08 Februar 2025

Falsches Essen, falsches Wählen Wie Selbstentscheider die Nannystaatler quälen (WELT)

Falsches Essen, falsches Wählen
Wie Selbstentscheider die Nannystaatler quälen (WELT)
Von Anna Schneider, "Ich bin so frei", Chefreporterin, 08.02.2025, Lesedauer: 4 Minuten
Ob falsches Essen, falsches Reisen, falsches Sprechen oder falsches Wählen – Neo-Paternalisten in Politik und Medien haben heutzutage wirklich viel zu tun. Dabei ist der Bürger gar kein kognitives Würstchen, sondern Souverän. In diesem Sinne: Bitte nicht schubsen.
Seit Friedrich Merz das Tor zur Hölle geöffnet hat, geht es ihm eigentlich ziemlich gut. Der aktuelle ARD-„Deutschlandtrend“ sieht seine CDU momentan bei 31 Prozent, also eigentlich stabil und immerhin ein wenig besser als in der Vorwoche. Dezidiert fragten die Demoskopen auch nach den Abstimmungen über einen erfolgreichen Entschließungsantrag zu Zurückweisungen an Grenzen und über das abgelehnte „Zustrombegrenzungsgesetz“ zur Einschränkung des Familiennachzugs von Asylbewerbern in der vergangenen Woche.
43 Prozent finden Merz‘ Vorgehen „grundsätzlich richtig, auch mit in Kauf genommenen AfD-Stimmen“. 23 Prozent finden den migrationspolitischen Kurs der Union zwar „grundsätzlich richtig“, lehnen aber das Akzeptieren der AfD-Stimmen ab. Und 27 Prozent erklären das Vorgehen für „grundsätzlich falsch“. Wer hätte auch ahnen können, dass der insbesondere medial als Tabubruch inszenierte Streit um mögliche AfD-Stimmen für Unionspläne im Bundestag größtenteils eher nur die um den Schlaf bringt, die bei Robert Habeck ohnehin besser aufgehoben sind. In Geist und Gefühl.
Teile des öffentlich-rechtlichen Rundfunks tun sich indes offenbar ein bisserl schwer mit diesem Realitätsdrift oder vielleicht sogar ganz generell mit der Realität, anders ist kaum zu erklären, weshalb die Zuseher der ARD-Sendung „Hart aber fair“ am vergangenen Montagabend mit einem etwas eigenwilligen Diagramm beglückt wurden. Laut diesem halten es 57 Prozent der Befragten für richtig („richtige Richtung“), wenn Menschen ohne gültige Einreisepapiere der Zutritt nach Deutschland grundsätzlich verwehrt wird, 33 Prozent halten es für falsch („falsche Richtung“). Das Problem lag just in der Darstellung, denn leider war der „falsche Richtung“-Balken doch etwas länger, als er hätte sein sollen, sodass man den Eindruck bekommen musste, die Umfrageergebnisse lägen näher beieinander, als sie es tatsächlich tun. Huch.
Bestimmt nur ein Einzelfall. Blöd nur, dass diese Ausnahmen langsam Legion werden. Munter weiter ging es nämlich bereits am Donnerstagabend beim ZDF-„Schlagabtausch“ aller Spitzenkandidaten (außer Merz und Scholz, die sind am Sonntag dran), zu dem offenbar in erster Linie Studenten linker Berliner Universitäten eingeladen wurden, die dann auch beim Grünen-Chef Felix Banaszak herzhaft klatschten. „Grüne Jugend“, kommentierte FDP-Chef Christian Lindner das ziemlich einseitig beseelte Publikum, worauf Banaszak antwortete: „Ich glaube, das sind mündige Menschen, die selbst ihre Meinung bilden können.“ Eh. Nur schon sehr super für die Grünen, und auch total ausgewogen. Ganz so, wie es sich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eben gehört. Caren Miosga gefällt das bestimmt.

Was diese beiden Beispiele wunderbar veranschaulichen, ist nicht nur die Erziehungsneigung diverser staatlicher (oder staatlich finanzierter) Akteure, sondern auch, dass dieselbe immer schambefreiter ausgeübt wird. „Nudging“ heißt das Konzept dahinter, das davon ausgeht, dass der gemeine Bürger ja nicht wisse, was gut für ihn sei. Der Mensch, dieses irrationale Wesen, soll und muss vor sich selbst geschützt und anhand vermeintlich sanften, im besten Falle moralischen Drucks in Richtung Tugendhaftigkeit geschubst werden.
Falsch essen, falsch reisen, falsch meinen, falsch sprechen – ja sogar falsch wählen, der Selbstentscheider macht es den Nannystaatlern ja auch wirklich nicht leicht. Und weil diese Neo-Paternalisten offenbar verstanden haben, dass man dem Menschen seinen Eigensinn nicht vollends durch Gesetze austreiben kann, wurde vor einiger Zeit das eben erwähnte „Nudging“ erfunden, um unerwünschtes Verhalten durch Manipulation zu ändern. Dessen bedient man sich nun eben auch in Medien und Politik ganz ungeniert.

Dabei kann Nudger freilich nicht jeder sein oder werden, immerhin bedarf es für den Willen zur psychologischen Druckzufuhr mit Schlagseite schon eines bemerkenswert armseligen Menschenbildes: der Mensch als kognitives Würstchen, nicht fähig, selbst zu erfahren, zu bewerten, zu denken – klingt eher gegenaufklärerisch, ist es auch. Denn Freiheit und Autonomie des Einzelnen werden untergraben, wenn eine unter verschiedenen Optionen als faktisch oder moralisch besser dargestellt wird. Abgesehen davon, dass sich letztlich immer die Frage stellt: Wer soll entscheiden, was für jemand anderen gut oder schlecht ist? Richtig oder falsch? Gut oder böse? Eben.

Nun sind Wahlkampfzeiten freilich Nudging-Festspiele, Überredungskünstler allerorts. Doch trotz des nicht zu unterschätzenden Kollektivzwangs und versuchter Beeinflussung (und zwar nicht nur durch ausländische Unternehmer wie Elon Musk) ist es letztlich immer der Einzelne, der abwägt, entscheidet und also wählt – und zwar ganz für sich allein. Souverän ist, wer losgelöst und unabhängig von anderen seine Wahl trifft, in aller Stille seines eigenen Kopfes. So in etwa darf man sich geistige Freiheit vorstellen, deren Unversehrtheit wider alle unvermeidbaren äußeren Einflüsse, Emotionen und Ablenkungen gerade in einem zur weltanschaulichen Unabhängigkeit verpflichteten liberalen Rechtsstaat eigentlich immer Priorität haben sollte.

Insofern ist der Reigen der Koalitionsausschlussversprechen diverser Politiker schon auch ziemlich bemerkenswert. CSU und FDP wollen nicht mit den Grünen, die Grüne Jugend (und die rote wohl auch) will nicht mit der CDU (unter Friedrich Merz), und überhaupt will gar niemand mit der AfD. Fragt sich nur, wer hier eigentlich wen wählt. Den Regierungsauftrag jedenfalls erteilen die Bürger, erteilt der Souverän. Und so etwas wie eine falsche Wahl gibt es nicht.

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