Für einen Bundestag ohne Koalition (Cicero)
Man meint, dass ein Parlament ohne Koalitionsdisziplin, die in einer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben ist, keine Beschlüsse zustande bringen würde. Tatsächlich – und das verstößt genau genommen gegen das Grundgesetz – verpflichten die Koalitionsvereinbarungen die Fraktionen der Regierungskoalition und damit jeden einzelnen Abgeordneten auf gemeinsames Abstimmungsverhalten. Im Ergebnis führt das dazu, dass ein paar Leute innerhalb des engsten Zirkels rund um Kanzler und Fraktionsführungen über das entscheiden, was eigentlich im Parlament auszuhandeln ist, und dass die Abstimmungen im Bundestag in den meisten Fällen reine Formalität sind.
Dass zwischen Politikern und Bürgern eine tiefe Entfremdung fortschreitet, dürfte seinen Grund darin haben, dass die Bürger überhaupt nicht mehr wahrnehmen können, dass die Abgeordneten ihre Vertreter im Prozess der Entscheidungsfindung sind, sondern dass es eher umgekehrt ist: Abgeordnete vertreten das, was Kanzler, Vizekanzler und Fraktionsführungen ausgehandelt haben, gegenüber den Bürgern.
Es müssen nicht alle Abgeordneten einer Fraktion gleichartig abstimmen
Aber ließe sich denn ohne Koalition überhaupt eine Regierung bilden, ließe sich ein Kanzler wählen? Warum nicht? Warum sollten Merz, Scholz oder wer auch immer Kanzler werden will, nicht versuchen, Leute aus den anderen Parteien für Ministerämter und Staatssekretärs-Positionen zu gewinnen, ohne dass daraus eine Koalitionsverpflichtung entstünde? Warum nicht den Grünen das Umwelt-Ressort anbieten, wenn man das Gefühl hat, auf diesem Gebiet gemeinsam etwas voranbringen zu können, der SPD das Verteidigungsministerium, der FDP das Wirtschaftsministerium usw.? Und warum sollte ein solcher Prozess der Regierungsbildung nicht dazu führen, dass sich die Abgeordneten auf eine Person als Kanzler einigen können?
Es ist nicht einmal unwahrscheinlich, dass sich mit
wechselnden Mehrheiten bessere, klarere Gesetze verabschieden ließen als
unter dem Zwang des Koalitions- und Fraktionskompromisses. Und
natürlich würden dann nicht alle Abgeordneten einer Fraktion gleichartig
abstimmen. Das bedeutet nicht, dass die Abgeordneten der gleichen
Partei nicht innerhalb ihrer Fraktion kooperieren und sich die Arbeit
teilen würden, um sodann der Empfehlung des Experten zu folgen, dem man
vertraut. Auch das ist eine Entscheidung des guten Gewissens. Ebenso,
wenn sich jemand entscheidet, gegen einen Vorschlag zu stimmen, weil
Abgeordnete einer bestimmten anderen Fraktion ebenfalls zustimmen. Aber
dazu braucht es keine „Brandmauer“ – das kann man getrost der
grundgesetzlich verbürgten Gewissenspflicht der Abgeordneten überlassen.
Und nein: Das schafft keine „Weimarer Verhältnisse“ und erst recht ist
es nicht die Vorstufe zum Faschismus. Im Parlament sitzen mehrheitlich
demokratisch erzogene und überzeugte Bundesbürger, die wissen, welche
Verantwortung sie tragen. Und letztlich hat auch nicht ein Zuviel an
Demokratie im Reichstag die Machtergreifung der Nationalsozialisten
möglich gemacht, sondern die Aushöhlung demokratischer Prinzipien. Das
sollte uns Heutigen eher Sorgen machen, und nicht zu viel Lebendigkeit
im Parlament.
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