Wer noch Belege für diese Tatsache sucht,
findet sie in der kollektiven Entrüstung über diese offene, sachliche
vorgetragene Kritik eines Freundes, der seine Überzeugung betonte, „dass
wir im selben Team spielen“. Die deutsche Öffentlichkeit erwartet, dass
auf Veranstaltungen wie der Münchner Sicherheitskonferenz die üblichen
symbolpolitischen Satzbausteine à la Baerbock abgeworfen werden: Europa
sei bedroht durch die wachsende Macht autoritärer Herrscher im Ausland
und den Aufstieg des Rechtspopulismus im Inneren, man müsse jetzt
zusammenstehen und Putins Angriffskrieg ebenso entschlossen
entgegentreten wie Desinformation, Hass und Hetze, bla, bla, bla,
Applaus, Applaus.
Doch statt gemeinschaftsstiftende Rhetorik abzuspulen, die man zusammen beklatschen kann, um sich danach wechselseitig auf die Schultern zu klopfen, hat Vance eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen. Europa hat sich in eine Festung verwandelt – allerdings nicht im Sinne der „Festung Europa“, von der Gegner einer restriktiven Zuwanderungspolitik gerne sprechen. Nein, die Eliten der Europäischen Union verteidigen die Demokratie seit der Flüchtlingskrise, aber auch in der Corona-Politik und im Ukraine-Konflikt immer stärker gegen ihr wichtigstes Element, nämlich die Bevölkerung selbst. Sobald diese die vermeintlich gemeinsamen Werte nicht mehr teilt, wird sie zum Feind, der mit der Macht der Behörden und im Zweifel auch mit Polizeigewalt in die Schranken gewiesen werden muss.
Sicher muss sich auch Amerika unter Trump künftig an den
eigenen Maßstäben messen – und etwa kritisch fragen lassen, warum
Agenturjournalisten, die nicht „Golf von Amerika“ schreiben, der Zugang zum „Briefing Room“
des Weißen Hauses verweigert wird. Was Übergriffe auf einzelne, oftmals
wehrlose Bürger angeht, setzt Europa allerdings schon längst die neuen
Orwell-Standards. Vance lieferte für den erschreckenden Vormarsch staatlicher Zensur
etliche Belege, von denen es bezeichnend ist, dass diese Fälle in der
staatstragenden deutschen Medienlandschaft kaum ein Echo fanden. Das
wichtigste Beispiel ist der präzedenzlose Tabubruch, mit dem Rumänien im
Dezember 2024 unter dem Applaus hochrangiger EU-Funktionäre erstmals
das Ergebnis einer demokratischen Präsidentschaftswahl annullieren ließ,
nachdem der europakritische Kandidat die Vorwahl gewonnen hatte –
angeblich wegen „russischer Desinformation“. Auch hier legte Vance auf
pointierte Art den Finger in die Wunde: „Wenn Ihre Demokratie mit ein
paar hunderttausend Dollar digitaler Werbung aus einem anderen Land
zerstört werden kann, dann war sie zunächst einmal nicht sehr stark.“
In Deutschland ist man sich einig, dass Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz wie ein schlechter Schüler das „Thema verfehlt“ habe. Das Gegenteil trifft zu: Eine Demokratie, die ihren eigenen Bürgern nicht mehr über den Weg traut, kann weder mit Fünf-Prozent-Militärbudgets noch mit immer neuen Gesetzen zur digitalen Regulierung und Bevormundung verteidigt werden. „Ich bin zutiefst davon überzeugt“, sagte der Gastredner, „dass es keine Sicherheit gibt, wenn Sie Angst vor den Stimmen, den Meinungen und dem Bewusstsein haben, die Ihr eigenes Volk leiten.“
Sicherheit und Freiheit gehören untrennbar zusammen: Offenbar hat Europa diese Erkenntnis, die nach 1945 seinen Neuanfang ermöglichte, heute schon wieder so erfolgreich verdrängt, dass Amerika die Alte Welt daran erinnern muss. „Die Missachtung der Bürger“, stellte Vance richtig fest, „ist der todsichere Weg, die Demokratie zu zerstören.“ Bezeichnend genug, dass die deutsche Öffentlichkeit solche Aussagen so auslegte, als betriebe der US-Vizepräsident damit Wahlkampf für die AfD. Tatsächlich forderte er die versammelten Politiker lediglich dazu auf, berechtigte Interessen der Wählerschaft, etwa in Bezug auf die Migrationspolitik, nicht durch eine „Brandmauer“ von der politischen Bearbeitung auszuschließen. „Was keine Demokratie, weder die amerikanische, noch die deutsche oder europäische, überleben wird, ist, Millionen von Wählern zu sagen, dass ihre Gedanken und Sorgen, ihre Hoffnungen, ihre Bitten um Hilfe ungültig oder es nicht wert sind, überhaupt in Betracht gezogen zu werden.“
All diese Sätze bringen demokratische Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck. Dass sie bei den deutschen Meinungsführern auf so wenig Neugier, auf so taube Ohren stoßen, ist der eigentliche Skandal. Die Erinnerung des US-Vizepräsidenten an den Kalten Krieg, als „Desinformation“ noch ein sowjetischer Propagandabegriff war und die kommunistischen Kader „die außergewöhnlichen Segnungen der Freiheit weder wertschätzten noch respektierten“ – diese historische Parallele wirkt keineswegs so abwegig, wenn man die ratlosen Gesichter betrachtet, mit denen ein Heer versteinert wirkender Würdenträger im Bayerischen Hof schweigend dieses flammende Plädoyer für die Demokratie verfolgte.
Der Christ J.D.
Vance, der aus ärmsten proletarischen Verhältnissen stammt und dessen
Mutter drogenabhängig war, weiß aus seiner eigenen Lebenserfahrung, dass
nicht der Staat allein die Menschen befreien kann: Das können nur sie
selbst. Vance hat den Deutschen am 14. Februar 2025 in München eine
Lektion in Demokratie erteilt. Sie täten im ureigensten Interesse gut
daran, seine Rede als Stunde der Wahrheit zu erkennen, anstatt einen
feindlichen Angriff daraus zu machen.
Als
Chefkommentator leitet Andreas Rosenfelder das Debattenressort der WELT
unter dem neuen Namen Meinungsfreiheit – und ist überzeugt, dass der
freie Austausch der Argumente existenziell für eine lebendige Demokratie
ist.
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