03 November 2022

Der Anti-Atomstaat - Wie grüne Ministerien die AKW-Rettung blockiert haben (Cicero)

Der Anti-Atomstaat
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Wie grüne Ministerien die AKW-Rettung blockiert haben (Cicero)
Seit Jahrzehnten führen die Grünen ihren Kampf gegen Atomenergie in Deutschland – erst auf der Straße, inzwischen in der Regierung. In einer gemeinsamen Recherche zeigen Cicero und „Welt am Sonntag“ auf, wie im Wirtschafts- und Umweltministerium monatelang getrickst und verzögert wurde, um eine wirtschaftlich sinnvolle Laufzeitverlängerung zu verhindern. Der Konflikt um die letzten deutschen Kernkraftwerke ist noch nicht beendet.
VON DANIEL GRÄBER am 29. Oktober 2022
Anfang Oktober, einen Tag nach der jüngsten Landtagswahl in Niedersachsen, sitzt Elektromeister Günter Reppien an einem langen Tisch im Besucherzentrum des Kernkraftwerks Emsland und wirkt nachdenklich bis resigniert. „Eigentlich ist Energiepolitik nichts für Politiker“, sagt der 71-Jährige. „Denn die denken nur von Wahl zu Wahl. Aber Energiepolitik ist immer langfristig.“ Es ist die Quintessenz dessen, was er in den zurückliegenden Jahrzehnten seines Berufslebens erfahren hat: das politische Ringen um Ausbau und Ausstieg aus der Atomkraft, das Hin und Her, die Wankelmütigkeit der Regierenden. Reppien war als junger Werkstattleiter am Bau des Kraftwerks im niedersächsischen Lingen beteiligt, wurde später Betriebsratschef der Betreibergesellschaft, dann des Gesamtkonzerns RWE.

Er traf Kanzler und Minister, von Jürgen Trittin bis Angela Merkel. Jetzt, im Ruhestand, verfolgt er als CDU-Kommunalpolitiker, wie schwer sich die rot-grün-gelbe Bundesregierung damit tut, eine pragmatische Antwort auf die sich zuspitzende Energiekrise zu finden und die noch bestehenden Kernkraftwerke einige Jahre länger am Netz zu lassen.

Russlands Überfall auf die Ukraine ist der Auslöser dieser Krise. Die eigentlichen Ursachen liegen jedoch tiefer. Sie sind das Ergebnis einer Energiepolitik, die radikale bis utopische Ziele formuliert, dann aber an deren Umsetzung scheitert und statt sich dies einzugestehen, die Ziele noch ehrgeiziger formuliert.

Das Anti-Atom-Dogma

Dass der nach dem Reaktorunglück in Japan 2011 hastig beschlossene deutsche Atomausstieg bis Ende 2022 vielleicht doch keine so gute Idee war – zumindest, wenn man gleichzeitig das Ziel verfolgt, den Kohlendioxidausstoß möglichst schnell zu senken –, dämmerte einigen bereits, bevor Wladimir Putin seine Pipelines als Erpressungsmittel einsetzte. Nur auszusprechen traute es sich kaum jemand. Zu vergiftet war das Thema. Zu erfolgreich hatte die Anti-Atom-Bewegung seit den 1970er Jahren die Meinungshoheit erobert: in den Lehrerzimmern, den Redaktionsstuben und dank ihres parlamentarischen Armes, den Grünen, in den zuständigen Ministerien und Behörden. 

Das rächt sich nun. Am Vorabend des wirtschaftlichen Niedergangs einer einst auf ihre Spitzentechnologie – zu der auch die Kernkraft zählt – stolzen Industrienation schaffen es die regierenden Parteien nicht, all das zu tun, was jetzt notwendig wäre, um Energiepreise zu senken und Versorgungsschwierigkeiten zu vermeiden. Und dazu zählt: alle Kraftwerke ans Netz zu bringen, die verfügbar sind.

Stattdessen halten die Grünen eisern an ihrem Anti-Atom-Dogma fest und wollen maximal einer Mini-­Laufzeitverlängerung für wenige Monate zustimmen. Auf ihrem Bundesparteitag Mitte Oktober bekräftigten sie diese Haltung, die Industrie und Haushalte teuer zu stehen kommen wird. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck spielte mit. Dabei müsste er es eigentlich besser wissen.

Habecks Verzögerungs-FinteIm Frühjahr klang der Grünen-Politiker noch anders. Ende Februar, vier Tage nach Russlands Einmarsch in die Ukraine, fragte ihn eine ARD-Journalistin, ob man die deutschen Atomkraftwerke (AKW) nun länger als geplant am Netz lassen müsse. Die Frage war kess, denn die einseitige Berichterstattung des öffentlich-­rechtlichen Rundfunks hat einen großen Anteil daran, dass in Deutschland, anders als in den meisten anderen Industrieländern, die Atomenergie lange als Teufelszeug galt. „Es gibt keine Denktabus“, antwortete der frisch ins Amt gekommene Minister, und die Journalistin schaute überrascht. Die AKW-Laufzeitverlängerung sei eine „relevante Frage“, fuhr Habeck fort. Dann fiel der Schlüsselsatz: „Ich würde sie nicht ideologisch abwehren.“

Es war ein kurzer Moment, in dem aufblitzte, dass der Beinahe-Kanzlerkandidat es ernst meinen könnte und die heraufziehende Gaskrise nutzen würde, um seiner Partei die vor allem aus Klimaschutzgründen vollkommen aus der Zeit gefallene Anti-Atom-Ideologie auszutreiben. So wie es Joschka Fischer anlässlich des Kosovokriegs einst mit dem Pazifismus machte.

Inzwischen wird aber deutlich: Robert Habeck hat es nicht ernst gemeint. Das Versprechen einer unideologischen Prüfung, ob und wie die letzten deutschen Atomkraftwerke länger am Netz bleiben können, war eine Finte, reine Verzögerungstaktik. Das macht der weitere Verlauf der Geschehnisse klar. Und das belegen interne Regierungsdokumente, die Cicero und Welt am Sonntag in einer gemeinsamen Recherche einsehen konnten. 

Sechs Kernkraftwerke hätten im Frühjahr noch gerettet werden können: die drei in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern, die jetzt noch laufen, und drei weitere, die Ende 2021 abgeschaltet wurden. Man hätte sie reaktivieren beziehungsweise den Weiterbetrieb in Ruhe vorbereiten und rechtzeitig neue Brennstäbe bestellen können. Inzwischen sind acht Monate vergangen, und die Bundesregierung konnte sich erst jetzt, nach einem wochenlangen Hickhack und einem „Machtwort“ des SPD-Kanzlers Olaf ­Scholz auf eine Mini-Laufzeitverlängerung bis Mitte April 2023 einigen. Was ist in dieser Zeit hinter den Kulissen geschehen?

Grüne Ministerien ignorieren Energieversorger

In den Akten des Bundesumweltministeriums, die uns auf der Grundlage des Umweltinformationsgesetzes zur Verfügung gestellt wurden, befindet sich ein bemerkenswertes Schreiben des Energieversorgers EnBW, das auf den 2. März datiert ist. Bemerkenswert ist es, weil der baden-württembergische Staatskonzern eng von der Grünen-geführten Landesregierung kontrolliert wird. Es ist schwer vorstellbar, dass ein solches Schreiben nach Berlin gelangt ist, ohne dass Winfried Kretschmann involviert war. Es ist ein zurückhaltend formuliertes, aber im Ergebnis überraschend klares Plädoyer für den Weiterbetrieb der drei noch laufenden Kernkraftwerke. „Die Anlagen befinden sich, auch im internationalen Vergleich, auf höchstem sicherheitstechnischem Niveau“, schreibt das Unternehmen, das selbst nur eines der Kraftwerke, Neckarwestheim 2, betreibt. „Aus technischer Sicht wäre ein Weiterbetrieb der Anlagen denkbar. Die hierdurch zusätzlich mögliche Grundlastbereitstellung von rund 4300 Megawatt wäre ein zusätzlicher Beitrag zur Versorgungssicherheit und hätte auch eine preisdämpfende Wirkung.“ Beide Punkte, Versorgungssicherheit und preisdämpfende Wirkung, sind die zentralen Argumente, die nach wie vor für eine Laufzeitverlängerung sprechen.

Der baden-württembergische Energieversorger macht zudem deutlich, dass es ihm nicht nur um einen Weiterbetrieb für ein paar Monate geht. In dem Schreiben heißt es: „Damit ein Beitrag zur Versorgungssicherheit gerade in den kritischeren Zeiträumen Winter 2022/2023 sowie Winter 2023/2024 und dann ununterbrochen darüber hinaus möglich wäre, müssten sehr zeitnah einige zentrale Entscheidungen getroffen bzw. Maßnahmen umgesetzt werden.“

Das war Anfang März. Reaktionen auf dieses Schreiben sind in den uns zur Verfügung gestellten Unterlagen nicht zu finden. Stattdessen etliche E-Mails zur AKW-Frage, die zwischen Robert Habecks Wirtschaftsministerium und dem von seiner Parteifreundin Steffi Lemke geführten Umweltministerium hin und her gingen. Zentrale Figur ist auf Habecks Seite dessen Energiewende-Staatssekretär Patrick Graichen. Der war früher selbst im Bundesumweltministerium, das sich um nukleare Sicherheit kümmert, tätig und pflegt mit dem dort zuständigen Staatssekretär Stefan Tidow einen kumpelhaft vertrauten Umgangston.

Eine Kostprobe: „Yep. Wollt Ihr Euren Text nicht doch auch streuen? Die andere Seite ist ja auch permanent publizistisch unterwegs, nur wir sind dezent im Hintergrund unterwegs“, antwortete Graichen an Tidow, nachdem der sich über eine Pressemeldung zum möglichen Weiterbetrieb des bayerischen AKW Isar II aufgeregt hatte. Wen genau Graichen mit „die andere Seite“ meinte, bleibt unscharf. Dem Kontext nach ist es entweder die bayerische Staatsregierung oder der Energiekonzern Eon, der Isar II betreibt, vielleicht meinte Graichen aber auch beide.

„Wir haben ein Gasproblem, kein Stromproblem.“ Von wegen.

Aus dem gesamten Schriftverkehr zwischen den beiden zuständigen Ministerien, den Entwürfen und Vermerken ist an keiner Stelle auch nur der Ansatz eines Willens zu erkennen, die Laufzeitverlängerung zu ermöglichen. Im Gegenteil: Es wird regelrecht nach bürokratischen oder technisch-organisatorischen Hindernissen gesucht statt nach Möglichkeiten, sie aus dem Weg zu räumen. Und was noch entlarvender ist: Wesentliche Argumente, die für eine Verschiebung des Atomausstiegs sprechen, werden kleingeredet oder von vornherein ignoriert.

Drastischstes Beispiel ist der Strompreis. Während Energieökonomen bereits zu Beginn des Ukrainekriegs davor warnten, dass Verwerfungen auf dem Gasmarkt auch zu Problemen bei der Elektrizitätsversorgung führen werden, verbreiteten Wirtschaftsminister Habeck und zahlreiche andere Grünen-Politiker noch bis in den Sommer hinein die Parole: „Wir haben ein Gasproblem, kein Stromproblem.“

Die Energiemarktexpertin Veronika Grimm nennt diesen Satz „eine klare Fehldiagnose“. Sie ist Mitglied des Sachverständigenrats der fünf Wirtschaftsweisen, dem wichtigsten wirtschaftspolitischen Beratungsgremium der Bundesregierung. „Wenn die Gaspreise steigen, und unsere Spitzenlastkraftwerke Gaskraftwerke sind, wird das in kürzester Zeit ein Stromproblem, weil natürlich die Gaskraftwerke in vielen Stunden den Preis setzen“, erklärt die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Es ist das sogenannte Merit-Order-Prinzip am Strommarkt: Das teuerste noch benötigte Kraftwerk bestimmt den Preis.

Ein signifikanter Effekt auf den Strompreis

Grimm, die eigentlich eine Befürworterin des Umstiegs auf Windkraft und Solarstrom ist, fordert in der jetzigen, brenzligen Lage, dass alle Erzeugungskapazitäten genutzt werden, damit der Strompreis sinkt. „Ich fände es viel schöner, wenn das mit Erneuerbaren ginge“, sagt Grimm. „Aber wir werden nicht so schnell bis zum nächsten Winter so viele Windräder bauen, dass wir damit auskommen. Wir müssen die Kraftwerkskapazitäten nutzen, die jetzt zur Verfügung stehen, und das sind nun mal in Deutschland Kohlekraftwerke und Atomkraftwerke.“ 

Welchen Effekt ein solcher Schritt, vor dem die Ampelkoalition noch zurückschreckt, auf den Strompreis hätte, hat die Wirtschaftsweise gemeinsam mit ihrem Team an der Friedrich-Alexander-­Universität Erlangen-Nürnberg berechnet. In der Anfang Oktober veröffentlichten Kurzstudie betrachten die Wissenschaftler unterschiedliche Szenarien und deren Auswirkungen auf den Strommarkt im Jahr 2024. Das Ergebnis: Ein Weiterbetrieb der drei deutschen Kernkraftwerke könnte den Strompreis um bis zu 13,5 Prozent senken. In Kombination mit einem ambitionierten Ausbau der Erneuerbaren und der Renaissance von Kohlekraftwerken läge der preisdämpfende Effekt sogar bei minus 16,4 Prozent.

Verengte Sicht der grünen Ministerien

Doch dieser sehr relevante Vorteil einer Laufzeitverlängerung interessierte die Drahtzieher in den beiden Grünen-Ministerien offenbar nicht. Das Thema Stromkosten kommt in den Unterlagen kaum vor. Und in jenem gemeinsamen Vermerk zur „Prüfung des Weiterbetriebs von Atomkraftwerken aufgrund des Ukraine-­Kriegs“, der am 7. März durch das Wirtschafts- und das Umweltministerium veröffentlicht wurde, spielen die Auswirkungen auf die Strompreise überhaupt keine Rolle. Stattdessen geht es nur darum, wie viel russisches Gas durch eine Laufzeitverlängerung eingespart werden könnte. Angeblich sei der Effekt nur gering.

Selbst Fachleute aus Habecks Ministerium bemängelten später in einer internen E-Mail diese verengte Sicht auf den Nutzen der Kernkraftwerke: „Der Weiterbetrieb der AKW hat neben der (geringen) Gaseinsparung zwei weitere Vorteile: die Strompreise sinken, und der Netzbetrieb wird sicherer“, schrieben sie klar und deutlich. An die Öffentlichkeit kam diese Einschätzung nicht. Stattdessen blieb es beim Schlusssatz des offiziellen Prüfvermerks: „Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken ist eine Laufzeitverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke auch angesichts der aktuellen Gaskrise nicht zu empfehlen.“

Robert Habeck und Steffi Lemke wollten mit diesem Vermerk die Debatte beenden. Doch es gelang ihnen nicht. Denn Branchenkenner zerlegten die aufgestellten Behauptungen über technische und rechtliche Hürden des AKW-Weiterbetriebs. Und der Koalitionspartner FDP, der sich zaghaft für eine Abkehr vom deutschen Anti-Atom-Kurs zu öffnen begann, machte Druck und forderte eine erneute Prüfung. Aus der Opposition kam dieser Druck sowieso. Denn CDU und CSU haben sich nach Merkels Abgang schnell an ihre alte Liebe zur Kernkraft zurückerinnert.

Der schwere Stand der Atomkraft in Deutschland

Günter Reppien kennt dieses Auf und Ab. Die an Wendungen reiche Geschichte der Kernkraft in Deutschland ist für ihn auch eine Geschichte des Versagens – der Politik, die weitreichende Entscheidungen von kurzfristigen Stimmungen abhängig machte, und der Betreiber selbst, die es versäumt haben, durch Aufklärung und Transparenz für die Atomenergie zu werben. „Das Grundproblem ist, dass die Kernspaltung in Zusammenhang mit der Atombombe bekannt wurde. Wir haben es nicht geschafft, der Bevölkerung den Unterschied zu erklären“, sagt der frühere Kraftwerksmitarbeiter. „Die Ingenieure meinten: Das verstehen die eh nicht, das ist zu kompliziert. Es war eine gewisse Überheblichkeit, das war ein Fehler.“

Reppien selbst hat es anders gemacht. Im Betriebsrat des Kernkraftwerks in Lingen setzte er sich dafür ein, dass schon während der Bauzeit Führungen für alle Bürger der niedersächsischen Stadt angeboten wurden. „Wir haben die Leute am Wochenende straßenweise mit Bussen abgeholt und ihnen das Kraftwerk gezeigt. Das war sehr aufwendig, aber es hat sich gelohnt“, sagt er. Denn ob das Kernkraftwerk Emsland jemals Strom liefern wird, stand damals auf der Kippe. Mitten in der Bauphase kam es in der Ukraine 1986 zur nuklearen Katastrophe, das Unglück von Tschernobyl prägte die Anti-Atom-Stimmung in Deutschland. Und in Niedersachsen stand eine Landtagswahl an. Der SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder versprach, den Bau des Kernkraftwerks zu stoppen, sobald er an der Macht ist. Mit hauchdünner Mehrheit gewann CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht. Er war ein entschiedener Unterstützer des Projekts, das viel Wohlstand in die strukturschwache Region brachte.


Im Herbst 2022 war es erneut eine niedersächsische Landtagswahl, an der das Schicksal des AKW Emsland zu hängen schien. Doch der Reihe nach. Zunächst musste Bundeswirtschaftsminister Habeck, der für die Energiesicherheit in ganz Deutschland verantwortlich ist, dem wachsenden Druck nachgeben und noch mal über eine Laufzeitverlängerung der drei Kernkraftwerke nachdenken. Er schob die Verantwortung auf die vier großen Stromnetzbetreiber, die mittels „Stress­test“ herausfinden sollten, ob die letzten AKW diesen Winter gebraucht werden. Monatelang vertröstete Habeck alle, die ungeduldig nachfragten. Dann lag das Ergebnis des Stress­tests vor. Es fiel eindeutig aus, aber nicht so, wie es sich die Grünen erhofft hatten. Die Netzbetreiber sprachen sich klar für einen Weiterbetrieb der drei Kraftwerke aus. Denn in bestimmten Stunden könnte der Strom so knapp werden, dass Lastabschaltungen, also geplante Stromausfälle, notwendig werden, um einen totalen Zusammenbruch des Netzes zu verhindern. Ein alarmierender Befund.

Habecks vorgeschobene Ausrede

Was machte Habeck daraus? Er erfand den „Reservebetrieb“, um das Wort Laufzeitverlängerung nicht in den Mund nehmen zu müssen, und verkündete, dass er nicht alle drei Reaktoren in den „Reservebetrieb“ schicken würde, sondern nur zwei. Und das auch nur bis April, ohne neue Brennstäbe. Das Kernkraftwerk Emsland, so Habecks Plan, solle wie geplant am 31. Dezember für immer abgeschaltet werden. Seine offizielle Begründung: Emsland sei für die Stabilität des Stromnetzes nicht so wichtig wie die beiden Kernkraftwerke in Süddeutschland.

Der Netzbetreiber Amprion hat dieser Behauptung inzwischen widersprochen. „Das Kernkraftwerk Emsland steht zwar geografisch im Norden Deutschlands, elektrisch gesehen aber im Südwesten Deutschlands – es steht häufig auf der richtigen Seite des Netzengpasses und würde uns helfen“, sagte Hendrik Neumann, Technik-Geschäftsführer von Amprion, der Wochenzeitung Die Zeit. Wenn der Atommeiler laufe, erzeuge er im Netz eine Art Gegendruck, der dazu führe, dass sich der Windstrom aus Norddeutschland besser über das Netz verteile und die Nord-Süd-Achse entlastet werde.

Auch für den früheren Kraftwerks-Elektromeister Günter Reppien ist klar: „Habecks Begründung war vorgeschoben.“ Bei den niedersächsischen Grünen ist die Anti-Atom-Haltung besonders stark ausgeprägt. Es ist der Landesverband von Jürgen Trittin, der als damaliger Bundesumweltminister den ersten rot-grünen Ausstiegsbeschluss durchgesetzt hat. Trittin spielt als Strippenzieher des linken Flügels in der Partei immer noch eine wichtige Rolle. Die Entscheidung, ob das Kernkraftwerk Emsland weiterläuft oder nicht, wird aber in Berlin getroffen, nicht in Niedersachsen. Denn das Atomgesetz zu ändern, ist Sache des Bundestags.

Die Konsequenzen der Energiewende

Eine Woche nach der Landtagswahl, bei der die Grünen deutlich zulegten, versammelten sich ihre Funktionäre zum Bundesparteitag in Bonn. Sie legten Robert Habeck enge Fesseln an: Mehr als seinen „Reservebetriebs“-Kompromiss tragen sie nicht mit. Trittin sah sehr zufrieden aus. Und Habeck hielt eine emotionale Rede, in der er wenig Konkretes sagte, sich zu einer abenteuerlichen Behauptung verstieg. „Die fossilen Energien und die Atomkraft, sie haben uns diese Energie­not beschert. Sie sind nicht die Lösung, sie sind das Problem“, postulierte er auf der Bühne unter donnerndem Applaus. „Und die Ursache all dessen ist nicht die Entscheidung der Bundesregierung oder einer Partei in der Bundesregierung, es ist der wahnsinnige, barbarische Angriffskrieg von Putin auf die Menschen.“

Es ist eine Verdrehung der Tatsachen. Denn das Grundproblem der real existierenden Energiewende lässt sich schlecht Wladimir Putin in die Schuhe schieben. Es ist die notorische Unzuverlässigkeit von Windkraft- und Solaranlagen. Ihre Strom­erzeugung ist wetterabhängig und damit weder plan- noch steuerbar. Solange es keine ausreichend dimensionierten Speicherkapazitäten gibt – und die sind noch lange nicht in Sicht –, werden konventionelle Großkraftwerke gebraucht, um den Strombedarf zuverlässig zu decken. 

Da Deutschland aus Kernkraft und Kohle aussteigen will, blieb nur Erdgas als Alternative. Für Putin war die rot-grüne und später auch schwarz-gelbe Anti-Atom-Politik daher ein Milliardengeschenk. Und auch die jetzige Bundesregierung verfolgte noch bis zum Ukraine­krieg das Ziel, Dutzende zusätzlicher Gaskraftwerke in Deutschland zu bauen. Der Brennstoff für wind­arme Zeiten sollte über die Nordstream-Pipelines aus Russland kommen.

Experten haben Mangellage kommen sehen

Ob das wirklich klappt und sinnvoll ist, daran gab es schon vor Februar große Zweifel. Putin hat zwar dafür gesorgt, dass die massiven Probleme der deutschen Energiepolitik deutlich schneller zutage getreten sind, als es deren schärfste Kritiker befürchteten. Verursacht hat er sie jedoch nicht.

Noch absurder ist Habecks Schuldvorwurf „an die fossilen Energien und die Atomkraft“. Denn das sagt er im selben Moment, in dem er Braunkohlekraftwerke reaktivieren und die Anmietung von schwimmenden Ölkraftwerken prüfen lässt, also voll auf fossile Energieträger setzt, um durch den Winter zu kommen. Beim Vorwurf an die Atomkraft dachte er womöglich an die französischen Meiler, von denen wegen technischer Probleme derzeit einige stillstehen. Das ist mit ein Grund dafür, weshalb sich die Netzbetreiber nun für eine Verschiebung des deutschen Atomausstiegs ausgesprochen haben. Dies zeigt allerdings: Er funktioniert nur, wenn die Nachbarländer nicht mitmachen.

Deutschland hat in den zurückliegenden Jahren ein Kern- und Kohlekraftwerk nach dem anderen abgeschaltet – und sich auf unrealistische Versprechen der Erneuerbare-Energien-Lobby verlassen. Das ist die eigentliche Ursache der jetzt herrschenden Energienot. Stefan Kapferer, der heute Chef des ostdeutschen Stromnetzbetreibers 50Hertz ist, prognostizierte bereits im Mai 2018 die jetzt drohende Stromknappheit. Er war damals Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft. Seine Pressemitteilung ist auf der Internetseite des Verbands noch nachzulesen. Kapferer warnte darin: „Die heute noch bestehenden Überkapazitäten werden in wenigen Jahren nicht nur vollständig abgebaut sein. Vielmehr laufen wir sehenden Auges spätestens im Jahr 2023 in eine Unterdeckung bei der gesicherten Leistung.“

Die Macht der grünen Lobby

Mit gesicherter Leistung sind rund um die Uhr und bei jedem Wetter zur Verfügung stehende Stromerzeugungskapazitäten gemeint. Noch bis vor wenigen Jahren hatte Deutschland so viele Kraftwerke, dass diese den gesamten Strombedarf jederzeit decken konnten. Das ist inzwischen nicht mehr der Fall. Wenn der Energieverbrauch hoch ist, aber nicht genug Wind weht und die Sonne nicht scheint, sind wir darauf angewiesen, Strom aus dem Ausland zu erhalten. Die Netzbetreiber warnen davor, dass wir uns im kommenden Winter nicht darauf verlassen können. Denn die Energiekrise betrifft ganz Europa, und nationale Regierungen werden, wenn es eng wird, erst einmal ihr eigenes Land vor einem Blackout schützen.

Zweifel am deutschen Weg, sowohl die Atom- als auch die Kohlekraftwerke stillzulegen, gab es schon vor dem Ukrainekrieg. Unter Industriemanagern und Gewerkschaftern, bei den Energieversorgern und den Netzbetreibern. Doch sie wurden meist nur im Verborgenen geäußert. Zu groß war die Angst davor, es sich mit der mächtig gewordenen grünen Lobby zu verscherzen. Denn dieses Netzwerk, in dem Nichtregierungsorganisationen, Ministerialbeamte, Branchenvertreter und Abgeordnete aufs Engste miteinander verwoben sind, hatte es geschafft, das in weiter Ferne und womöglich nie zu erreichende Ziel „100 Prozent Erneuerbare“ zum Kernanliegen der deutschen Staatsräson zu machen. Denjenigen, die einst den „Atomstaat“ bekämpft haben, gelang es, einen Windmühlenstaat zu errichten.

Problem erkannt, noch lange nicht gebannt

Einer der wenigen namhaften Wirtschaftsvertreter, der sich traute, die jetzt zutage tretenden Probleme schon vor dem Ukrainekrieg anzusprechen, ist Jürgen Hambrecht. Der frühere Topmanager saß 2011 in jener „Ethikkommission“, von der sich Angela Merkel ihren panisch beschlossenen Atomausstieg absegnen ließ. Hambrecht war damals Vorstandsvorsitzender des Chemiekonzerns BASF.

Zehn Jahre später, im Oktober 2021, zog er in einem Cicero-Interview selbstkritisch Bilanz. Der Atomausstieg sei ein Fehler gewesen, sagte Hambrecht. „Wir haben die Komplexität der Probleme unterschätzt. Wir haben uns damals singulär auf die Risiken der Kernkraft konzentriert und andere Aspekte der Energieversorgung vernachlässigt.“ Auf erneuerbare Energien zu setzen, sei richtig. „Aber wir brauchen grundlastfeste Energieversorgungssysteme, und dafür bietet sich die Kernkraft an.“ 

In der Bundesregierung sieht man das nach wie vor anders. Kanzler Scholz hat zwar nach dem Grünen-Parteitag endlich das getan, was er schon lange hätte tun können: Er erklärte die Atomkraftfrage zur Chefsache und wies seine Minister an, eine Laufzeitverlängerung aller drei Kraftwerke vorzubereiten, inklusive Emsland. Allerdings nur „bis längstens 15. April 2023“. So wie es die Grünen wollen. Als wäre die Energiekrise danach beendet.

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