18 November 2022

Der andere Blick - Berlin ist ein Symptom für alles, was in Deutschland falsch läuft (NZZ)

Der andere Blick
Berlin ist ein Symptom für alles, was in Deutschland falsch läuft (NZZ)
Verwahrlosung, schlechte Bildungspolitik und jetzt auch noch ungültige Wahlen: In der deutschen Hauptstadt muss die komplette Abstimmung fürs Abgeordnetenhaus wiederholt werden. Daraus lassen sich drei Lehren ziehen.
Susanne Gaschke, Berlin, 16.11.2022
Im Stadtstaat Berlin müssen die jüngsten Landtagswahlen, die hier Wahlen zum Abgeordnetenhaus heissen, auf Beschluss des Landesverfassungsgerichts wiederholt werden. Vollständig. Innert 90 Tagen. Die Durchführung der Wahl am 26. September 2021 war ein spektakuläres Desaster mit Verkehrschaos, fehlenden Stimmzetteln und völlig unterschiedlichen Öffnungszeiten der Wahllokale.

Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hatte die Chuzpe, am Mittwoch auf Twitter zu verkünden, dass es «eine fehlerhafte Wahl wie beim letzten Mal» mit ihr nicht mehr geben werde. Dabei war es doch ihr rot-grün-roter Senat, der das Wahldebakel zu verantworten hatte – wie auch viele andere Abgründe der Berliner Stadtpolitik.

Es ist nicht so, dass es Fehler bei der Feststellung von Wahlergebnissen in Deutschland nicht schon früher gegeben hätte, allerdings ganz selten, 2009 in Schleswig-Holstein etwa oder 2018 in Hessen. Doch noch nie hatte man angesichts der Hybris und Wurschtigkeit einer Wahlleitung so sehr das Gefühl, dass es künftig vielleicht besser wäre, OSZE-Wahlbeobachter anzufordern.

Biotop für Kriminelle und Extremisten

Die Dysfunktionalität der deutschen Hauptstadt ist nicht nur eine Berlinalie, sie ist ein Menetekel für das ganze Land. Für alles, was aus Nachlässigkeit, Entscheidungsangst und parteipolitischer Binnenorientierung nicht mehr so funktioniert, wie es eigentlich dem deutschen Selbstverständnis entspricht.

Das beginnt mit dem Flughafen Berlin Brandenburg (BER), der 2011 hätte eröffnet werden sollen und erst 2020 fertig wurde. Er sieht heute schon aus wie ein Sanierungsfall und wird der Zahl seiner Passagiere nicht im Ansatz gerecht. Und er ist – als Hauptstadtflughafen! – alles andere als ein Drehkreuz des internationalen Flugverkehrs.

Das geht weiter mit einer Berliner Justizpolitik, die weder gegenüber Klima-Extremisten oder Hausbesetzern noch gegenüber Clan-Kriminalität oder offenem Drogenhandel Grenzen setzt.

Berlin sieht sich als sozial, weltoffen und divers – aber eine überlastete, strukturell überforderte Verwaltung produziert gerade keine sozial wünschenswerten Verhältnisse. Während man in der Flüchtlingskrise 2015/16 «Refugees welcome» plakatierte, kampierten verzweifelte Flüchtlinge tagelang in unwürdigen Zuständen vor dem zuständigen Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), bis sie überhaupt eine Unterkunft bekamen.

Die langfristige Integration wird ebenso lax gehandhabt wie die Erstaufnahme der Flüchtlinge: In manchen Berliner Schulen sprechen mehr als 80 Prozent der Kinder kein Deutsch. Es gibt keinen überzeugenden Plan, das zu ändern. Antisemitismus und Beschimpfungen deutschstämmiger Kinder, die auch im Ramadan ihr Pausenbrot essen, sind keine Einzelfälle.

Im bundesweiten Leistungs-Ranking der Schulen steht Berlin weit hinten. Dass seine Universitäten sich nach wie vor grösster Beliebtheit erfreuen, liegt weniger an ihrem akademischen Niveau als vielmehr an der Tatsache, dass Berlin unangefochten Deutschlands Party-Hauptstadt ist. Das immerhin.

Zu vieles wird einfach hingenommen

Die Stadt schafft es nicht, gegen die Verwahrlosung in den Bezirken und in ihrem eigentlich grandiosen Vorzeigepark Tiergarten vorzugehen. Sie hat kein erkennbares Konzept zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit, Bettelei, wildem Sperrmüll-Abladen. Sie nimmt die Verödung der Innenstadtzentren hin und fördert sie noch – durch die konsequente Vernichtung von Parkraum. In grossen Bereichen der Berliner Mitte entstehen, investorengetrieben, aber ohne nachvollziehbare Stadtplanung, die Ghettos von morgen.

Vernachlässigte Infrastruktur, massive Verkehrsprobleme, fehlgeschlagene Integration, schlechte Bildungspolitik: All das sind Plagen, mit denen man sich auch in Duisburg-Marxloh oder in Hamburg-Billbrook herumschlägt. Nur sind in Berlin die Fehlentwicklungen so deutlich zu erkennen wie unter einem Brennglas. Die Wahlkatastrophe von 2021 stellt nun das wichtigste, oberste Prinzip jeder Demokratie infrage: dass Wahlen tatsächlich gleich sind, immer, überall.

Daraus wären drei Lehren zu ziehen. Erstens: Die Deutschen sollten ein bisschen vorsichtiger sein, wenn sie andere europäische Länder wie Ungarn oder Polen über ihre demokratischen Prozesse belehren. Zweitens: Wer das Berliner Desaster nicht schlimm findet, sollte die Heuchelei über die angeblich beklagenswerte Wahlenthaltung in Deutschland (jüngst 45 Prozent bei Landtagswahlen) einstellen. Offensichtlich ist es ja doch nicht so, dass jede Stimme zählt.

Drittens: Wenn die Landtagswahl in Berlin laut Gerichtsbeschluss komplett unzulässig ist – wie kann dann die am gleichen Tag (und ganz genauso fehlerhaft) durchgeführte Bundestagswahl Bestand haben?

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