25 August 2022

Wer gewinnt den Wirtschaftskrieg – der Westen oder Russland? (NZZ)

Wer gewinnt den Wirtschaftskrieg – der Westen oder Russland? (NZZ)
Die wichtigsten Erkenntnisse aus sechs Monaten Wirtschaftskonflikt und Kriegswirtschaft aus Sicht von Russland, der Ukraine und des Westens. Eine Zwischenbilanz.
Markus Ackeret, Moskau, Daniel Imwinkelried, Wien, Lorenz Honegger 24.08.2022
Die Zerstörung ist auch im Westen schnell sichtbar, wenn russische und ukrainische Soldaten gegnerische Truppen und Infrastrukturen mit Panzern, Raketenwerfern und Artilleriegeschützen angreifen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vom 24. Februar gehen Bilder und Videoaufnahmen von zertrümmerten Städten, ausgebrannten Transportfahrzeugen und verletzten Zivilisten um die Welt.
Doch abseits der militärischen Auseinandersetzung spielt sich seit sechs Monaten auch ein wirtschaftlicher Krieg ab, dessen Folgen erst in Monaten, wenn nicht Jahren, eindeutig quantifizierbar sein werden. Als Hauptakteure stehen sich der Westen und Russland gegenüber. Statt Granaten und Marschflugkörpern kommen Handelsembargos, Sanktionen, das Einfrieren von Vermögen und Enteignungen zum Einsatz.
So hat der Westen die russischen Banken weitgehend vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen. Er hat Exportkontrollen erlassen, um russische Unternehmen vom Zugang zu westlicher Technologie abzuschneiden, und er versucht mittels Energieembargos, Russlands wichtigste Einnahmequelle zum Versiegen zu bringen. Über tausend westliche Unternehmen haben das Land verlassen oder ihre Aktivitäten vor Ort stark reduziert.
Russland auf der anderen Seite hat die Lieferung von Erdgas stark eingeschränkt, um den Westen unter Druck zu setzen. Als Resultat befinden sich die Gas- und Elektrizitätspreise und auch die Inflation in den westlichen Ländern auf rekordhohen Niveaus, was Staatschefs von Washington bis Berlin innenpolitisch unter Druck setzt.
Ist die russische Wirtschaft «gelähmt», oder steht sie besser da als erwartet?
Ein klarer Gewinner des Wirtschaftskrieges ist schwer auszumachen: Wenn es nach Forschern der amerikanischen Universität Yale geht, steuert die russische Wirtschaft auf einen Kollaps zu. Das Narrativ der angeblichen Widerstandsfähigkeit Russlands sei «schlichtweg unwahr», schreiben sie in einer Studie von Ende Juli. Der Rückzug der westlichen Unternehmen und die Sanktionen würden die russische Wirtschaft «in katastrophaler Weise lähmen». Schlagzeilen, die behaupteten, Russlands Wirtschaft habe sich erholt, entsprächen «einfach nicht den Tatsachen».

Die Gegenposition vertrat ebenfalls im Juli der Internationale Währungsfonds (IMF) in seinem Weltwirtschaftsausblick. Russlands Wirtschaft stehe vor dem Hintergrund der westlichen Sanktionen besser da als erwartet, hielt die Organisation fest. Europa hingegen bekomme den Krieg aufgrund seiner Abhängigkeit von Russland bei der Energieversorgung stärker als erwartet zu spüren – wobei ein vollständiger Gaslieferstopp besonders gravierende Konsequenzen hätte.
So umstritten die Bilanz des Wirtschaftskrieges ausfällt, so unbestritten ist, wer aus wirtschaftlicher Sicht am stärksten unter den Folgen des Krieges leidet: Die Ukraine wird dieses Jahr laut einer Schätzung der Weltbank voraussichtlich 45 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung einbüssen. Die russische Invasion habe der Wirtschaft und der Infrastruktur des Landes einen massiven Schaden zugefügt. Die Ukraine brauche «sofort massive finanzielle Unterstützung», um ihre Wirtschaft in Gang zu halten und ihre notleidenden Bürger zu versorgen.
Das ist die Bilanz von sechs Monaten Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft aus Sicht von Russland, der Ukraine und des Westens.

Die russische Sicht: Das Land hält die Illusion der Normalität aufrecht

Die staatliche russische Fluggesellschaft Rossija, eine Tochtergesellschaft von Aeroflot, serviert künftig weder Coca-Cola noch Sprite. Stattdessen bietet sie das aus Kräuterextrakten bestehende, ebenfalls dunkelbraune, kohlesäurehaltige Erfrischungsgetränk Baikal sowie das knallgrüne Estragon-Getränk Tarchun auf ihren Flügen an. Baikal war einst als sowjetisches Pendant zu Coca-Cola erfunden worden, Tarchun ist ebenfalls eine traditionelle einheimische Limonade. So schliesst sich ein Kreis. Der Coca-Cola-Konzern verlässt Russland, und es wird so getan, als erlaube das endlich Russlands eigenen Produkten, gebührend zur Geltung zu kommen.

Komplizierter ist es mit den russischen Nachfolgeversionen der amerikanischen Schnellimbiss-Kette McDonald’s und der Kaffeehäuser von Starbucks. Unter neuem, im Falle von Starbucks fast identischem Namen bemühen sie sich darum, so ähnlich wie ihre Vorgänger zu sein. Das irritiert, aber trägt zur weitverbreiteten Illusion bei, eigentlich habe sich seit dem 24. Februar gar nicht so viel geändert in Russland.

Dabei ist der Rückzug der internationalen Unternehmen und Marken weit mehr als bloss symbolisch. Er beendet drei Jahrzehnte der Kooperation, des wirtschaftlichen Austausches und der Einbindung Russlands ins globale Wirtschaftssystem.

Russlands Wirtschaftsdaten zeichnen ein positives Bild – allerdings nur auf den ersten Blick

Der «Blitzkrieg» gegen Russland sei gescheitert, konstatierte Präsident Wladimir Putin im Juni am Wirtschaftsforum in St. Petersburg zufrieden. Er suggerierte damit, dass trotz den präzedenzlosen Wirtschaftssanktionen des Westens nach Beginn der «militärischen Spezialoperation», wie Russlands Angriff auf die Ukraine offiziell genannt wird, das Land wirtschaftlich keinen wirklichen Schaden davontrage, ja sogar von der neuen Situation profitiere.

Auf den ersten Blick geben Putin die jüngsten Zahlen recht, die das Statistikamt Rosstat im August veröffentlichte. Im zweiten Quartal 2022, dem ersten vollständigen unter den neuen Gegebenheiten, verzeichnete das Bruttoinlandprodukt nur einen Rückgang von 4 Prozent. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert einen Wert von –4,2 Prozent für das ganze laufende Jahr, und auch die Einschätzung des Internationalen Währungsfonds ist optimistischer als im Frühjahr, unmittelbar nach Verhängung der umfangreichen Einschränkungen.

Nach einem drastischen Rückgang erholen sich auch die Importe allmählich, auch wenn sie das alte Niveau noch längst nicht erreicht haben. Das liegt zum Teil an der unterbrochenen Logistik, die neu organisiert werden muss, an Lösungen für den erschwerten Zahlungsverkehr infolge des Ausschlusses der wichtigsten Banken vom Zahlungssystem Swift und an neuen Lieferanten. Doch auch die Inflation hat sich stabilisiert.

Im Frühsommer meldete die Zentralbank gar zweimal Deflation, was zur Bremsung der Teuerung beitrug, aber eigentlich das Zeichen für eine ungesunde Entwicklung ist und damit auf etwas verweist, was regierungskritische Ökonomen sagen: Diese Krise ist nicht ausgestanden, nur weil die Zwischenbilanz für die russische Wirtschaft positiver ausfällt als erwartet.

Der Rubelsturz ist abgewendet – doch die Gründe dafür sind nicht nur positiv

Auf die Härte der westlichen Massnahmen war Russlands Regierung nicht vorbereitet; einerseits war das Kabinett bis unmittelbar vor Kriegsbeginn nicht in die Pläne des Kremls eingeweiht gewesen, anderseits hatte es die Entschlossenheit des Westens unterschätzt. Mit der Blockierung eines substanziellen Teils der Devisenreserven, die als Schatz für Notzeiten gepflegt worden waren, hatte niemand gerechnet. Das war der wohl härteste Schlag gegen das Finanzsystem. Die Zentralbank verlor so die Möglichkeit, flexibel auf die Geldpolitik einzuwirken und den Schock abzufedern.

Mit einer drastischen Leitzinserhöhung und schwerwiegenden Eingriffen in die Verfügbarkeit von Fremdwährungen gelang es ihr dennoch ziemlich schnell, den Rubelsturz abzuwenden. Sie opferte dafür die einst mühsam erreichte freie Konvertibilität des Rubels.

Die Börsen blieben wochenlang geschlossen oder auf Sparflamme. Bis heute können Anleger nicht frei über ihre ausländischen Wertpapiere und ihre Konten in Fremdwährungen verfügen. Das Halten von Dollars oder Euro wird mit hohen Gebühren und Strafzinsen unattraktiv gemacht.

Die unerwartete Stärke des Rubels seit dem Frühjahr ist ebenfalls kein Grund zur Freude. Erstens ist sie die Folge des Zusammenbruchs des Imports und des Marktes für Fremdwährungen. Zweitens belastet sie die ohnehin gebeutelten Exporteure zusätzlich – und spült auch dem Staat weniger Rubel aus dem nach wie vor florierenden Verkauf von fossilen Rohstoffen in die Kassen.

Viele der pessimistischen Prognosen haben sich bis jetzt nicht bewahrheitet, aber es war von Anfang an falsch, anzunehmen, der Schlag, der Russlands Wirtschaft versetzt wurde, werde sofort zum Zusammenbruch führen. Zum einen unterschätzte der Westen wohl die Zähigkeit der russischen Unternehmen und der Bevölkerung, die mit Krisen umzugehen gewohnt sind. Zudem tragen die westlichen Länder mit dem Kauf der Rohstoffe nach wie vor erheblich zur Finanzierung des russischen Haushalts bei – Russland hat letztlich selbst durch die Drosselung der Erdgasausfuhren angefangen, diesen Hebel zu drücken.

Zum andern wirken die Sanktionen, wie auch die weitaus schwächeren der früheren Jahre, wie ein Gift, das sich nur langsam im Körper ausbreitet und erst mit Verzögerung seine Verheerung entfaltet. Die seit 2014 vorangetriebene «Importsubstituierung» und «Lokalisierung» der Produktion wähnten die Regierung in falscher Sicherheit. Es stellte sich heraus, dass oft die entscheidenden Komponenten aus dem Ausland stammten. Das brachte die Automobil- und die Luftfahrtindustrie fast ganz zum Erliegen. Es führt aber auch längerfristig zu einer immer grösseren Entfernung vom hochtechnologischen Fortschritt.

Putins Günstlingswirtschaft setzt sich durch

Der regierungskritische Ökonom Wladislaw Inosemzew kam jüngst gar zum Schluss, die Sanktionen hätten dem modernen, der Welt zugewandten und vom unternehmerischen Initiativgeist am meisten geprägten Teil der Wirtschaft den härtesten Schlag versetzt und die korporatistische Günstlingswirtschaft von Putins Freunden und Getreuen konsolidiert.

Die Errungenschaften, die die westlich orientierten Reformer der neunziger Jahre durchgesetzt haben, werden immer mehr verdrängt. Überhaupt ist der Vergleich mit dem harten Einbruch in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mit dem die heutigen Nöte oft relativiert werden, wenig schlüssig. Zwar findet auch jetzt wieder ein Umbau der Wirtschaft statt, aber gleichsam im Rückwärtsgang: Die Veränderung wird von Rückzug, Einschränkung und neuer Bescheidenheit beherrscht. Vom Aufbruch von damals, der nach dem tiefen Fall viele neue Möglichkeiten bot, ist heute nichts zu spüren.

Die ukrainische Sicht: Ein Land kämpft dagegen, ein «failed state» zu werden

Der wirtschaftliche Zusammenbruch ist bis jetzt überraschenderweise ausgeblieben

Die ukrainische Wirtschaft demonstriert Kampfeswille, auch sechs Monate nach der grossangelegten russischen Invasion. «Wir sind bereit, diesen Krieg zu gewinnen», sagt Pawlo Moros, der beim Agrarkonzern MHP für die Beziehungen zur Regierung zuständig ist. Man werde die besetzten Landesteile der russischen Armee wieder entreissen – zwar nicht in den kommenden Wochen, aber auf mittlere Frist, sagt er überzeugt.

Die an der Londoner Börse kotierte Firma unterstützt wie andere Unternehmen und Privatpersonen die Armee finanziell. Rund 19 Milliarden Hrywna (500 Millionen Franken) sind auf diese Weise seit Februar auf einem Spezialkonto der ukrainischen Notenbank (NBU) zusammengekommen.

Den Durchhaltewillen von Moros beflügelt hat der Umstand, dass die eigentlich eher als schwacher Staat wahrgenommene Ukraine nicht zusammengebrochen ist – weder militärisch noch wirtschaftlich.

«Es gibt gewisse Anzeichen einer ökonomischen Stabilisierung», sagt Olexander Petscherizin, der Research-Chef von Raiffeisen Ukraine in Kiew. Der Ökonom macht das etwa am Umstand fest, dass es dem Staat gelinge, sein Budget wieder in einem höheren Ausmass als im Frühling mit Steuereinnahmen zu decken.

In der Ukraine schrumpfen Löhne, Firmenumsätze und Staatseinnahmen

Aber obwohl sich die Lage im Vergleich mit den düsteren Winter- und Frühlingsmonaten etwas verbessert hat, sind die wirtschaftlichen Perspektiven schlecht. Die Ukraine befindet sich in einer Kriegswirtschaft, so wie alle Staaten in der Geschichte, auf deren Territorium ein Konflikt ausgetragen wurde: Weil die wirtschaftlichen Aktivitäten wegen der Kämpfe teilweise zum Erliegen gekommen sind, schrumpfen einerseits die Löhne, die Firmenumsätze und die Staatseinnahmen.

Andererseits sind die Staatsausgaben in die Höhe geschnellt. Eine besonders grosse Belastung stellen die Aufwendungen für das Militär dar. In den ersten sechs Monaten des Jahres haben sich die Militärausgaben im Vergleich mit 2021 versechsfacht, auf rund 334 Milliarden Hrywna (8,8 Milliarden Franken) .
Das Budgetdefizit der Ukraine dürfte Ende Jahr 25 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) betragen, schätzt Kirilo Schewtschenko, der Chef der NBU. «In den vergangenen zwanzig Jahren haben nur eine Handvoll Staaten ein noch grösseres Minus bei den öffentlichen Finanzen aufgewiesen», schrieb er Mitte August in einem Blog.

Der Notenbanker nennt den Irak im Jahr 2004, Eritrea, Irland nach der Finanzkrise, Libyen 2014 bis 2016 und Venezuela 2018. Für die Ukraine sind das unheilkündende Vergleiche: Schliesslich handelt es sich bei diesen Ländern mit Ausnahme Irlands um sogenannte «failed states».

Die Notenbank hat den «Ventilator» angeworfen

Wer deckt das Budgetdefizit, damit die Ukraine nicht das gleiche Schicksal ereilt? Diese Frage ist für die wirtschaftliche Zukunft des Landes zentral. Wenn das Finanzministerium und die NBU falsche Massnahmen ergreifen, wird dies das Land ökonomisch zerrütten.

Laut einer Zusammenstellung des Finanzministeriums von Mitte August hat sich der ausserordentliche Finanzbedarf der Ukraine seit dem 24. Februar auf 27,2 Milliarden Dollar belaufen. Grösster ausländischer Geldgeber waren die USA mit rund 4 Milliarden Dollar und die EU mit 2,4 Milliarden Dollar. Die wichtigste Stütze des Staates war allerdings die Notenbank mit einem Anteil von 8,5 Milliarden Dollar. Seit Kriegsausbruch hat sie wiederholt neue Anleihen des Staates erworben und so geholfen, das Defizit zu decken.

Aber dies ist ein gefährliches Unterfangen, weshalb die Notenbank diese Aufgabe auch nur widerwillig übernahm. Seine Institution habe den «Ventilator angeworfen» und betreibe monetäre Staatsfinanzierung, schreibt der NBU-Chef Schewtschenko. Diese Finanzierung des Staates durch die Zentralbank birgt hohe Risiken. Infolge der Geldmengenausweitung drohen Inflation und der Kurszerfall der Hrywna.

Kriege haben Länder schon oft wirtschaftlich zerrüttet, zum Beispiel am Ende des Ersten Weltkrieges. Damals brach die Währungsordnung in Europa komplett zusammen. Noch ist die Ukraine zwar weit von den damaligen Zuständen entfernt, aber die NBU macht sich wegen der finanziellen Verfassung der Ukraine offensichtlich Sorgen. Laut dem NBU-Chef befindet sich die Notenbank infolge des kostspieligen Krieges in einer Art «Geiselhaft»: Sie muss den Staat mitfinanzieren, obwohl sie das für gefährlich hält.

Ökonomisch befindet sich die Ukraine in einem Dilemma

Einfache Lösungen, wie die Ukraine dem wirtschaftlichen Zerfall entgehen kann, gibt es nicht. Ökonomisch steckt das Land in einem Dilemma, das haben jüngst auch Ökonomen des Netzwerks Centre for Economic Policy Research betont. Die NBU könne nicht gleichzeitig Geld drucken, den Wert der Währung verteidigen und die makroökonomische Stabilität aufrechterhalten.

Denn um die Importe bezahlen zu können, sollte das Land den Wert der Hrywna stabil halten. Weil die Geldpolitik die Währung aber unterminiert, hat die NBU den Leitzins auf 25 Prozent erhöht. Das soll die Ukrainer dazu bewegen, Geld in heimische Staatsanleihen zu investieren, und Kapitalabflüsse ins Ausland verhindern. Gleichzeitig sind derart hohe Zinsen für den Staat und die Firmen eine Belastung. Die Ukraine befindet sich also in einer verzwickten Lage.

Offenbar ist das auch ausländischen Obligationären bewusst. Vor zwei Wochen haben sie der Ukraine deshalb ein Zugeständnis gemacht. Die Regierung muss bis 2024 die ausstehenden Anleihen nicht bedienen. Es geht um Obligationen im Wert von 19,6 Milliarden Dollar.

Derweil ruft Schewtschenko die Regierung dazu auf, Wege zu finden, um das Budgetdefizit zu reduzieren und neue Finanzquellen zu erschliessen. Die ultimative Lösung des Problems scheint aber auch er nicht zu kennen. Sein wichtigster Vorschlag besteht darin, dass sich der Staat verstärkt Geld von den Bürgern borgen solle. Das müsse geschehen, so der Notenbanker. Denn nur so trage die Ukraine an der Finanzfront den Sieg davon.

Die westliche Sicht: Alles dreht sich um die Energiepreise und den kommenden Winter

Der Westen ist mit den hohen Energiepreisen beschäftigt, was Putin in die Hände spielt – allerdings nur kurzfristig

In Europa hat die Diskussion um Inflation, hohe Energiepreise, Sparpläne und potenzielle Strom-Blackouts die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine in den Hintergrund gedrängt. Die Gefahr eines russischen Gaslieferstopps im kommenden Winter dominiert die politische Debatte. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit spielt also kurzfristig Putin in die Hände. Vereinzelt fordern Politiker ein Ende der Sanktionen.

Doch gerade in Deutschland, das stark von der Energiekrise betroffen ist, kann man davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung die Politik der Regierung weiterhin stützt. Es gibt Unmut, aber dieser ist derzeit immer noch gering. Für die meisten westlichen Länder wäre es aussenpolitisch mit einem grossen Reputationsverlust verbunden, unilateral die Sanktionen aufzuheben oder einen solchen Schritt zu fordern. Deshalb ist nicht damit zu rechnen, dass Russland den Westen bald zu einem Umdenken bewegen kann.

Letztlich dürfte auch die Annahme falsch sein, dass Russland ein Ende der Wirtschaftssanktionen mit einer vollständigen Wiederaufnahme der Gaslieferungen belohnen würde. Russland zielt mit der Verknappung auf die gesamte westliche Unterstützung der Ukraine ab – dazu gehört vor allem auch die Lieferung moderner Waffen.

Der eigentliche Fehler in der westlichen Russland-Politik geschah 2014

Aus westlicher Sicht ist die Bilanz der Sanktionen bis jetzt ernüchternd: Die russische Armee setzt ihren Angriff in der Ukraine unvermindert fort, und auch in Russland selbst hat es keine Protestwellen gegeben, die das Putin-Regime kurzfristig ernsthaft gefährden könnten.

Es ist laut Experten nicht damit zu rechnen, dass der wirtschaftliche Druck in der kurzen Frist aufseiten Russlands viel ändern wird. Die Sanktionen brauchen Zeit, bis sie wirken. Es hätte auch wenig gebracht, wenn der Westen bereits im Januar, als sich die Invasion abzeichnete, zu härteren Massnahmen gegriffen hätte.

Der eigentliche Fehler im Umgang mit Russland geschah 2014, als Russland die russische Halbinsel Krim annektierte. Auch damals gab es Sanktionen vonseiten des Westens, doch die Regierungen bemühten sich schnell wieder um eine Normalisierung der Beziehungen. Putin, der in seinen zwei Jahrzehnten im Amt etliche Kriege geführt hat, musste wohl folgern, er könne eine weitere Eskalationsstufe riskieren.

Auch wenn die Sanktionen nicht schnell wirken, haben sie abschreckende Wirkung auf andere potenzielle Aggressoren

Der Krieg in der Ukraine hat dem Westen ein aus wirtschaftlicher Sicht noch viel gefährlicheres Szenario vor Augen geführt: Sollte China seine Drohungen wahr machen und dereinst in Taiwan einmarschieren, würde der darauffolgende Wirtschaftskonflikt global einen noch viel grösseren Schaden anrichten. Dazu kommt, dass China mit Sanktionen zu belegen im Vergleich mit Russland deutlich einschneidendere Folgen hätte, weil das Reich der Mitte in der Aussenwirtschaft der westlichen Staaten eine viel grössere Rolle spielt.

Es besteht aber Grund zur Hoffnung, dass die chinesische Führung die geschlossene Reaktion des Westens auf die Invasion der Ukraine als Warnsignal versteht. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union haben gezeigt, dass sie bereit sind, auch langfristig hohe Kosten zu tragen, um potenzielle Aggressoren nach dem Vorbild Russlands abzuschrecken.

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