Denn ich schaue.
Nein, nicht alles. Ich schaue nur richtigen Fußball, also nicht Katar gegen Ecuador.
Auch so eine WM-Eröffnungsfeier boykottiere ich. Ich will nichts hören
und sehen von den Willkommensgrüßen aus einem Land, in dem der Fußball
so viel Tradition hat wie Glatteis und Pulverschnee und in dem der Fifa-Boss dem Emir vermutlich beibringen muss, dass ein Fußball weder achteckig noch innen aus Hartgummi und außen aus Sperrholz ist.
Ich will diesen gescherten Glatzkopf Infantino auf der Tribüne nicht
sehen, und auch nicht diese haarigen Mafiantinos, Verbandspaten,
WM-Botschafter und sonstigen Drahtzieher, die mit der Devise „Geld
spielt keine Rolex“ eine WM nach Katar deichseln und jetzt ungestraft in
der VIP-Loge sitzen – während der Fan, wenn er den Fernseher
einschaltet, von den Lolas und Fahnenträgern der Moral als Mittäter an
der Torlatte aufgehängt wird.
Wie entgeht man der gesellschaftlichen Ächtung? 70 Prozent der
Deutschen haben darauf in einer repräsentativen Umfrage dieser Tage eine
klare Antwort gegeben: Sie haben demnach kein bisschen vor, sich die
WM-Spiele anzutun, eher stürzen sie sich mit dem Kopf voraus in den
Bildschirm. Das sind die Aufrechten.
Der Rest sind wir.
Wir sind lumpige 30 Prozent, und die Aufrechten rümpfen die Nase, als
hätten wir lange nicht mehr geduscht. Wir stehen da wie eine Horde von
Ignoranten und intellektuell Limitierten, die einen Ball auf dem Hals
haben und nur von der einen Eckfahne bis zur anderen denken – und die
sich frühestens aufregen, wenn Katar gegen das Menschenrecht auf
alkoholhaltiges Bier verstößt und den Budweiser-Ausschank in den
WM-Stadien beschränkt.
Pfui Deibel, ekeln sich die Fernsehgegner und zücken den moralischen
Effe-Finger der modernen Empörungsgesellschaft. Sie sind fassungslos,
dass es Menschen gibt, die ohne schlechtes Gewissen Fußball aus Katar
schauen und sich nicht an unsere größte Tugend halten: Wir Deutsche
gelten als das einzige Volk, das ein schlechtes Gewissen mehr genießt
als eine schöne Frau.
Bei der Fußball-WM halte ich es mit Woody Allen
Auch schöner Fußball ist ein Genuss. Er macht so viel Spaß, dass er
zur Sucht ausarten kann. Falls die Aufrechten in der Causa Katar von
diesem Gefühl keine Ahnung haben, sollten sie Peter Fonda fragen. Der
sagt in „Easy Rider“ zu Jack Nicholson, während er sich genüsslich
seinen Stängel aus Gras dreht: „Morgens ein Joint, und der Tag ist dein
Freund.“
Auch mit dem Ballspiel im Gras kann man sich der Realität des Alltags
und der düsteren Welt entziehen, oder der Verlogenheit in Sachen Katar.
Alle Protagonisten haben bei der skandalösen WM-Vergabe tatenlos
zugeschaut, auch der DFB und die Wirtschaft, die dicke Deals witterte.
Und ARD und ZDF übertragen uns jetzt geschäftstüchtig die WM und
gleichzeitig kritische Dokus, die salopp gesagt in der Botschaft
gipfeln: „Wer einschaltet, ist selbst schuld.“ Ich schalte ein – und
halte mich fest an Woody Allen, den alten Stadtneurotiker, der gesagt
hat: „Ich hasse die Realität, aber wo sonst gibt es ein gutes Steak?“
Ja, vieles ist krank, absurd, obszön und widerlich in der Welt, in
Katar und im Fußball. Ich habe als Journalist zehn WM-Turniere besucht.
Bis 2018. Bei Putin habe ich verweigert wie ein Pferd vor dem Oxer, so
wie jetzt in Katar. Aber den Fußball im Fernsehen verweigern?
Ich schaue.
Ich will beispielsweise noch mal Lionel Messi
sehen. „Messi spielen zu sehen ist besser als Sex“, sagte schon
Maradona und setzte sich vor den Bildschirm. Wie ich als Bub, als Pelé
spielte. Ein Chronist der WM 1958 beschrieb Pelés Magie so: „Das ist ein
Fußball wie Jazzmusik, aber ohne Noten, nur nach dem Ohr, mit dem Herz,
dem Gefühl.“ Als den Dichtern bei Pelé dann die Worte ausgingen, wurde
das Fernsehen erfunden. Und die Menschen nahmen während jeder WM ihren
Urlaub vor dem Bildschirm daheim im Wohnzimmer oder in der Kneipe
nebenan.
Man muss bei Umfragen höllisch vorsichtig sein
Heute? Andreas Rettig hat sich gemeldet, der Ex-Chef des FC St. Pauli.
Er will während der WM nur in Wirtschaften gehen, „die den Slogan ,Kein
Katar in meiner Kneipe‘ umsetzen“. Rettig glaubt, dass er die Welt
verbessert, wenn er in der Kneipe nur gut isst, gut trinkt und keinen
Fußball schaut. Vermutlich glaubt er auch, dass man eine Dose Bier durch
gutes Zureden dazu bringen kann, sich selbst zu öffnen. Ich glaube es
nicht. Ich glaube auch nicht, dass 70 Prozent der Deutschen nicht
einschalten.
Man muss bei Umfragen höllisch vorsichtig sein. „Lesen Sie die
,Bild‘-Zeitung?“, wurden die Deutschen einmal gefragt. „Nein“,
antworteten damals sogar 100 Prozent, und zu den ungelösten Rätseln der
Menschheit gehört seither die Frage, warum „Bild“ trotzdem jeden Tag
eine Millionenauflage drucken muss. Wird da womöglich heimlich gelesen?
Schaut Andreas Rettig, wenn Deutschland am Mittwoch auf Japan trifft,
heimlich fern, im abgedunkelten Hinterzimmer seiner Lieblingskneipe,
getarnt mit Schlapphut und Sonnenbrille? Flüchtet er nach dem Spiel
unerkannt durch den Lichtschacht im Keller?
Diese WM wird für uns Deutsche zur inneren Zerreißprobe, und keiner
ist tiefer in sich gespalten als unser Wirtschaftsminister. Robert
Habeck verbeugt sich für Gas aus Katar vor dem Emir, hält gleichzeitig
die WM-Vergabe an Katar für „eine bekloppte Idee“ – aber weil es noch
viel bekloppter wäre, bei der WM keinen Fußball anzuschauen, hat er
jetzt kleinlaut eingeräumt, dass ihn zwischendurch vermutlich doch die
Lust übermannt und er zum Mittäter wird. Ach ja, ähnlich äußerte sich
zuletzt übrigens dann auch Rettig.
Schaun mer mal, sagt Habeck also. Wir sind beim Schaun vermutlich mehr, als viele denken.
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