03 November 2022

Laufzeitverlängerung Die 166 Dokumente, die den Mythos vom fairen AKW-Entscheid entlarven (WELT+)

Laufzeitverlängerung
Die 166 Dokumente, die den Mythos vom fairen AKW-Entscheid entlarven (WELT+)
Wirtschaftsredakteur
Bei der Frage der Atomlaufzeitverlängerung gab es keine ergebnisoffene Prüfung. Darauf deuten interne Dokumente der Bundesregierung hin, die WELT analysiert hat. Zudem zeigt sich, dass Robert Habeck sogar gegen die Einschätzung der eigenen Fachleute handelte.
Wie viele Machtworte muss der Bundeskanzler noch sprechen? In der vergangenen Woche hatte Olaf Scholz (SPD) den Weiterbetrieb der letzten drei Kernkraftwerke im Alleingang beschlossen – und damit einen langen Streit in der Ampelkoalition unter Einsatz seiner Richtlinienkompetenz beendet. Die Meiler Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland sollen nun nicht zum Jahresende abgeschaltet, sondern bis zum 15. April weiterbetrieben werden – „längstens“, wie es im Schreiben des Kanzlers an seine Fachminister heißt.

Ob der deutsche Atomausstieg mit diesem kleinen Nachschlag ein für alle Mal beendet ist, wie vor allem die Grünen hoffen, bleibt abzuwarten. Zweifel sind aber angebracht. Seit dem Inkrafttreten des ersten Ausstiegsgesetzes vor 20 Jahren mussten die Bundesbürger eine Erfahrung immer wieder machen: Nach der Atomdebatte ist vor der Atomdebatte.

Auch jetzt werden bereits wieder Stimmen laut, die eine sichere, bezahlbare und klimafreundliche Stromversorgung ohne Kernenergie für illusorisch halten. „Die Energiekrise ist am 15. April 2023 nicht vorbei“, warnt etwa der Volkswirt und Bundestagsabgeordnete Klaus Wiener (CDU), der für die Union im Ausschuss für Umwelt und nukleare Sicherheit sitzt, in der vom Bundestag herausgegebenen Zeitschrift „Das Parlament“: „Wir werden im nächsten Winter eine noch schwierigere Situation haben als in diesem.“

Seine Fraktion fordert deshalb eine Laufzeitverlängerung bis Ende 2024 plus Evaluierungsklausel, „um zu sehen, ob wir dann bereits soweit sind, komplett auf Atomkraft verzichten zu können“, sagt Wiener: „Wir sind in einer wirklich schwierigen Lage, weil wir in der größten Energiekrise aller Zeiten stecken.“
Der Atomstreit wurde durch das Machtwort des Kanzlers also wohl nur temporär befriedet, nicht beendet. Weil spätestens im Frühjahr eine Neubewertung der Versorgungslage ansteht, hat WELT AM SONNTAG in einer Kooperation mit dem Magazin „Cicero“ den atompolitischen Entscheidungsprozess der Bundesregierung seit Beginn des Ukraine-Kriegs analysiert. Der Auswertung zugrunde lagen 166 regierungsinterne Schriftwechsel, Mails und Dokumente, die das Bundesumweltministerium nach einer Anfrage auf Grundlage des Umweltinformationsgesetzes zur Verfügung stellte.

Die Herausgabe von fünf Unterlagen, darunter ein Vermerk zu den rechtlichen Aspekten einer Laufzeitverlängerung aus dem Juni, lehnte das Ministerium ab mit dem Verweis auf die europäische Rechtsprechung, die Ministerien einen „geschützten Raum für interne Überlegungen und Debatten“ zugesteht.

Ablehnung der Laufzeitverlängerung war bereits vorformuliert

Einem identischen Antrag zur Herausgabe von Informationen kam das von Robert Habeck (Grüne) geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz unter Missachtung der gesetzlich vorgegebenen Abgabefrist von maximal zwei Monaten bislang nicht nach. Der vorliegende Schriftverkehr zeigt aber bereits, dass die Ministerien für Wirtschaft und Umwelt die Ablehnung einer Laufzeitverlängerung weitgehend vorformuliert hatten, bevor eine intensive Prüfung des Sachverhalts stattgefunden hatte.

Das Nein zu längeren AKW-Laufzeiten stand offenbar sogar im Widerspruch zu Einschätzungen von Fachbeamten des Wirtschaftsministeriums selbst. Für die weitere Atomdiskussion in der Energiekrise verheißt das nichts Gutes.

So hatte die Arbeitsgruppe S I 2 („Nationale Angelegenheiten der nuklearen Sicherheit“) im Umweltministerium bereits am 1. März einen ersten „Vermerk“ über die rechtlichen und technischen Hürden einer Laufzeitverlängerung erstellt. Drei Tage darauf, am 4. März um 21 Uhr, lag den Staatssekretären Patrick Graichen im Wirtschafts- und Stefan Tidow im Umweltministerium der fünfseitige Entwurf eines umfassenden Argumentationspapiers vor, das die Ablehnung einer Laufzeitverlängerung begründete.

Dieses bereits mit „Prüfung“ überschriebene Papier nahm in Gliederung, Argumentationslinie und Fazit den „Prüfvermerk“ weitgehend vorweg, mit dem Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) am 8. März ihre Ablehnung einer Laufzeitverlängerung öffentlich machten.

Zum Zeitpunkt der Formulierung dieses Entwurfs hatte jedoch ein Gespräch mit den Betreibern der Atomkraftwerke noch gar nicht stattgefunden: Diese Videoschalte war erst für den 5. März terminiert, wie das vorliegende Gesprächsprotokoll mit den Vorstandsvorsitzenden der Energiekonzerne EnBW, E.on und RWE belegt. Auch eine schriftliche Stellungnahme des für die Sicherheit der Energieversorgung zuständigen Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, traf laut Datensatz erst am 9. März ein, also mehrere Tage nach Ende der ministeriellen „Prüfung“.

Zwei Eingaben gingen der Ministererklärung vom 8. März allerdings voraus. So erklärte der AKW-Betreiber EnBW in einem Schreiben vom 2. März, dass sich die Atomanlagen „auch im internationalen Vergleich auf höchstem sicherheitstechnischem Niveau“ befänden und „der Weiterbetrieb auf diesem hohen sicherheitstechnischen Niveau erfolgen“ könne. Auch wies EnBW hier bereits auf den preisdämpfenden Effekt am Strommarkt hin. Die Einschätzungen wurden am 6. März von Eberhard Grauf und Erwin Lindauer, Experten der Reaktorsicherheitskommission (RSK), in einem Brief bestätigt.

Preissenkender Effekt zählte nicht zu den „relevanten Aspekten“

Doch im „Prüfvermerk“, den Habeck und Lemke zwei Tage später vorstellten, fanden diese Pro-Atom-Empfehlungen keinen Niederschlag. Die Entscheidung blieb im Wortlaut exakt so, wie sie die Fachbeamten eine Woche zuvor vorformuliert hatten: „Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen.“

Auf seiner Internetseite behauptet das Bundesumweltministerium, dass es „keine ideologischen Denkverbote“ gegeben habe. Bei der Prüfung „ging es um eine sachliche Betrachtung aller relevanten Aspekte“. Warum der preissenkende Effekt einer Laufzeitverlängerung nicht zu den „relevanten Aspekten“ zählte, erscheint vor dem Hintergrund der damals schon extrem hohen Strompreise verwunderlich.

Die Bundesregierung blendete diesen Aspekt auch in den Folgemonaten vollständig aus. Es blieb der Nürnberger Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm überlassen, im Oktober in einer Kurzstudie zu belegen, dass der AKW-Weiterbetrieb die Strompreise um bis zu zwölf Prozent senken würde.

Passus über erhebliches Einsparpotenzial wurde gestrichen

Dass die Nutzung der Atomkraft auch CO₂-Emissionen in erheblichem Umfang vermeiden würde, war dem Umweltministerium bekannt, wurde aber nicht kommuniziert. So hatten Ministeriale errechnet, dass die Laufzeitverlängerung „pro Jahr ab 2024 etwa 25 bis 30 Millionen Tonnen CO₂-Reduktion im deutschen Strommarkt bewirkt“. Eine Menge, die immerhin 20 Prozent des Einsparziels für die Energiewirtschaft bis 2030 ausmacht, das im Klimaschutzgesetz vorgegeben ist.

Doch dieser Passus wurde aus dem Entwurf des Prüfvermerks vom 4. März wieder gestrichen. In einem der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Frage-Antwort-Papier ist stattdessen „von nur einem sehr geringen Beitrag zur CO₂-Reduktion“ die Rede.

Sachverständige sollten es auch danach schwer haben, von der Regierung gehört zu werden. Als der Technisch-Wissenschaftliche Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, Uwe Stoll, im März im Gespräch mit WELT AM SONNTAG erklärte, er könne die sicherheitstechnischen Bedenken der Ministerien „nicht nachvollziehen“ und sei überdies dazu auch nicht konsultiert worden, zog das eine scharfe schriftliche Rüge von Gerrit Niehaus, dem Abteilungsleiter Nukleare Sicherheit im Umweltministerium nach sich, wie sich jetzt in der Schriftsammlung zeigt.

„Wir entscheiden, ob und ggf. welche Expertise wir für unsere Entscheidungen heranziehen“, blaffte Niehaus den Kerntechnikexperten an. Er halte es „für nicht angemessen, eine derartige Kritik als Leiter einer Sachverständigenorganisation zu äußern“.

„Moin Georg, vielleicht hilfreich…“

Anders als den Mitgliedern der renommiertesten kerntechnischen Einrichtungen in Deutschland fiel es den Angehörigen von Nichtregierungsorganisationen leicht, im Umweltministerium Gehör zu finden. So lieferte Carsten Pfeiffer, Leiter Strategie und Politik beim Bundesverband Neue Energiewirtschaft und zuvor in gleicher Funktion beim Bundesverband Erneuerbare Energien tätig, am 6. Juli den grün geführten Bundesministerien auf kurzem Dienstweg die ersehnte Begründung, warum der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken angeblich kaum Gas einspart.

In einer formlosen Mail („Moin Georg, vielleicht hilfreich…“) wies Pfeiffer den persönlichen Referenten des Umweltstaatssekretärs Tidow auf eine Berechnung hin, die das Analysehaus Energy Brainpool im Auftrag des Greenpeace-Ablegers Green Planet Energy erstellt hatte. Demnach würde die AKW-Laufzeitverlängerung „lediglich ein Prozent des Erdgasverbrauchs einsparen“.

Dass die Berechnung fragwürdig war, fiel unter den Tisch

Eine nachgeschobene Argumentationshilfe, die das Wirtschaftsministerium gerne annahm: Jedenfalls wurde die Zahl sofort den Fachabteilungen zur Prüfung übermittelt. Bald darauf argumentierte auch Habeck öffentlich, dass es nicht lohne, für eine Gaseinsparung von weniger als zwei Prozent das Risiko eines verlängerten AKW-Betriebs auf sich zu nehmen.

Dass die Green-Energy-Berechnung statistisch fragwürdig war, fiel unter den Tisch. Denn das Potenzial der Gaseinsparung hätte sich nicht auf die Grundgesamtheit des gesamten deutschen Verbrauchs beziehen dürfen, sondern lediglich auf die zu ersetzende Menge russischen Erdgases. Doch die Aussage, dass der Weiterbetrieb von nur drei AKWs immerhin sieben bis acht Prozent russischen Gases einsparen könnte, wollte das Umweltministerium wohl nicht verbreiten.

Dabei hatte die „Fachebene“ des Wirtschaftsministeriums gewarnt, die niedrige Prozentzahl zur Gaseinsparung öffentlich zu verwenden. „Ich würde mit 1 Prozent eher vorsichtig sein“, heißt es in der internen Mail eines Mitarbeiters an die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Habeck-Ministeriums. Denn das passe logisch nicht zur Behauptung, man werde durch die Reaktivierung von Kohlekraftwerken viel Gas einsparen.

„Während wir das Ersatzkraftwerkegesetz in den höchsten Tönen loben und uns vom Weiterbetrieb von Kohle- und Öl-Kondensationsanlagen eine riesige Gaseinsparung erhoffen, sprechen wir dem Weiterbetrieb von AKW-Kondensationsanlagen diese Eigenschaft ab“, heißt es in der Mail des Beamten aus der Fachabteilung. Er müsse seinem eigenen Ministerium „in dieser Debatte leider eine gewisse Schizophrenie attestieren“.

Eine Laufzeitverlängerung habe weitere Vorteile, führt Habecks Experte dort aus: „Die Strompreise sinken und der Netzbetrieb wird sicherer.“ Berechnungen auf Basis von Strommarktmodellen, wie von Green Energy beauftragt, basierten nur auf Durchschnittswerten, warnt der Ministeriale: „Die Frage ist, wollen wir uns im nächsten Winter wirklich auf den Erwartungswert vorbereiten oder im Sinne einer echten Krisenvorsorge nicht besser auf den Reasonable Worst Case“, also den schlimmsten anzunehmenden Fall?

Wenn etwa das Gasversorgungsnetz in Bayern leerlaufe, „hätte das nicht nur gravierende Auswirkungen auf alle Gasverbraucher in Bayern, sondern auch auf die Stromerzeugung in Süddeutschland“, warnt der Fachbeamte: „Wie realistisch dieser Fall ist, ist mir nicht bekannt, aber eine offensichtliche Vorsorgemaßnahme wäre der Weiterbetrieb der AKW.“

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