Am 19. Januar war es mal wieder so weit. 20 Uhr, Jens Riewa spricht mit mir. Die drei Frauen, die nach 471 Tagen frei kommen, seien in Gaza von der Terrororganisation Hamas „festgehalten“ worden. Dann ist lang und breit von „vertriebenen Palästinensern“ die Rede, die zu „dem, was von ihren Häusern übrig bleibt, zurückkehren“. Eine Frau wird auf Trümmern interviewt.
Dann werden die Geiseln von der Hamas an das Internationale Rote Kreuz übergeben, sie würden ihre Macht zeigen. Mehr nicht. Dann wird vom „sogenannten“ Platz der Geiseln in Tel Aviv gesprochen. Danach geht es nur noch um die Waffenruhe und sehr lange um die Hilfslieferungen für die Palästinenser.
Ich bin irritiert, wie meine ehemaligen Kollegen mit diesem Ereignis umgehen. Bei der „Tagesschau“ ist es ja nicht nur wichtig, was sie zeigt, sondern vor allem, was sie nicht zeigt. Oder welche Sprache sie benutzt. Acht Minuten, und damit die halbe Sendung, widmet die wichtigste Nachrichtensendung des Landes diesem Ereignis.
Schauen wir zum Vergleich auf die „heute“-Sendung des gleichen Tages im ZDF um 19 Uhr. Hier fallen andere Vokabeln: Die freigelassenen palästinensischen Gefangenen sind „Straftäter“, die israelischen Geiseln wurden vom Musikfestival „verschleppt“. „Chaotische Szenen“ hätten sich bei der Übergabe der Geiseln abgespielt – die Hamas habe sich bejubeln lassen, „obwohl ihr Krieg so viel Unheil über Gaza gebracht hat“.
In der Schalte danach erinnert der Korrespondent an das „Massaker der Hamas“ und spricht von einem „desaströsen Krieg“, den die Hamas „begonnen hat“. Auch andere große Nachrichtensendungen haben für das Ereignis eine andere Sprache verwendet. So spricht der österreichische ORF in „ZIB 1“ von der „radikalislamischen Hamas“, einer „martialischen Übergabe“ und meint: „Die Hamas inszeniert die Übergabe als Machtdemonstration.“
Auch „RTL Aktuell“ spricht von
„Hamas-Terroristen“, die durch eine Menge an „jubelnden Schaulustigen“
fahren. Im Gespräch mit der Korrespondentin wird berichtet, dass die
Frauen in „Tunneln“ gefangen gehalten wurden, wahrscheinlich
„unterernährt und lichtempfindlich“ seien.
Solch klare Einordnungen hätte ich mir auch in der „Tagesschau“ gewünscht. Nun muss man fairerweise zugeben: Es ist eine der schwersten Aufgaben für Journalisten, ausgewogen über den Nahen Osten zu berichten. Aber der „Tagesschau“ gelingt es auffallend häufig nicht.
Ich erinnere mich an eine schriftliche Aufforderung der Chefredaktion vom 9.Oktober 2023, also kurz nach dem Überfall der Hamas auf Israel und der Ermordung von über 1200 Menschen. Offenbar sah sich die Chefredaktion angesichts der eigenen Berichterstattung zum Einschreiten genötigt. Sie ermahnte ihre Mitarbeiter in einer „Mail an alle“, doch nicht mehr Begriffe wie Hamas-„Kämpfer“ zu verwenden. Das sei „euphemistisch“. Die Floskeln „Gewaltspirale“ oder „Eskalation in Nahost“ sollten ebenfalls vermieden werden.
„Terroristen und Mörder sind keine Quelle“
Neun Tage später sorgte der Umgang der „Tagesschau“ mit einer Nachricht aus Gaza erneut für Schlagzeilen. Die Redaktion verbreitete auf „Tagesschau24“ und „Tagesschau.de“ die Nachricht, dass die israelische Armee eine Rakete auf das Al-Ahli-Arab-Krankhaus abgefeuert habe und es bis zu 500 Tote gebe. Als Quelle dienten Gesundheitsministerium und der Zivilschutz von Gaza. Erst später wurde ergänzt, dass beide der Hamas-Regierung unterstellt sind.
Bald war klar: Vermutlich wurde
die Explosion in einem Treibstofflager nahe der Klinik durch eine
fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad ausgelöst. Und die Zahl
der Opfer war niedriger. Aber selbst 24 Stunden später, als die meisten
unabhängigen Experten weltweit davon sprachen, dass viel für die Version
der israelischen Seite und wenig für die Darstellung der Hamas spricht,
tat die „Tagesschau“ vor einem Millionenpublikum so, als stünde Aussage
gegen Aussage und man könne nicht genau sagen, was stimmt. Zitat: „Auch
am Tag nach dem Raketeneinschlag an einem Krankenhaus im Gaza-Streifen
ist unklar, wer dafür verantwortlich ist.“ Noch heute sind die Berichte online.
Zuvor hatte der Deutsche Journalistenverband davor gewarnt, Aussagen der Terrororganisation Hamas zu übernehmen. Medien dürften „ihrer Propaganda nicht auf den Leim gehen“, sagte DJV-Chef Frank Überall. Journalisten hätten die Pflicht, „keine Kriegspropaganda zu verbreiten“. Auch in der ARD gab es Widerspruch. Reinald Becker, Ex-Chefredakteur der ARD, äußerte sich auf X: „Terroristen und Mörder sind keine Quelle.“
Ein letztes Beispiel: Am 27. April 2024 zeigt die „Tagesschau“ um 20 Uhr zwar die Vorbereitungen in Paris auf die Olympischen Spiele, den Sieg von Leipzig gegen Dortmund, die Lottozahlen und das Wetter, hat aber keine Sekunde Zeit für eine große Demonstration von radikalen Islamisten auf deutschem Boden. Auch auf „Tagesschau.de“ – kein Wort. Dabei fand das Ereignis vor der Haustür statt: 1000 Männer und einige vollverschleierte Frauen waren unter „Gott ist groß“-Rufen durch Sankt Pauli gezogen und hatten die Errichtung eines Kalifats in Deutschland gefordert sowie gegen Israel gehetzt.
Zweifel an der Rolle eines neutralen Berichterstatters
Einen Tag danach nannte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die Demo „schwer erträglich“. Zudem wurde bekannt, dass die Organisatoren vom Hamburger Verfassungsschutz als gesichert extremistisch eingestuft werden. Der Ball lag also auf dem Elfmeterpunkt für die „Tagesschau“.
Doch
Deutschlands führende Nachrichtenmarke lief gar nicht erst an: Sie
berichtet erneut nicht. Stattdessen zeigt sie um 20 Uhr Proteste gegen
den Gaza-Krieg an US-Unis, Regenfälle in Ostafrika und das 0:0 zwischen
Mönchengladbach und Union. Erst als viele andere Medien berichtet hatten
und Bundeskanzler Scholz eine klare Kante des Rechtsstaats forderte,
schafft es die Demo an Tag drei in die Hauptausgabe.
Möglicherweise denken Sie jetzt: Das seien Einzelfälle und insgesamt leistet die „Tagesschau“ eine gute Arbeit. Nur: Für mich waren es in den vergangenen Jahren ganz schön viele Einzelfälle, bei denen die „Tagesschau“ fragwürdige Entscheidungen getroffen hat. An ihrer gesetzlich festgeschrieben Rolle des neutralen Berichterstatters sind zu Recht Zweifel laut geworden.
Ich habe bis Ende 2023 als Redakteur in der Planung der „Tagesschau“ gearbeitet. Sechs Jahre lang. Ich habe miterlebt, wie teilweise Experten gecancelt, Nachrichten über islamistische Anschläge oder Verfehlungen des grünen Spitzenpersonals kleingeredet und ostdeutsche Themen systematisch ignoriert worden sind. Dies alles verträgt sich nicht mit dem Selbstbild der „Tagesschau“.
Ich war bei der Tagesschau Zeuge eines toxischen Arbeitsklimas, Realitätsferne und eines aktivistischen Journalismus mit Haltung. Ich habe Seitenwechsel aus dem Journalismus und zurück, Grabenkämpfe und undurchsichtige Strukturen beobachtet. Sicherlich: Einige der von mir beobachteten Probleme wie Boulevardisierung, Quotenfixierung und das Motto „Schnelligkeit vor Gründlichkeit“ gibt es auch in anderen Redaktionen. Doch ich sehe hier das Aushängeschild „Tagesschau“ in einer besonderen Verantwortung.
Natürlich handelt es sich um eine rein „subjektive Sicht“ wie der NDR nun in einer Stellungnahme zu meinem gerade veröffentlichten Buch schreibt. Aber ich bin der Meinung: Viele kleine Steine ergeben ein großes Mosaikbild. Bei der „Tagesschau“ gibt es einen enormen Reformbedarf. Wie in der gesamten ARD. Aber, weil gerade versucht wird, mich zu instrumentalisieren: Ich bin nicht für die Abschaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Alexander Teske ist Publizist und lebt in Hamburg. Kürzlich erschien sein Buch: „inside tagesschau: Zwischen Nachrichten und Meinungsmache“.
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