29 August 2022

Systemversagen bei der ARD - Nach Gutsherrenart (Cicero+)

Systemversagen bei der ARD
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Nach Gutsherrenart (Cicero+)
Der Skandal um das Gebaren von RBB-Chefin Patricia Schlesinger hat eine Lawine losgetreten. Der Skandal offenbart ein systemisches Problem der ARD. Die Rundfunk- und Fernsehräte verstehen sich regelmäßig nicht als Kontrolleure, sondern als Vertreter der Chefetage.
VON JENS PETER PAUL am 29. August 2022
Es ist wirklich schwierig. Einerseits müssen die verbliebenen Intendanten der ARD so tun, als drehten sie jetzt, geschockt und zornig angesichts der Meldungen aus Berlin, ebenfalls jeden Stein in ihren Häusern um, um der kleinsten bisher unentdeckten Verfehlung auf die Spur zu kommen. Andererseits halten sie die Luft an und hoffen inniglich, nicht ausgerechnet ihre Anstalt werde diejenige sein, die aus dem regionalen Ereignis des Senders an der Masurenallee jetzt vollends ein systemisches Problem von ARD und ZDF macht

Dass diese vom WDR vorgegebene Strategie funktionieren wird, ist aber schon insofern unwahrscheinlich, als alle Rundfunk- und Fernsehräte so arbeiten wie der des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB). Die Räte verstehen sich regelmäßig als Vertreter ihres Senders und dessen Chefetage, nicht als Vertreter der Allgemeinheit, also als distanzierte Aufpasser, wie es vom Erfinder des öffentlich-­rechtlichen Systems einst gedacht war. Wagenburg statt Kontrollinstanz, denn es gibt ja immer mehr Kräfte, die den Anstalten den Garaus machen wollen – das ist der gemeinsame Nenner in den Gremien über alle sonstigen Grenzen hinweg. 
Abweichler und Nachfrager stehen dort genauso unter Druck wie in vielen anderen Kontrollinstanzen auch. Unausgesprochen verlangt und auf subtile Weise belohnt werden Gruppendenken, Konformität und Loyalität, mit Isolierung und Nestbeschmutzer-Status bestraft werden Unabhängigkeit und Hartnäckigkeit. Selten wird man erleben, dass ein Mitglied so lange fragt, bis es einen Sachverhalt, ein Problem, eine Vorlage tatsächlich vor einer Entscheidung komplett durchdrungen hat. 

Eine klandestine Veranstaltung

Da geht es den Rundfunk- und Verwaltungsräten wie vielen Abgeordneten der Landtage und des Bundestags: Die komplexe Realität wird in Unterprobleme atomisiert, und Expertise wird delegiert; man verlässt sich auf den Berichterstatter, wie man bei seinem eigenen Thema erwartet, dass die Kollegen sich auf den eigenen Sachverstand stützen. 

Jedes Mal, wenn es – nur ein Beispiel – im Bundestag um das Thema „Euro“ und später um die diversen „Rettungspakete“ für alle möglichen Krisenländer der Währungsunion ging, hieß es im Plenum hinter vorgehaltener Hand, gerade einmal eine Handvoll Parlamentarier kenne sich tatsächlich aus. Alle übrigen verließen sich auf die (gerne drohenden) Empfehlungen ihrer Fraktionsführung. Den Rest besorgte die Fraktionsdisziplin. Entsprechend ahnungslos bis blamabel die Antworten, wenn Abgeordnete vor laufender Kamera erklären sollen, worüber sie da eigentlich gerade abstimmen – und das bei Fragen mit finanziellen Konsequenzen für Deutschland auf viele Jahre und in elf- und zwölfstelliger Höhe. 

Gerät ein Gremium wie der RBB-Verwaltungsrat dann auch noch an eine Figur wie Wolf-Dieter Wolf, Immobilienunternehmer mit dem Spezialwissen, wie man Menschen wahlweise um den Finger wickelt oder kaltstellt, potenziert sich das systemische Problem noch, bis es – wie nun geschehen – ein existenzielles Ausmaß erreicht. Ehemalige und aktuelle Mitglieder des Verwaltungsrats berichten übereinstimmend, wie sie vom Vorsitzenden vom ersten Tag an weder ernst genommen noch angemessen unterrichtet worden seien. Mit Beginn der eigentlichen Sitzungen seien die wichtigen Entscheidungen in klandestinen Vorbesprechungen, in kleiner Runde – gerne im Intendantenzimmer oder sogar außerhalb des Senders – bereits gefallen. „Wenn die dann zusammen in den Sitzungssaal einlaufen mit triumphierendem Gesichtsausdruck, dann verlässt so manchen bereits der Mut, der sich einige Fragen zurechtgelegt hatte“, berichtet eine, die oft dabei war.

„Ein sehr autoritärer Führungsstil. Gutsherrenart.“ 

RBB-Intendantin Dagmar Reim habe solche Arbeitsweisen während ihrer drei Amtszeiten von 2003 bis 2016 eingeführt und Patricia Schlesinger dieses für sie angenehm konfliktarme Verfahren bruchlos übernommen. Ergebnisoffene Debatten waren an der Masurenallee etwas für Anfänger. „Da kommst du dir vor wie ein verlorenes Huhn, wenn du immer dagegenstimmst“, sagt einer, der es wenigstens gelegentlich mit kritischen Nachfragen versuchte, etwa zum Wirtschaftsplan. Aber begriffen, wofür die zuletzt 493 Millionen Euro dann Jahr für Jahr tatsächlich ausgegeben werden, wohin die ganze Gebührenknete floss, habe er selbst ebenfalls nur in seltenen Fällen – trotz Fortbildungen und Nachhilfeunterricht auf eigene Kosten. 

Im Programm landete der Löwenanteil des Geldes jedenfalls nicht. Und wenn doch einmal jemand Beratungs- und Klärungsbedarf anmeldete und Vertagung der Beschlussfassung beantragte, kam Wolf mit der Vertraulichkeitskeule: Alle Vorgänge im Verwaltungsrat seien geheim; wer sich mit Vorlagen und Fragen an Dritte wende, dem werde das schlecht bekommen. Außerhalb des Sitzungszimmers gebe es nichts zu besprechen. Fazit eines Betroffenen: „Ein sehr autoritärer Führungsstil. Gutsherrenart.“ 

Hier liegt aber die Gegenfrage auf der Hand, wer diesen Mann denn immer wieder zum Vorsitzenden gewählt hat? Das waren acht Mitglieder. Selbst zum Chef ernannt hat er sich nicht. 

Eine Schar von Ja-Sagern

Ein Grundproblem besteht darin, dass der Verwaltungsrat mangels eines eigenen Apparats immer auf die Zu- und Vorarbeit des Hauses, speziell also der Intendantin, des Verwaltungsdirektors, der Justiziarin angewiesen ist. Dass von dort nichts kommt, was den eigenen Interessen schaden könnte, versteht sich von selbst. Die ganze Kontrollidee basiert auf unzutreffenden Annahmen. Funktionieren kann sie nur mit einem Minimum an mitgebrachter Integrität der maßgeblichen Akteure. Sobald dieses Minimum fehlt, das ganze Führungstableau zur unkritischen Masse wird, leidet der Sender, leidet das Programm, leiden die Frauen und Männer im Maschinenraum und am Ende die Gebührenzahler, leidet die Idee eines Rundfunks als Sache der Allgemeinheit. 

Dagmar Reim habe wenigstens einmal auf eine Tariferhöhung verzichtet, als es dem Sender gerade wieder einmal besonders schlecht ging, berichtet ein anderer. Alle Direktoren hätten die für die gewöhnlichen Angestellten gedachte Gehaltserhöhung aber wie selbstverständlich auf ihre ohnehin sechsstelligen Bezüge draufgepackt. Und während man Frau Reim wenigstens anfangs noch Fusionsschmerzen habe zugutehalten können, seien dann, so andere Insider, mit dem Einzug von Patricia Schlesinger in die Chefetage alle Dämme gebrochen, denn sie habe eine ganze Reihe weiterer NDR- und WDR-Leute in Schlüssel- und Vertrauenspositionen gebracht. 

Nicht so Susann Lange, denn die ist ein Hausgewächs. 2017 machte Schlesinger sie erst zur Justiziarin und 2020 sogar zur Juristischen Direktorin, eine eigens für sie geschaffene Stelle in der Geschäftsleitung, was – wiederum auf Kosten des Programms – eine weitere namhafte Gehaltserhöhung zur Folge hatte. Der Belegschaft blieb die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers. 

Vetternwirtschaft beim RBB

Patricia Schlesinger wusste sich offenbar auch bei Wolf-Dieter Wolf zu revanchieren für ihren Anstellungsvertrag, der nun dem Rundfunkrat so große Probleme macht beim Versuch, ihn ohne weiteren Schaden für den Sender vorzeitig zu beenden. Tatsache ist, dass die Gremien jetzt auf externen und entsprechend teuren Sachverstand zurückgreifen müssen bei ihren Versuchen, Schlesinger ohne Abfindung loszuwerden, denn der Juristischen Direktorin können sie nicht mehr trauen. Es ist aber derselbe Rundfunkrat, der vor nicht einmal zwei Jahren die Schaffung des neuen Direktorenpostens in voller Kenntnis des alljährlichen Millionendefizits abgenickt hat. Warum hat er das getan? Achselzucken. „Wir machen das halt alle ehrenamtlich.“

Direktorin Lange ist übrigens zugleich nebenamtliche Geschäftsführerin der RBB Media. Spricht man Mitarbeiter heute auf die GmbH an, ändern sich die Gesichtszüge in Richtung tiefe Besorgnis, denn diese RBB-Tochter ist in den Augen der Belegschaft ein ganz heikles Thema für sich. Reporter fragen, warum ihr Sender eigentlich ein eigenes Hotel „Am Studio“ besitzen müsse, räumen zugleich aber ein, nichts Genaues zu wissen und endlich selbst recherchieren zu müssen. 

Auch der Umstand, dass Susann Lange mit Personalchefin Sylvie Deléglise liiert war und die beiden zwei gemeinsame Kinder haben, eventuell noch – wie es an der Masurenallee heißt – gemeinsam ein teures Stadthaus in Mitte bewohnen, ist nach allen geltenden Compliance-Regeln problematisch. Erst recht gilt dies seit Deléglises Beförderung zur kommissarischen Verwaltungsdirektorin, so geschehen am 10. August, nachdem Hagen Brandstäter neuerdings Patricia Schlesinger ersetzen muss. 

Der Mann der Bürgermeisterin

In Kontroll- und Rechtsbereichen sind Liebesbeziehungen am Arbeitsplatz in größeren Unternehmen ein Tabu und aus nachvollziehbaren Gründen Ex-Liebesbeziehungen erst recht. Ob das von Deléglise erarbeitete Unternehmensleitbild dazu etwas aussagt, ist öffentlich nicht bekannt. In ihrem Entwurf hieß es aber bereits liebevoll: „Entscheidungen werden nachvollziehbar vermittelt“ und: „Wir vertrauen und respektieren einander.“

Ein Paar oder Ex-Paar gemeinsam in der Direktion einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt – das ist nicht einmal mehr mit Berliner Besonderheiten zu rechtfertigen und kann nicht als haltbare Konstellation durchgehen. Dafür werden – so viel Zutrauen gibt es immerhin noch – spätestens die anderen Anstalten sorgen, will der RBB nicht seinen Status als Empfängeranstalt im ARD-Finanzausgleich aufs Spiel setzen. Der Entzug des Vorsitzes noch vor dem Rücktritt als Intendantin war nur ein erster Warnschuss. 

Vielleicht kommt bei Gelegenheit einer Compliance-Untersuchung auch noch einmal die Personalie Oliver Jarasch auf den Tisch, Ehemann der grünen Bürgermeisterin und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch und langjähriger Abteilungsleiter „Aktuelle Magazine“, wichtigster Mann im operativen Geschäft des Senders, wenn es um die tagesaktuelle Darstellung der Berliner Politik und ihrer Akteure ging. 

Im Oktober 2020, als klar wurde, dass seine Frau in den Senat strebt, gab man ihm den Posten eines Chefplaners für das neue Crossmediale Newscenter im vorhandenen Fernsehzentrum. Das ist Ende Juni in Betrieb gegangen, benötigt aber noch sehr viel Feinjustierung. Demnächst könnte sich Jarasch verdient machen um jene teuren Mietverträge, etwa für Objekte wie das am Saatwinkler Damm, die nach Schilderungen aus den Redaktionen abgeschlossen wurden im Vorgriff auf den jetzt panisch wegen Kostenverdreifachung gestoppten Neubau des Digitalen Medienhauses. Werkstätten und Abteilungen sollten für das Projekt ausgelagert werden; möglicherweise ist das zum Teil bereits geschehen – mit entsprechenden Kosten und Folgen für die Betriebsabläufe.

Häuptlinge aus dem Westen

Ein langjähriger Redakteur sagt zusammenfassend: „Ich wundere mich über nichts. Diese ganzen neuen NDR- und WDR-Leute haben die Berlin-Brandenburger Welt nie begriffen. Inhaltlich nicht, programmlich nicht, finanziell nicht. Das war denen alles zu mickrig. Die haben ihren von zu Hause gewohnten Protz eins zu eins in Berlin fortgesetzt und staunen jetzt, dass das schiefgegangen ist. Dabei brauchen wir Indianer diese ganzen Häuptlinge gar nicht. Dieser ganze Überbau ist nur teuer und hinderlich. Wir brauchen auch kein sauteures neues Digitales Medienhaus. Wir haben ja eins. Aber nein – dieses Millionengrab sollte die Krönung von Schlesingers Amtszeit werden.“ 

Während also diese Geschäftsleitung ebenfalls nicht lange so bleiben wird, wenn der kommissarische Intendant Brandstäter „jetzt dasteht wie Hans Modrow 1989 als letzter Vorsitzender des DDR-Ministerrats“ (Funkhaus-Spott) und retten soll vom Führungs- und Gehaltsanspruch der restlichen Nomenklatura, was zu retten ist; und während Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus live in der „Abendschau“ zugeben muss, einen fünfstelligen Zusatzbonus für den jetzt schon komplett gescheiterten Umbau des Vorabendprogramms samt damit einhergehendem Personalabbau erhalten zu haben, was ihn den letzten Rest an Vertrauen kostete – groovt sich eine Ebene tiefer Chefredakteur David Biesinger auf seine neue Rolle als Oberaufklärer und Spitze der Bewegung ein. 

Vorbildliche Aufklärung beim RBB?

Mit jeder unbequemen Frage seiner Moderatorinnen an neulich noch sehr selbstbewusste Hierarchen sieht er seine Chance wachsen, am Ende zu den Gewinnern der bevorstehenden Veränderungen zu gehören, erkennt doch selbst ARD-Chef Tom Buhrow hier einen Lichtblick, wenn er auf Anfrage von Cicero schreibt: „In den verschiedenen Sendungsformaten wurde sehr klar, kritisch und unabhängig über die Vorwürfe in mehreren Sondersendungen berichtet.“ 

Natürlich, so Buhrow weiter, sei es „immer falsch, mögliche Verfehlungen Einzelner auf ein ganzes System zu übertragen“. Der WDR-Intendant ist sogar ein wenig stolz auf den RBB, „der seine Zuschauer:innen und Hörer:innen in mehreren TV- und Rundfunksendungen über die aktuellen Geschehnisse im eigenen Haus umfassend informiert“ (Interpunktion wie im Original). Außerdem habe der Sender ein Investigativteam eingesetzt, „das das Thema journalistisch recherchiert und dokumentiert“. Was Biesinger als Lob von höchster ARD-Stelle an seine Adresse interpretiert.

Warum allerdings erst ein Online­portal aus dem Axel-Springer-Verlag kommen musste, um Missstände aufzudecken, die sich jahrelang vor den Augen eben dieser Journalisten abgespielt haben – dazu fällt auch dem ARD-Vorsitzenden nichts ein.

Programm für die Gebührenzahler

Und es hilft auch im größeren Rahmen nichts: Die Berliner Politik und ihre Ergebnisse sind auch deshalb so miserabel, weil die Berliner Medien und hier ganz vorneweg der Rundfunk Berlin-Brandenburg es zugelassen, ja sogar gefördert haben. Der RBB ist seiner Kontroll- und Korrekturfunktion nicht gerecht geworden, weil er den rot-grün-roten Kurs der Landesregierungen seit Jahr und Tag ziemlich gut findet. Das mag zu einem Teil an der Chefetage und ihren Vorgaben liegen, ihren harmonischen Abendrunden mit den Chefs staatlicher Institutionen, von Patricia Schlesinger gerechtfertigt als notwendiges Lobbying zugunsten ihres Hauses. Aber immer gehört dazu auch jemand, der – in den Aufsichtsgremien – brav die Hand hebt, der – in den Redaktionen – brav der eigenen Eingebung folgt, das, was da in Berlin stattfindet, habe eigentlich schon seine Richtigkeit und da wolle man nicht als Spielverderber abseitsstehen. 

Die im Kontrast zum Brandenburger Landtag maximale Zurückhaltung des Berliner Abgeordnetenhauses und des Senats in der RBB-Affäre hat somit einen zentralen Grund: Der links-grüne Mainstream der Hauptstadt fürchtet, im RBB könnte wieder kritisch-distanzierter Journalismus zur Grundlage des Programms werden. Keine harmlosen Wohlfühlauftritte mehr in der „Abendschau“, die nur zu oft den Eindruck vermitteln, Fragesteller und Studiogast seien im Prinzip einer Meinung, sondern Konfrontation und Nachhaken bei Ausweichversuchen.

Die oben erwähnte Pleite des Programmdirektors live on air hat ihre Wirkung auf die politische Klasse Berlins nicht verfehlt. Diesen Umgang war man bisher nicht gewohnt. Programm nicht für die Privilegierten, sondern für die Gebührenzahler, die gerade in Berlin und auch in weiten Teilen Brandenburgs mit jedem Cent rechnen müssen, denen 18,36 Euro monatlich sehr wohl wehtun, das ist aber, will der RBB seine Krise überleben, vielleicht sogar gestärkt aus ihr hervorgehen, seine einzige Chance.

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