18 November 2022

Abgeordnetenhauswahl - Berlin ist eine verlotterte Stadt (Cicero+)

Abgeordnetenhauswahl
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Berlin ist eine verlotterte Stadt (Cicero+)
Das Berliner Verfassungsgericht hat in einer beeindruckenden Entscheidung die zurückliegende Abgeordnetenhauswahl für nichtig erklärt. Damit hat die politische Klasse der Hauptstadt die Höchststrafe erhalten. Nun reicht es nicht, nur die Wahlen zu wiederholen.
VON VOLKER RESING am 16. November 2022
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik müssen eine Landtagswahl und eine Kommunalwahl komplett wiederholt werden. Fehler, Chaos, Durcheinander – heute hat das Berliner Verfassungsgericht in erfreulicher Klarheit und Unabhängigkeit der Berliner Politik ein vernichtendes Urteil ausgestellt. Die Abstimmung vom September 2021 ist ungültig. Es gab laut Gerichtspräsidentin Ludgera Selting „schwere systemische Mängel“ schon bei der Vorbereitung der Wahl. Wer garantiert eigentlich, dass diese bis Februar, bis zur Wiederholung der Wahl, abgestellt werden? Zudem diagnostiziert Richterin Selting eine „Vielzahl schwerer Wahlfehler“, die mandatsrelevant gewesen seien. Der Grundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit seien bei der Wahl verletzt worden, erklärt die oberste Juristin Berlins. Ein vernichtendes Urteil. Schlimmer hätte es nicht kommen können. 

Das bedeutet, das aktuelle Abgeordnetenhaus und alle zwölf Bezirksparlamente sind nur aufgrund einer ungültigen Wahl im Amt. Die 3,5-Millionen-Metropole müsste gelähmt sein, wenn sie dies nicht ohnehin schon vielfach wäre. Der amtierende Senat der deutschen Hauptstadt ist nur aufgrund einer ungültigen Wahl im Amt. Was wäre, wenn dies in einem Entwicklungsland passieren würde; gäbe es dann noch Mittel und Gelder – oder Ermahnungen aus Berlin? Auch die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey führt nur noch bis auf Widerruf die Amtsgeschäfte. Müsste das Ganze nicht allen Beteiligten hoch peinlich sein? Wo ist da irgendwo nur ein leises Mea Culpa zu hören?

Und jetzt? Es scheint, als würde die Pannen-Hauptstadt einfach so weiter wurschteln wollen wie bisher. Die Listenaufstellung bei der Wahl kann sowieso nicht geändert werden, also machen wir einfach im Februar noch mal eine Wahl. Und weiter geht’s! War da was? Dann wird weiter herumgeeiert und -dilettiert, schlicht berlinert wie bisher. Die Wahlwiederholung kostet nach den ersten Berechnungen 39 Millionen Euro. Ach, was soll’s, das sind ja nur Peanuts angesichts dessen, was die Stadt sonst so an Geld herausschmeißt. 

Verantwortung, ein Fremdwort für die Berliner Politik! 

Das Schlimme ist, dass das Berliner politische Establishment überhaupt keine Einsicht in ihr fundamentales Scheitern hat. Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, eines der wirtschaftlich wichtigsten Länder der Welt, eines Landes, das weltweit für Vorzüge von Demokratie und Rechtstaatlichkeit werben will, kriegt es nicht hin, eine Wahl ordnungsgemäß durchzuführen. Doch keiner nimmt den Hut (außer die Landeswahlleiterin!), keiner trägt die politische Verantwortung, alle meinen, es gehe sie nichts an, wenn Mist gebaut wird, wenn die Stadt vor die Wand fährt. Verantwortung, ein Fremdwort für die Berliner Politik! 

Das Flughafen-Drama ist ja schon fast vergessen, als die ganze Welt darüber lachte, dass Berlin es nicht hinkriegt. Der BER wurde rund viermal so teuer wie geplant und ging mit zehn Jahren (!) Verspätung in Betrieb. Und die Schuld lag zu einem großen Teil auch an politischem Missmanagement. Die Verantwortung hat übernommen: keiner. Ex-Bürgermister Klaus Wowereit läuft immer noch als Sympathieträger durch die Stadt. „Arm, aber sexy!“ Berlin ist eine verlotterte Stadt.

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Das wirklich Schlimmste aber ist, dass viele Berliner sich daran gewöhnt haben. Die Bürger der Hauptstadt haben unterbewusst oder offensiv Scheitern und Versagen zur höheren Coolness und Lebensart erhoben. Die täglich erlebbare Dysfunktionalität wird entweder zynisch erduldet oder professionell ausgeblendet, um es ertragbar zu machen. Schultoiletten, die riechen wie die Apokalypse, und öffentliche Gebäude und Grünanlagen, die aussehen wie eine wüst gefallene Goldgräberstadt im Mittleren Westen. Da werden Straßen gesperrt und Fahrradwege gemalt und wieder übermalt wie auf einer riesigen Modelleisenbahn. Ein lustiges Spiel auf dem Rücken aller.

Das Problem Berlins ist die Duldsamkeit seiner Bürger gegenüber seiner politischen Klasse

Dass man in den Bezirksämtern nur selten professionell bedient wird und meist eine mit Überlastung und Bürokratismus erklärte Lahmheit erlebt, ist zur Normalität einer Stadtgesellschaft geworden, die überall in der westlichen Welt ein funktionierendes, freundliches und sauberes Nahverkehrsnetz genießt, es nur in der eigenen Stadt nicht einfordert. Das große Problem Berlins ist die Duldsamkeit seiner Bürger gegenüber seiner mediokren politischen Klasse. Übrigens haben erste Bezirksämter schon erklärt, sie würden jetzt erst mal für Monate schließen, weil sie ja die Wahl vorbereiten müssten. 

Das Wahldebakel muss endlich zu einem großen Einschnitt werden. Berlin braucht einen Neustart, eine wirkliche innere Revolution, nachdem die Stadt die letzten 100 Jahre nur als Bühne der Weltpolitik hergehalten hat. Es braucht eine neue politische Verfassung; die derzeitige kommunale Struktur mit den Bezirksverordnetenversammlungen, deren Name schon eine Zumutung ist, und politisch und paritätisch besetzten Bezirksämtern ist nicht nur im Kern undemokratisch und von der Anlage her korrumpierend, weil sie Verantwortungsbewusstsein und Tatkraft systematisch unterminiert. Am besten wäre der Zusammenschluss des Umlandes mit der Stadt zu einem gemeinsamen Bundesland, der dereinst geschickt von Westberliner Eliten verhindert wurde, indem man die Schuld den Brandenburgern in die Schuhe schob.

Es braucht jetzt einen Masterplan für Berlin. Und weil die Berliner es nicht hinbekommen, muss die Bundesebene eingreifen. Beispielsweise böte sich für CDU, SPD und Grüne die Chance, neue Spitzenkandidaten ins Rennen zu schicken. Natürlich werden sich die Berliner wehren, aber es reicht einfach nicht, mit dem Personal, das derzeit agiert, weiterzumachen. Es geht auch um die politische Glaubwürdigkeit des ganzen Landes. Unsere Hauptstadt darf uns überall in Deutschland nicht egal sein. 

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