Die ratlose Großmacht: Deutschlands Lebenslügen sind gerade geplatzt (NZZ)
Eric Gujer, 28.02.2025, 5 Min
Ist Deutschland willens, vom Trittbrett in den Fahrersitz zu wechseln? Das ist die neue deutsche Frage. Sie wird das Schicksal des Kontinents bestimmen.
Alle Versuche, Trump, Putin und Xi eine europäische Antwort entgegenzusetzen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn Deutschland nicht mitmacht. Ohne seine Ressourcen bleiben alle Anstrengungen Stückwerk.
Jeder
vierte Euro des EU-Haushalts stammt aus der Bundesrepublik. Sie zahlt
sie fast doppelt so viel wie Frankreich. Deutschland wird ein Viertel
der Wiederaufbauleistungen der EU für die Ukraine tragen müssen. Die
Kosten werden auf einen Betrag irgendwo zwischen 500 Milliarden und
einer Billion Dollar veranschlagt.
Ähnlich sind die Stärkeverhältnisse in der Nato mit ihren 32 Mitgliedern. Berlin stellt zehn Prozent der Truppen. Zieht sich Amerika aus Europa zurück, wird der Anteil noch grösser. Die Nato wird ihre neue Streitkräfteplanung an einem Gipfel im Juni verabschieden.
Für Berlin heißt das vermutlich: fünfzehn Kampfbrigaden statt wie bisher siebeneinhalb. Das Heer muss seinen Umfang verdoppeln. Der Verteidigungshaushalt wird dauerhaft von 50 auf 100 Milliarden wachsen. Der liebste Fetisch, die Schuldenbremse, wird gerade im Eiltempo abgeräumt.
Dabei ist die Unterstützung für die bisherigen außenpolitischen Koordinaten Deutschlands fragiler denn je. Ein gutes Drittel der Wähler hat für rechte und linke Randparteien gestimmt, welche die Westbindung und die Zugehörigkeit zur Nato ablehnen. Die nationalistische oder radikalpazifistische Positionen vertreten, die Deutschland zu einer leichten Beute Putins machen, sollten sie jemals mehrheitsfähig werden.
Die innenpolitische Polarisierung hat Folgen für die außenpolitische Zuverlässigkeit und die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik. CDU/CSU und SPD, die tragenden Säulen der etablierten Ordnung, konnten nicht einmal mehr 50 Prozent der Wähler von sich überzeugen.
Deutschland huldigte lange einem Stabilitätsfetischismus, am deutlichsten in der Ära Merkel. Stabilität war alles, Dynamik ein Schimpfwort. Um die Ruhe nicht zu gefährden, unterliess die Kanzlerin innenpolitische Reformen und außenpolitische Initiativen.
Mit der Annexion der Krim trat die russische Aggression offen zutage. Doch Merkel war ein falscher Frieden wichtiger als der Widerstand gegen den Europa bedrohenden Imperialismus.
Aber auch die Macht hat ihre eigene Dialektik. Die Stabilität schlug um in Unordnung, und die «Ampel»-Jahre bildeten den Vorgeschmack auf die neue Realität. Angesichts der nicht minder zum Fetisch gewordenen Exkommunikation der AfD ist die «grosse» Koalition nun das einzig mögliche Bündnis. Die schwarz-rote Allianz ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie gaukelt eine Stabilität vor, die sie mit ihrer bloß relativen Mehrheit in der Gesellschaft nicht mehr garantieren kann.
Das Fazit der Bundestagswahl lautet: Deutschland ist ratlos. Ob Schuldenbremse oder ewige Stabilität – die alten Gewissheiten tragen nicht mehr. Die Brandmauer hingegen ist ein bisschen wenig, um darauf eine Identität aufzubauen.
Zugleich ist Deutschland eine Großmacht. Aber das Land wäre am liebsten eine große Schweiz. Neutral, nett und mit der Mehrung des Wohlstands ausgelastet. Eine Großmacht kann nicht Kleinstaat spielen.
Auch wenn sich die Großmacht die Augen zuhält, schauen die anderen sie an und erwarten Orientierung. Seit dem Fall der Berliner Mauer wollte das wiedervereinigte Land diese einfache Wahrheit nicht wahrhaben.
Doch die friedliche Ära der Freiheit nach dem Ende des Kalten Kriegs ist vorbei. Jetzt herrscht die Ära des Dschungels mit Amerika, Russland und China als Raubtieren. Das alles ist seit Jahren evident, und doch lebte Berlin reichlich gedankenlos in den Tag hinein.
Scholz biss sich lieber die Zunge ab, als zu sagen, dass die Ukraine siegen müsse. Jetzt, wo Trump auf einen Kompromissfrieden zusteuert, ist das auch nicht recht.
So viel Unentschlossenheit und Mangel an strategischer Voraussicht kann man sich nur leisten, wenn es nicht auf einen ankommt. Das geht in Bern, aber nicht in Berlin.
Was Unionsparteien und Sozialdemokraten drei Jahrzehnte tunlichst vermieden haben, wird jetzt ihre vordringliche Aufgabe. Sie müssen dem Land erklären, dass die Bundesrepublik keine große Schweiz ist, dass sie in den Fahrersitz gehört und nicht aufs Trittbrett.
Wie soll die illegale Migration nach Deutschland nachhaltig eingedämmt werden, wenn Berlin nicht dafür sorgt, dass die EU ihre Außengrenzen konsequent schützt?
Wie soll die Wirtschaft die Dauer-Rezession überwinden, wenn sich der Exportweltmeister mit seinem wichtigsten außereuropäischen Absatzmarkt überwirft?
Niemand irrt so orientierungslos durch die von Trump und seinem Vize Vance aufgeführte Rocky Horror Picture Show wie deutsche Spitzenpolitiker. Im Wahlkampf mag das angehen, doch im Alltag muss sich Berlin mit Washington einigen.
Amerika wird als Handelspartner an Bedeutung gewinnen, China wird weiter verlieren. In der Ära des Dschungels ist das ein Naturgesetz. Angesichts der geopolitischen Konfrontation bilden sich wieder Blöcke. Der Austausch intensiviert sich innerhalb der Blöcke und schrumpft außerhalb davon. Das lässt sich schon jetzt beobachten. Deutschland kann nicht gleichzeitig prosperieren und mit dem amerikanischen Präsidenten eine eskalierende Fehde pflegen.
Auf Merz kommt eine schwierige Aufgabe zu. Im Innern ist das Land polarisiert, wie der Streit um die Migration zeigt. Hier muss ein Moderator Gräben zuschütten und Kompromisse finden. Außenpolitisch benötigt das Land einen Mentalitätswandel und einen Anführer, der mutig vorangeht.
Die Job-Beschreibung ist nicht nur widersprüchlich; für solch einen Kraftakt ist das Mandat des künftigen Kanzlers auch denkbar schwach. Die «Ampel» hat es weggefegt, ihr Spitzenpersonal auch, und dennoch erreicht die Union nicht einmal dreißig Prozent. Das ist mager – und ein Misstrauensvotum gegenüber der Person Merz.
Die Aufgabe wird noch erschwert durch den Umstand, dass die SPD in der Rolle der Juniorpartnerin zur außenpolitischen Verantwortungslosigkeit neigt. Unter Merkel wehrte sie sich gegen jede Aufrüstung der Bundeswehr. Schon die Anschaffung von bewaffneten Drohnen galt ihr als Kriegstreiberei.
Deutschland muss aus seinem Wolkenkuckucksheim herausfinden. Wenn das nicht gelingt, werden sich die Aussichten für Europa weiter verdüstern.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen