21 Februar 2025

Sarrazin wurde Opfer einer Hexenjagd. Doch Aschaffenburg und München zeigen: Er hatte recht (NZZ)

Sarrazin wurde Opfer einer Hexenjagd. Doch Aschaffenburg und München zeigen: Er hatte recht (NZZ)
Der Bestseller «Deutschland schafft sich ab» von Thilo Sarrazin warf 2010 zentrale Fragen zur Migrationspolitik auf. Sie sind bis heute nicht gelöst. Die damalige Debatte um das jetzt neu aufgelegte Buch zeugt von einem Tiefpunkt politischer Kultur in Deutschland.
Claudia Schwartz, 
Sarrazin forderte hohe Hürden für die Zuwanderung und aktive Integration seitens der Migranten; er warnte vor der wachsenden Gefahr islamistischen Terrors. Das hätte er nicht tun dürfen. Sarrazin habe ein «antimuslimisches Dossier» verfasst, lautete ein noch vergleichsweise mildes Urteil der «FAZ».
Vertreter von Politik und Medien veranstalteten ein öffentliches Tribunal mit dem Ziel, den Autor auf allen Ebenen, beruflich, politisch, persönlich, zu vernichten. Man erklärte den Buchautor zum «Besessenen» («Berliner Zeitung»), der eine neue «Religionshygiene» begründe (Magazin der «Süddeutschen Zeitung»).
Das ZDF raunte, Sarrazin wolle einen «neuen Staat», nicht mehr «offen und gastfreundlich», «sondern abweisend, respektlos und fremdenfeindlich», was der «freiheitlich-demokratischen Grundordnung» widerspreche. Und während der Deutschen liebster Küchenphilosoph, Richard David Precht, in Sarrazin einen erkannte, der «mit seinen Vorurteilen ins Braune» rede, diagnostizierte der SPD-Kollege Ralf Stegner «überpointierte Überfremungsängste» und «Borderline-Rassismus».

Im deutschen Einwanderungsland

Es ist so, Deutschland stand sich aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit immer selbst im Weg, wenn es um das Thema Migration ging. Das belegen alle Debatten, angefangen bei der verspäteten und zögerlichen Anerkennung der Bundesrepublik als ein Einwanderungsland über die Frage nach einer Leitkultur bis hin zu jener, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Auch der hysterische Umgang mit Sarrazin beleuchtete, dass kein Interesse bestand an einer differenzierten Diskussion über Migrationspolitik.

Angefangen bei der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die, seit fünf Jahren im Amt, ein Plädoyer für Zensur auf höchster Ebene abgab, indem sie das Werk als «nicht hilfreich» bezeichnete. Unvergessen ist bis heute ihr Eingeständnis, das Buch gar nicht gelesen zu haben, weil ihr für die Urteilsfindung die paar Vorabdrucke gereicht hätten. Man kann das als persönliche Borniertheit abtun. Oder man kann auf die Vorbildfunktion einer Regierungschefin hinweisen, die eine Meinung aburteilte, mit der sie sich zugegebenermassen nicht auseinandersetzen wollte.

Damit war jede Hemmschwelle für den medialen Vernichtungsfeldzug abgeräumt: Der «Ruf des Rattenfängers» wurde quer durch Politik und Medien beschworen unter der expliziten Forderung «Ja, Sarrazin muss weg» («Frankfurter Rundschau»).

Es ist heute in Anbetracht des antisemitischen Mobs auf Berlins Strassen kaum vorstellbar, aber auch der Zentralrat der Juden intervenierte bei der Bundesbank gegen Sarrazin. Angesichts des öffentlichen Kesseltreibens trat Sarrazin denn auch rasch als Bundesbank-Vorstandsmitglied zurück, um Schaden von der Institution abzuwenden.

Mit der Nazi-Keule

Der von der damaligen SPD-Führung angestrebte, von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt scharf kritisierte Rauswurf aus der SPD, gegen den sich Sarrazin heftig wehrte, gelang allerdings erst im dritten Verfahren. Der Parteiausschluss von 2020 ist bis heute ein Schandfleck in der Geschichte der Sozialdemokraten. Deren damaliger Vorsitzender Sigmar Gabriel beschied dem jahrzehntelangen Parteimitglied Sarrazin ein «hoffnungsloses», mit der «Aufklärung» nicht vereinbares Menschenbild und sagte über dessen Buch, es seien genau solche Thesen gewesen, die Deutschland einst «nach Auschwitz» geführt hätten. Auschwitz!

Als Gabriel jüngst in der Talkshow von Markus Lanz im Hinblick auf Amerika die Frage in den Raum stellte, ob auch gerade in Deutschland die liberale Demokratie nicht eigentlich gefährdet sei, hätte man ihn gerne gefragt, ob ihm seine Tirade gegen Sarrazin heute leidtue.

Im Rückblick kann man sagen, dass im Fall Sarrazin ein unter Merkel erstarkendes links-grünes Milieu schon einmal ausprobierte, inwieweit sich Personen, die unliebsame Wahrheiten verbreiten, mit der Nazi-Keule mundtot machen lassen. Es war eine Lehrstunde, wie man den öffentlichen Diskurs beherrscht, indem man einem Kritiker der Verhältnisse die Etiketten von Hassrede oder Hetze anhängt. Dieser Stil mündete unter der Ampelregierung in der Aufforderung an Bürger, jene, die angeblich fehlbare Meinungen äussern, im Onlineverfahren bei Behörden («Meldestellen») zu verpetzen.

J. D. Vance liest den Deutschen in München die Leviten

Der neue Hang zur Gesinnungspolizei, mit der die deutsche Politik unter dem Vorwand, die Demokratie retten zu müssen, diese stückchenweise abschafft, hat sich weit herumgesprochen. Das machte der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance in seiner Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich. Er wies – mit erstaunlicher Detailkenntnis – darauf hin, dass es die deutsche Nation im Innern gefährde, wenn missliebige Meinungen hinter Brandmauern versorgt würden.

Am lautesten empört über diese Einmischung in deutsche Verhältnisse haben sich mit Bundespräsident Steinmeier und Bundeskanzler Scholz bezeichnenderweise zwei SPD-Spitzenpolitiker. Sie untermalten, wie mittlerweile Selbstherrlichkeit sehr wohl, Toleranz aber eher weniger ihr Denken bestimmt. Dabei wären die demokratischen Parteien der Mitte derzeit besonders gefordert als ein Forum für divergierende Meinungen.

Oft wurde gesagt, dass Sarrazins Buch Auslöser für die drei Jahre später erfolgte Gründung der Alternative für Deutschland gewesen sei. Diese Lesart dient einer multikulturell ausgerichteten Schicht mittlerweile als willkommene Ausrede, weil ihr die Migrationsdebatte ein Greuel ist. Es ist die «spezifisch deutsche Spielart utopischer Politik», die laut Sarrazin das Wünschbare über das Notwendige stellt.

Dieses Klima – und dazu zählt auch der damalige öffentliche, grösstenteils hysterische Umgang mit Sarrazin und seinen Thesen – ebnete den Weg für sich laut formierende Gegenpositionen. Eine «monochrome Meinungslandschaft, die vor Entrüstung bebt» (Henryk M. Broder), verlangt nach Gegenrede: Sarrazins Analyse zum Beispiel wie auch die Gründung der AfD drei Jahre später.

Was die Betreiber der Hexenjagd gegen Sarrazin nicht bedacht hatten, war, dass sich dort, wo sie seinen Aufruf für toxisch erklärten, ein Vakuum in der Migrationsdebatte bildete. Dieses besetzte die neue Rechte. Hinzu kam Merkels Flüchtlingspolitik, welche die Wähler rechts der CDU heimatlos machte. Solchen Umständen verdankt die AfD ihren anhaltenden Aufstieg.

Wie sich der Kampf um die Meinungshoheit zuspitzte, illustriert ein Einwurf der Schriftstellerin Sibylle Berg, die 2016 im «Spiegel» vorschlug, man solle doch die «biodeutschen» Vertreter von «Nationalismus» und «Leitkultur» wie Sarrazin oder Erika Steinbach «behutsam umsiedeln» an einen entlegenen Ort und dann einfach eine Mauer drumherum bauen.

Aschaffenburg war ein Weckruf

Das derzeitige Festhalten an der Brandmauer erinnert an den krampfhaften Ausschluss von Sarrazin vor fünfzehn Jahren. Kein Problem wurde dadurch gelöst, viele Probleme wurden geschaffen. Wann wird Deutschland zum demokratischen Dialog zurückkehren?

Sarrazins Buch stand nach seinem Erscheinen mehr als fünf Monate auf den Bestsellerlisten und wurde über 1,5 Millionen Mal verkauft; es ist eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Sachbücher. Vergangene Woche erschien eine vom Autor ergänzte und kommentierte Neuauflage.

Was Sarrazin bereits 2010 schrieb: «Das westliche Abendland sieht sich durch die muslimische Immigration und den wachsenden Einfluss islamistischer Glaubensrichtungen mit autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen konfrontiert, die nicht nur das eigene Selbstverständnis herausfordern, sondern auch eine direkte Bedrohung unseres Lebensstils darstellen.»

Heute gibt es keine aufgeregte Diskussion mehr über diese Problematisierung, die das Thema Zuwanderung zusammendenkt mit Begriffen wie Armut, Arbeit, Bildung oder islamistischer Bedrohung. Dass sich allerdings die Politik mit einer klaren Benennung der zentralen gesellschaftlichen Konfliktthemen weiterhin schwertut, zeigte dieser Wahlkampf. Es brauchte erst den zweifachen Weckruf der Anschläge in Aschaffenburg und München, bis das Thema in den Vordergrund gerückt ist.

Fragt man den mittlerweile achtzigjährigen Sarrazin, ob es ihn nach all den Anfeindungen mit Genugtuung erfülle, dass er in vielen Punkten recht gehabt habe, verneint er mit dem Hinweis, dass ihm die Situation in Deutschland grosse Sorge bereite. Wo er sich geirrt habe, hält Sarrazin heute nüchtern fest, da sei die Realität düsterer, als es seine Prognosen waren – nämlich in der Massenzuwanderung und im Abstieg des Bildungsstandorts Deutschland.

Gesellschaftspolitisches Versagen

Brisanter aber erscheint nun im Rückblick ohnehin die Rezeptionsgeschichte. Sarrazin widmet ihr in seiner «Bilanz» ein ganzes Kapitel, es zeugt von einem Tiefpunkt der politischen Kultur in der Bundesrepublik. Mag die Geschichte Sarrazins Thesen recht geben. Sein intellektueller Einwurf ist als ein Echoraum gesellschaftspolitischen Versagens ein Fanal.

Das islamistische Attentat 2016 auf den Berliner Weihnachtsmarkt läutete Jahre der Angst ein. Die Attentate nahmen zu, ohne dass in der Politik bis heute eine Kehrtwende zu verzeichnen war. Friedrich Merz (CDU) ist im Bundestag unterlegen mit seinem Versuch, dem Problem etwas entgegenzusetzen. Solange dieses Verdrängen im Geiste eines universalistisch-integrativen Multikulturalismus anhält, treibt man die Wähler der AfD in die Arme. Am Sonntag sind Bundestagswahlen. Thilo Sarrazin fällt diesmal aus als Sündenbock.

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