Thema vielleicht
nicht ganz so heftig draufhauen.
WELT: Kann Katar noch eine Imagekorrektur vornehmen?
Fromm:
Das ist aktuell schwer vorstellbar. In der deutschen Bevölkerung
existieren sehr viele Berührungsängste gegenüber der arabischen Welt und
Vorbehalte gegenüber den reichen Golfstaaten. Die Tatsache, dass Doha
im Vergleich zu Dubai weniger stark von Touristen geprägt ist und somit
die von Westeuropa abweichenden sozialen Normen noch stärker sichtbar
sind, macht es Katar auch vor dem Hintergrund der islamkritischen
Diskurse in Europa ziemlich schwer, sich aus der Bösewichtrolle zu
befreien. Ich gehe dennoch davon aus, dass sich die Diskussion
spätestens nach der WM beruhigen wird und man in anderen Kontexten
weniger kritisch mit Katar umgeht, zum Beispiel, wenn es um
Gaslieferungen geht. Das wird auch das Image Katars in der Bevölkerung
in Zukunft wieder positiv beeinflussen.
WELT: Fahren Sie nach Katar und schauen sich die WM an?
Fromm: Nein, ich war noch bei keiner Fußball-Weltmeisterschaft. Ich
fahre lieber nach der WM dorthin, denn ich bin sehr gespannt, die
baulichen und sozialen Veränderungen im Land zu sehen. Nächste Woche
halte ich online einen Vortrag an der deutschen Schule in Doha. Mal
sehen, wie die jungen Leute dort der Fußball-WM entgegensehen.
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