15 Februar 2025

Umstrittene Rede - Die Wahrheit des J.D. Vance (WELT+)

 Teilen Sie die Meinung des Autors? JA  20.488 - NEIN 1.199
Umstrittene Rede
Die Wahrheit des J.D. Vance (WELT+)
Von Andreas Rosenfelder, Chefkommentator und Ressortleiter Meinungsfreiheit, 15.92.2025
„Übergriffig“, „bizarr“, „Thema verfehlt“? Deutschlands Eliten können mit dem entschiedenen Plädoyer für die Meinungsfreiheit, das J.D. Vance in München hielt, nichts anfangen. Das ist der eigentliche Skandal. Um unsere Demokratie steht es offenbar sehr viel schlechter als gedacht.
Hat J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine skandalöse Rede gehalten? Die Reaktionen deuten darauf hin. „Es ist fast schon ein übergriffiger Umgang mit den Europäern, insbesondere mit uns Deutschen“, erklärt CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz. „Was hier gesagt wurde, das irritiert und das darf auch nicht einfach wegkommentiert und kleingeredet werden“, lautet die Rüge von Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD). Und Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP schreibt auf X, die Vance-Rede sei „ein bizarrer intellektueller Tiefflug“ und habe „auf einer internationalen Sicherheitskonferenz nichts zu suchen“.
Was ist geschehen? Welche schockierende Botschaft hat Vance nach München mitgebracht, wo sich Europas politische und militärische Crème de la Crème wie jedes Jahr versammelte, um bei Kalbslende und Kaviar gemeinsame Werte zu beschwören? Was ging den deutschen Entscheidern so gegen den Strich, dass sie den amerikanischen Gast – wären sie nur nicht so abhängig von seinem militärischen Beistand! – vermutlich sofort zur Persona non grata erklärt hätten?
Der Skandal besteht darin, dass J.D. Vance es gewagt hat, eine einfache Frage zu stellen – eine Frage, die das Europa unserer Gegenwart ins Mark trifft, weil es längst aufgehört hat, sie sich selbst zu stellen. „Ich habe viel darüber gehört, wogegen Sie sich verteidigen müssen, und natürlich ist das wichtig“, so Vance in München. „Aber was mir und sicherlich vielen Bürgern Europas etwas weniger klar zu sein scheint, ist, wofür genau Sie sich verteidigen."
Deutschlands Politiker, Medien und auch die vermeintlichen Sicherheitsexperten sind einhellig empört darüber, dass Vance kaum über die Ukraine sprach, dafür aber ausführlich über die „Abkehr Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte“ und insbesondere vom Prinzip der Meinungsfreiheit: „In ganz Europa ist die Redefreiheit, so fürchte ich, auf dem Rückzug.“

Wer noch Belege für diese Tatsache sucht, findet sie in der kollektiven Entrüstung über diese offene, sachliche vorgetragene Kritik eines Freundes, der seine Überzeugung betonte, „dass wir im selben Team spielen“. Die deutsche Öffentlichkeit erwartet, dass auf Veranstaltungen wie der Münchner Sicherheitskonferenz die üblichen symbolpolitischen Satzbausteine à la Baerbock abgeworfen werden: Europa sei bedroht durch die wachsende Macht autoritärer Herrscher im Ausland und den Aufstieg des Rechtspopulismus im Inneren, man müsse jetzt zusammenstehen und Putins Angriffskrieg ebenso entschlossen entgegentreten wie Desinformation, Hass und Hetze, bla, bla, bla, Applaus, Applaus.

Doch statt gemeinschaftsstiftende Rhetorik abzuspulen, die man zusammen beklatschen kann, um sich danach wechselseitig auf die Schultern zu klopfen, hat Vance eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen. Europa hat sich in eine Festung verwandelt – allerdings nicht im Sinne der „Festung Europa“, von der Gegner einer restriktiven Zuwanderungspolitik gerne sprechen. Nein, die Eliten der Europäischen Union verteidigen die Demokratie seit der Flüchtlingskrise, aber auch in der Corona-Politik und im Ukraine-Konflikt immer stärker gegen ihr wichtigstes Element, nämlich die Bevölkerung selbst. Sobald diese die vermeintlich gemeinsamen Werte nicht mehr teilt, wird sie zum Feind, der mit der Macht der Behörden und im Zweifel auch mit Polizeigewalt in die Schranken gewiesen werden muss.

Sicher muss sich auch Amerika unter Trump künftig an den eigenen Maßstäben messen – und etwa kritisch fragen lassen, warum Agenturjournalisten, die nicht „Golf von Amerika“ schreiben, der Zugang zum „Briefing Room“ des Weißen Hauses verweigert wird. Was Übergriffe auf einzelne, oftmals wehrlose Bürger angeht, setzt Europa allerdings schon längst die neuen Orwell-Standards. Vance lieferte für den erschreckenden Vormarsch staatlicher Zensur etliche Belege, von denen es bezeichnend ist, dass diese Fälle in der staatstragenden deutschen Medienlandschaft kaum ein Echo fanden. Das wichtigste Beispiel ist der präzedenzlose Tabubruch, mit dem Rumänien im Dezember 2024 unter dem Applaus hochrangiger EU-Funktionäre erstmals das Ergebnis einer demokratischen Präsidentschaftswahl annullieren ließ, nachdem der europakritische Kandidat die Vorwahl gewonnen hatte – angeblich wegen „russischer Desinformation“. Auch hier legte Vance auf pointierte Art den Finger in die Wunde: „Wenn Ihre Demokratie mit ein paar hunderttausend Dollar digitaler Werbung aus einem anderen Land zerstört werden kann, dann war sie zunächst einmal nicht sehr stark.“

In Deutschland ist man sich einig, dass Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz wie ein schlechter Schüler das „Thema verfehlt“ habe. Das Gegenteil trifft zu: Eine Demokratie, die ihren eigenen Bürgern nicht mehr über den Weg traut, kann weder mit Fünf-Prozent-Militärbudgets noch mit immer neuen Gesetzen zur digitalen Regulierung und Bevormundung verteidigt werden. „Ich bin zutiefst davon überzeugt“, sagte der Gastredner, „dass es keine Sicherheit gibt, wenn Sie Angst vor den Stimmen, den Meinungen und dem Bewusstsein haben, die Ihr eigenes Volk leiten.“

Sicherheit und Freiheit gehören untrennbar zusammen: Offenbar hat Europa diese Erkenntnis, die nach 1945 seinen Neuanfang ermöglichte, heute schon wieder so erfolgreich verdrängt, dass Amerika die Alte Welt daran erinnern muss. „Die Missachtung der Bürger“, stellte Vance richtig fest, „ist der todsichere Weg, die Demokratie zu zerstören.“ Bezeichnend genug, dass die deutsche Öffentlichkeit solche Aussagen so auslegte, als betriebe der US-Vizepräsident damit Wahlkampf für die AfD. Tatsächlich forderte er die versammelten Politiker lediglich dazu auf, berechtigte Interessen der Wählerschaft, etwa in Bezug auf die Migrationspolitik, nicht durch eine „Brandmauer“ von der politischen Bearbeitung auszuschließen. „Was keine Demokratie, weder die amerikanische, noch die deutsche oder europäische, überleben wird, ist, Millionen von Wählern zu sagen, dass ihre Gedanken und Sorgen, ihre Hoffnungen, ihre Bitten um Hilfe ungültig oder es nicht wert sind, überhaupt in Betracht gezogen zu werden.“

All diese Sätze bringen demokratische Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck. Dass sie bei den deutschen Meinungsführern auf so wenig Neugier, auf so taube Ohren stoßen, ist der eigentliche Skandal. Die Erinnerung des US-Vizepräsidenten an den Kalten Krieg, als „Desinformation“ noch ein sowjetischer Propagandabegriff war und die kommunistischen Kader „die außergewöhnlichen Segnungen der Freiheit weder wertschätzten noch respektierten“ – diese historische Parallele wirkt keineswegs so abwegig, wenn man die ratlosen Gesichter betrachtet, mit denen ein Heer versteinert wirkender Würdenträger im Bayerischen Hof schweigend dieses flammende Plädoyer für die Demokratie verfolgte.

Der Christ J.D. Vance, der aus ärmsten proletarischen Verhältnissen stammt und dessen Mutter drogenabhängig war, weiß aus seiner eigenen Lebenserfahrung, dass nicht der Staat allein die Menschen befreien kann: Das können nur sie selbst. Vance hat den Deutschen am 14. Februar 2025 in München eine Lektion in Demokratie erteilt. Sie täten im ureigensten Interesse gut daran, seine Rede als Stunde der Wahrheit zu erkennen, anstatt einen feindlichen Angriff daraus zu machen.

Als Chefkommentator leitet Andreas Rosenfelder das Debattenressort der WELT unter dem neuen Namen Meinungsfreiheit – und ist überzeugt, dass der freie Austausch der Argumente existenziell für eine lebendige Demokratie ist.
Teilen Sie die Meinung des Autors? 
JA  20.488 - NEIN 1.199

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen