Das wäre das demokratische Vorgehen. Alles andere ignoriert den Willen eines inzwischen ziemlich großen Teils der Bürger. Die AfD liegt in den Umfragen bei bis zu 22 Prozent, Tendenz steigend.
Im Zentrum der Antworten auf diese Fragen steht ein Wort: «Mitte». Es ist der Schlüsselbegriff für das Verständnis der deutschen Politik der jüngeren Vergangenheit und von Merz’ gegenwärtiger Bredouille. Während Parteien in anderen Ländern ganz selbstverständlich bestimmte Lager vertreten, von links bis rechts, drängen in Deutschland alle etablierten Parteien in die Mitte. Oder genauer: die «demokratische Mitte». Die Formulierung verbannt alle anderen nicht nur an die «Ränder», sondern in den antidemokratischen Limbus.
Die Mitte als mobiler «Deutungsort», wie es der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel einmal treffend formuliert hat, befindet sich in Deutschland nicht im Zentrum des politischen Koordinatensystems, also zwischen AfD und Linkspartei, sondern deutlich links davon.
Ein Grund dafür ist der in Deutschland omnipräsente, parteiübergreifende und staatlich geförderte «Kampf gegen rechts». Links zu sein, ist hierzulande völlig in Ordnung, auch radikal links; die SPD-Vorsitzende Saskia Esken kann sich zur autonomen Antifa bekennen, und fast niemand regt sich auf. Aber wer in Deutschland auch nur moderat rechte Positionen vertritt, wird schneller als «Nazi» etikettiert, als er sich rechtfertigen kann.
Ein zweiter Grund ist Angela Merkel. Die frühere Kanzlerin hat in ihren 16 Jahren an der Macht zahlreiche bürgerliche Positionen abgeräumt, die aus Sicht von Grünen und SPD kontrovers waren und in Wahlkämpfen gegen die Christlichdemokraten hätten verwendet werden können.
Wäre Merkel nicht gewesen, dann säße Merz heute nicht in der Tinte. Der CDU-Chef bringt eigentlich vieles mit, was bürgerliche Herzen höherschlagen lässt und auch AfD-Anhänger zur Umkehr bewegen könnte. Er hält nichts von Planwirtschaft, feministischer Außenpolitik oder frei wählbaren Pronomen. Und die Interessen der eigenen Bürger kommen für ihn vor den Interessen des «globalen Südens».
Doch Merz kämpft nicht nur gegen SPD und Grüne, sondern mindestens so sehr gegen den Ruf, den die CDU der Kanzlerin a. D. verdankt: bürgerliche Fassade, linker Kern. Und er darf bei seinem Versuch, die Partei neu auszurichten, nicht die Regeln der besagten Mitte verletzen, angefangen bei deren «Kampf gegen rechts».
Ein Drama in drei Akten
Wie eng der Spielraum ist, durfte Merz im Januar erfahren, nach der tödlichen Attacke eines ausreisepflichtigen Afghanen auf Kleinkinder und Passanten in Aschaffenburg. Es war ein Drama in drei Akten.
Der erste Akt war seine Ankündigung. Am Tag nach der schrecklichen Tat kündigte Merz, glaubhaft erschüttert, eine radikale Änderung der deutschen Asylpolitik an, und zwar ab seinem ersten Tag im Kanzleramt. Die kernigen Worte erinnerten sicher nicht zufällig an Donald Trump («On day one of the Trump presidency, I will . . .»).
Entscheidend war nicht so sehr, was Merz konkret ankündigte, etwa Zurückweisungen illegal einreisender Migranten an allen Grenzen. Entscheidend war die Aussage, dass ihm «völlig gleichgültig» sei, wer diesen Weg politisch mitgehen werde. Tags darauf kündigte die von Merz geführte Bundestagsfraktion von CDU und CSU an, noch vor der Wahl entsprechende Anträge ins Parlament einzubringen. Ohne Rücksicht darauf, wer diese unterstütze.
Was im zweiten Akt folgte, kann auch Merz nicht überrascht haben. Er trug den Titel «Der Aufschrei».
Skandal! Betrug! 1933! Politiker von SPD und Grünen überschlugen sich förmlich in der Entrüstung. Linke Medien bangten um den Erhalt der Brandmauer zwischen CDU und AfD. Schauspieler und Musiker schrieben einen offenen Brief, in dem sie sich selbst als lebende Ersatzmauer anboten. Angela Merkel zürnte aus dem Ruhestand. In mehreren Städten warnten Demonstranten vor einer Rückkehr des Faschismus. Erst als immer mehr CDU-Mitglieder attackiert und bedroht wurden, traten einige auf die Bremse.
Er verurteile alle Angriffe und Sachbeschädigungen, erklärte etwa Robert Habeck. Das war fast schon gnädig. Kurz zuvor hatte der grüne Spitzenkandidat die Proteste, an denen die CDU als Gefahr für die Demokratie dargestellt wird, noch als «starkes Zeichen» gefeiert und in einem Video vor der Rückkehr völkischer Normen gewarnt. Dazu sah man durchgestrichene Hakenkreuze in Zeitlupe im Wind wehen.
Auf die Empörung folgte der dritte Akt: «Die Zerknirschung». Merz sah den Sturm – und ruderte mit seiner Partei zusammen zurück. Natürlich stehe die Brandmauer, hieß es allenthalben. Und Merz, dem gerade noch gleichgültig gewesen war, wer seinen Weg mitgeht, bedauerte öffentlich, dass sein Antrag doch tatsächlich mithilfe der AfD eine Mehrheit erhalten hatte. Sodann gelobte er für alle Zeiten: keine Zusammenarbeit, keine Duldung, «gar nichts» mit den Rechten.
Die selbsterklärte Mitte nahm es mit erhobenem Zeigefinger und Genugtuung zur Kenntnis.
Preis eines Weiterwurstelns
Zurzeit wird der Epilog aufgeführt – oder, wie man in Deutschland sagt: die Moral von der Geschicht. Merz, so geht die Erzählung, hat ein großes Tabu gebrochen und nur mit knapper Not noch einmal die Kurve gekriegt. Wehe, er traut sich ein zweites Mal.
Man kann dem Land, das der Mann regieren will, nur wünschen, dass er sich traut. Eine Minderheitsregierung mag ein instabiles Unterfangen sein. Und ein Bündnis mit der AfD stünde einem permanenten Sturm der Entrüstung gegenüber. Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns wäre in beiden Fällen hoch.
Aber sind die Alternativen wirklich vielversprechender? Die Wende in der Wirtschaftspolitik wird Merz in einer schwarz-roten oder schwarz-grünen Regierung kaum durchsetzen können. Und eine Asylpolitik mit Zähnen wäre etwa so realistisch wie ein Versöhnungsdinner zwischen Merz und Merkel mit anschließender inniger Umarmung.
Der Preis eines Weiterwurstelns im Sinne der linken deutschen Mitte wäre hoch. Noch ist die CDU auf nationaler Ebene stärker als die AfD, aber das könnte sich nach vier Jahren an der Seite der Sozialdemokraten oder der Grünen ändern. Dann wäre die bereits weit fortgeschrittene Spaltung des Landes komplett. Die radikalen Rechten würden den Ton angeben, und Mitte wäre das, was links von ihnen übrig bliebe.
Aber wer weiß, vielleicht erinnert sich Merz als Kanzler an jene wilden Tage im Januar, als er für einen Moment bereit war, das aus seiner Sicht – und aus der Sicht der meisten Deutschen – Richtige zu tun, auch wenn ihm die vermeintlich Falschen zustimmen.
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