21 November 2022

Die WM im Fernsehen verweigern? Ich schaue! (WELT)

Die WM im Fernsehen verweigern? Ich schaue!
Denn ich schaue.
Nein, nicht alles. Ich schaue nur richtigen Fußball, also nicht Katar gegen Ecuador. Auch so eine WM-Eröffnungsfeier boykottiere ich. Ich will nichts hören und sehen von den Willkommensgrüßen aus einem Land, in dem der Fußball so viel Tradition hat wie Glatteis und Pulverschnee und in dem der Fifa-Boss dem Emir vermutlich beibringen muss, dass ein Fußball weder achteckig noch innen aus Hartgummi und außen aus Sperrholz ist.
Ich will diesen gescherten Glatzkopf Infantino auf der Tribüne nicht sehen, und auch nicht diese haarigen Mafiantinos, Verbandspaten, WM-Botschafter und sonstigen Drahtzieher, die mit der Devise „Geld spielt keine Rolex“ eine WM nach Katar deichseln und jetzt ungestraft in der VIP-Loge sitzen – während der Fan, wenn er den Fernseher einschaltet, von den Lolas und Fahnenträgern der Moral als Mittäter an der Torlatte aufgehängt wird.
Wie entgeht man der gesellschaftlichen Ächtung? 70 Prozent der Deutschen haben darauf in einer repräsentativen Umfrage dieser Tage eine klare Antwort gegeben: Sie haben demnach kein bisschen vor, sich die WM-Spiele anzutun, eher stürzen sie sich mit dem Kopf voraus in den Bildschirm. Das sind die Aufrechten.
Der Rest sind wir.
Wir sind lumpige 30 Prozent, und die Aufrechten rümpfen die Nase, als hätten wir lange nicht mehr geduscht. Wir stehen da wie eine Horde von Ignoranten und intellektuell Limitierten, die einen Ball auf dem Hals haben und nur von der einen Eckfahne bis zur anderen denken – und die sich frühestens aufregen, wenn Katar gegen das Menschenrecht auf alkoholhaltiges Bier verstößt und den Budweiser-Ausschank in den WM-Stadien beschränkt.
Pfui Deibel, ekeln sich die Fernsehgegner und zücken den moralischen Effe-Finger der modernen Empörungsgesellschaft. Sie sind fassungslos, dass es Menschen gibt, die ohne schlechtes Gewissen Fußball aus Katar schauen und sich nicht an unsere größte Tugend halten: Wir Deutsche gelten als das einzige Volk, das ein schlechtes Gewissen mehr genießt als eine schöne Frau.
Bei der Fußball-WM halte ich es mit Woody Allen
Auch schöner Fußball ist ein Genuss. Er macht so viel Spaß, dass er zur Sucht ausarten kann. Falls die Aufrechten in der Causa Katar von diesem Gefühl keine Ahnung haben, sollten sie Peter Fonda fragen. Der sagt in „Easy Rider“ zu Jack Nicholson, während er sich genüsslich seinen Stängel aus Gras dreht: „Morgens ein Joint, und der Tag ist dein Freund.“
Auch mit dem Ballspiel im Gras kann man sich der Realität des Alltags und der düsteren Welt entziehen, oder der Verlogenheit in Sachen Katar. Alle Protagonisten haben bei der skandalösen WM-Vergabe tatenlos zugeschaut, auch der DFB und die Wirtschaft, die dicke Deals witterte. Und ARD und ZDF übertragen uns jetzt geschäftstüchtig die WM und gleichzeitig kritische Dokus, die salopp gesagt in der Botschaft gipfeln: „Wer einschaltet, ist selbst schuld.“ Ich schalte ein – und halte mich fest an Woody Allen, den alten Stadtneurotiker, der gesagt hat: „Ich hasse die Realität, aber wo sonst gibt es ein gutes Steak?“
Ja, vieles ist krank, absurd, obszön und widerlich in der Welt, in Katar und im Fußball. Ich habe als Journalist zehn WM-Turniere besucht. Bis 2018. Bei Putin habe ich verweigert wie ein Pferd vor dem Oxer, so wie jetzt in Katar. Aber den Fußball im Fernsehen verweigern?
Ich schaue.
Ich will beispielsweise noch mal Lionel Messi sehen. „Messi spielen zu sehen ist besser als Sex“, sagte schon Maradona und setzte sich vor den Bildschirm. Wie ich als Bub, als Pelé spielte. Ein Chronist der WM 1958 beschrieb Pelés Magie so: „Das ist ein Fußball wie Jazzmusik, aber ohne Noten, nur nach dem Ohr, mit dem Herz, dem Gefühl.“ Als den Dichtern bei Pelé dann die Worte ausgingen, wurde das Fernsehen erfunden. Und die Menschen nahmen während jeder WM ihren Urlaub vor dem Bildschirm daheim im Wohnzimmer oder in der Kneipe nebenan.
Man muss bei Umfragen höllisch vorsichtig sein
Heute? Andreas Rettig hat sich gemeldet, der Ex-Chef des FC St. Pauli. Er will während der WM nur in Wirtschaften gehen, „die den Slogan ,Kein Katar in meiner Kneipe‘ umsetzen“. Rettig glaubt, dass er die Welt verbessert, wenn er in der Kneipe nur gut isst, gut trinkt und keinen Fußball schaut. Vermutlich glaubt er auch, dass man eine Dose Bier durch gutes Zureden dazu bringen kann, sich selbst zu öffnen. Ich glaube es nicht. Ich glaube auch nicht, dass 70 Prozent der Deutschen nicht einschalten.
Man muss bei Umfragen höllisch vorsichtig sein. „Lesen Sie die ,Bild‘-Zeitung?“, wurden die Deutschen einmal gefragt. „Nein“, antworteten damals sogar 100 Prozent, und zu den ungelösten Rätseln der Menschheit gehört seither die Frage, warum „Bild“ trotzdem jeden Tag eine Millionenauflage drucken muss. Wird da womöglich heimlich gelesen? Schaut Andreas Rettig, wenn Deutschland am Mittwoch auf Japan trifft, heimlich fern, im abgedunkelten Hinterzimmer seiner Lieblingskneipe, getarnt mit Schlapphut und Sonnenbrille? Flüchtet er nach dem Spiel unerkannt durch den Lichtschacht im Keller?
Diese WM wird für uns Deutsche zur inneren Zerreißprobe, und keiner ist tiefer in sich gespalten als unser Wirtschaftsminister. Robert Habeck verbeugt sich für Gas aus Katar vor dem Emir, hält gleichzeitig die WM-Vergabe an Katar für „eine bekloppte Idee“ – aber weil es noch viel bekloppter wäre, bei der WM keinen Fußball anzuschauen, hat er jetzt kleinlaut eingeräumt, dass ihn zwischendurch vermutlich doch die Lust übermannt und er zum Mittäter wird. Ach ja, ähnlich äußerte sich zuletzt übrigens dann auch Rettig.
Schaun mer mal, sagt Habeck also. Wir sind beim Schaun vermutlich mehr, als viele denken.

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