25 August 2022

«Aktivisten der Cancel Culture operieren oft mit einem totalen Vernichtungswillen» (NZZ)

«Aktivisten der Cancel Culture operieren oft mit einem totalen Vernichtungswillen» (NZZ)

Ralf Höcker gilt als gefürchtetster Medienanwalt Deutschlands. Er vertritt Professoren und Politiker, die «gecancelt» werden sollen. Beim Konzertabbruch der Berner Rasta-Band hätten die Veranstalter alles falsch gemacht, was man falsch machen kann, sagt er im Gespräch.
Birgit Schmid 16.08.2022
Man darf auf keinen Fall in Panik geraten, sondern soll sitzen bleiben, die Angriffe aushalten und so lange warten, bis dem Gegner nichts Neues mehr einfällt. Irgendwann ist jede Geschichte zu Ende erzählt, wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Das Dümmste sind Schnellschüsse, wie sie die Veranstalter bei Ihnen in der Schweiz gemacht haben, die ein Konzert abgebrochen haben, bloss weil sich ein paar Leute an den Rastafrisuren der Bandmitglieder gestört haben.

Was haben die Konzertveranstalter falsch gemacht?

Sie hätten für die Band einstehen müssen, deren Gastgeber sie waren. Man kann mit drei, vier vernünftigen Erläuterungen in einer Pressemitteilung klarmachen, warum es aus eigener Sicht okay ist, ein solches Konzert auszutragen. Man könnte erklären, warum das kein Rassismus ist, warum man kulturelle Aneignung für diskutabel hält, aber die Gegenposition ebenso. Man kann gut auf Sachebene diskutieren und muss nicht diese ängstliche Cancelei betreiben.

Solche Vorfälle wie der Konzertabbruch erregen jeweils grosses mediales Aufsehen. Sogar Linke reagierten fassungslos. Die Band Lauwarm ist heute weltberühmt. Werden solche Fälle nicht durch die öffentliche Dynamik und Kritik wie von allein zurechtgerückt?

Nein. Die Band wurde gecancelt, und es hätte auch sein können, dass sie sich nach den Vorwürfen der kulturellen Aneignung zurückgezogen und niemand davon erfahren hätte. Dafür gibt es genügend Beispiele. Im Berner Fall ist der Schuss tatsächlich nach hinten losgegangen. Viele Leute erkennen mittlerweile, dass solche Cancel-Forderungen komplett überzogen sind.

Wird das Phänomen nicht aufgebauscht? Wie häufig hat Ihre Kanzlei mit Fällen von Cancel-Culture zu tun?

Ich habe viele Mandanten – Politiker, Professoren, Unternehmer –, deren Meinung irgendjemandem nicht gefällt und die man deswegen vernichten will.

Passiert es nicht vor allem in den USA, dass Uni-Professoren wegen einer unliebsamen Meinung ihren Job verlieren?

Überhaupt nicht. Zum Beispiel vertritt meine Kanzlei den Fall Paul Cullen, der als ausserordentlicher Professor an der Universität Münster lehrt. Cullen ist ein irischer katholischer Arzt, der zu Diabetes und Blutfetten lehrt. Er ist auch Vorsitzender der «Ärzte für das Leben» und spricht sich also gegen Abtreibungen aus. Deshalb wollten ihn der Allgemeine Studenten-Ausschuss (Asta) und kritische Medizinstudenten aus dem Amt drängen.

Was sind das für Leute?

Ich brauche gern die Metapher mit dem Scheinriesen aus der Augsburger Puppenkiste: Je näher man kommt, desto kleiner wird der Riese. Und so ist es auch mit den Aktivisten. Aus ihnen kann man argumentativ schnell Zwerge machen. Sie machen einen Riesenlärm und bekleben Leute mit Etiketten, die auf -ismus enden. Sachargumente haben sie fast nie. Man muss Paul Cullens Meinung nicht teilen. Persönlich stehe auch ich inhaltlich näher bei seinen Gegnern. Aber das heißt nicht, dass der Mann nicht mehr Vorlesungen über Diabetes halten darf.

Wie sind Sie als Cullens Anwalt vorgegangen?

Die Cancelei setzt immer beim Umfeld des Opfers an. Arbeitgeber, Kooperationspartner, Kunden werden unter Druck gesetzt, sich zu distanzieren. In einer Kettenreaktion soll einer nach dem anderen kippen. Das ist immer die Absicht der Aktivisten. Wir suchen daher zuerst den Schulterschluss im Umfeld – in diesem Fall mit der Uni und den Studenten. Es hat sich eine studentische Gegenbewegung gebildet, die sich für Paul Cullen einsetzte. Die Studenten haben Unterschriften gesammelt, und unsere Kanzlei hat das Projekt unterstützt. Auch die Lokalpresse haben wir informiert.

Sie versuchen eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen?

Genau. Als Anwalt rede ich mit Leuten, die zum Thema etwas zu sagen haben und sich öffentlich zum Fall äussern. So ermutigt man das Umfeld, damit dieses sich nicht von der angegriffenen Person abwendet. Wir schlugen also in einem offenen Brief an die Studenten vor, an der medizinischen Fakultät darüber abzustimmen, ob Cullen weiter lehren darf. Doch der Asta hatte wie erwartet keine Lust auf eine solche Abstimmung. Diese Leute wissen, dass die meisten nicht so irre sind wie sie.

Doziert Paul Cullen weiter in Münster?

Ja. Und er wird da auch Professor bleiben.

Sie vertreten auch Marie-Luise Vollbrecht, die Doktorandin, die an der Humboldt-Universität in Berlin darlegen wollte, warum es nur zwei biologische Geschlechter gibt. Aktivisten protestierten, der Vortrag wurde abgesagt. Was raten Sie Ihrer Mandantin?

Frau Vollbrecht hat bereits vieles richtig gemacht. Sie hat erkannt, dass Aktivisten sie aus dem öffentlichen Diskurs hinausdrängen wollen. Ich habe immer wieder erlebt, dass diese Leute mit einem totalen Vernichtungswillen operieren. Frau Vollbrecht hat verstanden, dass es um ihren Ruf, ihre berufliche Existenz und ihre Stellung in der Gesellschaft geht und keineswegs nur darum, ob sie diesen Vortrag halten darf.

Nun hat Frau Vollbrecht ein Crowdfunding gemacht, um Ihre Rechtshilfe in Anspruch zu nehmen. Was haben Sie beide vor?

Frau Vollbrecht ist eine kleine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie promoviert an der grössten Uni Berlins, die nach Wilhelm und Alexander von Humboldt benannt ist. Diese Universität hat eine Pressemitteilung herausgegeben, in der sie sich von bestimmten Äusserungen von Frau Vollbrecht distanziert, weil diese angeblich gegen das Leitbild und die Werte der Uni verstossen. So reagiert nur ein ängstlicher Gegner. Wir müssen nun analysieren, wie es so weit kommen konnte.

Ihre Antwort?

Ganz einfach: aus Feigheit. Die Uni-Leitung hat Angst vor einer Handvoll kreischender Aktivisten, die auch ihr Transphobie vorwerfen könnten. Dabei können einem solche Vorwürfe nichts anhaben. An Universitäten und in Verbänden regiert jedoch die nackte Angst vor den Aktivisten. Man glaubt: Wenn wir uns nicht distanzieren von dieser Person, dann sind wir als Nächste dran.

Was beanstanden Sie konkret?

Wir halten die Äusserungen der Humboldt-Universität für rechtswidrig und wehren uns gerichtlich dagegen. Es steht einer vermeintlichen Exzellenzuniversität, die mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, nicht gut an, eine junge Wissenschafterin, die eine mehr als vertretbare Meinung kundgetan hat, öffentlich zu demontieren. Die Humboldt-Universität verletzt damit auch die Wissenschaftsfreiheit.

Was ist jetzt Ihr Ziel?

Wir gehen gegen die übelsten Verleumdungen vor und gegen jeden, der etwas Falsches oder Beleidigendes über Marie-Luise Vollbrecht verbreitet. Wir gehen gegen die Humboldt-Universität selbst vor, die behauptet hat, Vollbrecht verstosse gegen die Werte der Uni. Dieses Zitat wollen wir aus der Welt haben, damit es der Mandantin nicht ein Leben lang anhängt. Ein Arbeitgeber hat eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Arbeitnehmern. Die Universität hat diese verletzt und soll ihrer Fürsorgepflicht wieder nachkommen.

Sie sind bekannt dafür, Drohungen auszusprechen und den Gegner einzuschüchtern, noch bevor Sie Rechtsmittel einsetzen. Auch in diesem Fall?

Selbstverständlich drohe ich. Man muss mit negativen Konsequenzen drohen, damit rechtswidrige Angriffe auf einen Mandanten aufhören.

Ist das nicht auch eine Form von Cancelei?

Ja. Aber es ist das Canceln von rechtswidrigen Äusserungen und nicht von Personen. Manche Äusserungen sind im öffentlichen Diskurs zulässig und nützen diesem, andere nicht. Falschbehauptungen fallen nicht unter die Meinungsfreiheit. Da ist die Rechtsprechung sehr klar. Wenn ich von Ihnen behaupte, dass Sie ständig im Supermarkt klauen, wovon ich nicht ausgehe, und das auf meiner Facebook-Seite schreibe, dann trage ich damit nichts zu einem öffentlichen Diskurs bei.

Sie plädieren andererseits dafür, dass man Dinge sagen darf, die viele für grenzwertig und sogar für unsagbar halten. Decke mich jemand mit rechtsextremen Beschimpfungen ein, solle ich bei seinem Arbeitgeber nicht gleich seine Entlassung einfordern, sagen Sie. Warum nicht?

Natürlich sind extremistische Beschimpfungen meist rechtswidrig und sollen auch juristisch verfolgt werden. Ein Islamist, Nazi, Linksterrorist oder Mörder bleibt aber Teil unserer Gesellschaft. Solange jemand als Vertreter an Türen klopft und Staubsauger verkauft oder am Fliessband steht und Autos zusammenbaut, stellt seine Gesinnung kein Problem dar.

Das müssen Sie erklären.

Es ist sinnvoll, wenn diese Leute einen Job haben. Erstens liegen sie damit nicht der Gesellschaft auf der Tasche und beziehen Hartz IV. Zweitens haben sie nicht so viel Freizeit, in der sie dummes Zeug anstellen können. Und drittens werden sie durch die Einbindung in die Gesellschaft aus der enormen Aussenseiterrolle herausgeholt, die dazu führen kann, dass sich ihre extremistischen Positionen verhärten und sie sich noch weiter radikalisieren. Man sollte auch Extremisten nicht komplett canceln.

Kann man da wirklich von Cancel-Versuchen sprechen?

Ja. Natürlich dürfen solche Leute keine Beamten werden, keine Lehrer, keine Polizisten. Sie sollten nicht an Hochschulen lehren, sie sollten keine Journalisten werden. Wer wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wird, darf nie wieder in einem Kindergarten arbeiten. Macht einer aber einen Job, in dem er aufgrund seiner Gesinnung und seiner Taten keinen Schaden anrichtet, soll er diesen behalten, auch wenn er zu den richtig miesen Figuren, zum Bodensatz der Gesellschaft gehört.

Es gab doch schon immer einen gesellschaftlichen Konsens darüber, was sagbar ist und was nicht?

Es gab immer schon Tabus, die auch richtig sind. Ich möchte in Deutschland zum Beispiel keine Diskussion darüber hören, ob es den Holocaust gab. Dennoch nehmen die Denk- und Sprechverbote zu. Der Korridor des Sagbaren wird so eng, dass man ständig links und rechts irgendwo anstösst und sich unwohl fühlt.

Sie sprechen die Hypersensibilität bestimmter Minderheiten an.

Ich habe auf einer privaten Veranstaltung kürzlich den Kabarettisten Kay Ray auftreten lassen. Kay Ray kann fast nirgendwo mehr auftreten, weil er konsequent Witze über alle macht, auch über Muslime, Behinderte und Transpersonen. Das soll er und das soll jeder von uns tun dürfen. Denn unsere Rechte enden nicht da, wo die Gefühle anderer beginnen, und sie enden schon gar nicht da, wo verletzte Gefühle nur vorgetäuscht werden, um so ein Totschlagargument zu gewinnen. Unsere Rechte enden erst da, wo die Rechte anderer beginnen.

Vertreten Sie auch Fälle von Cancel-Culture, die von rechts kommen?

Ich habe bei meiner Arbeit keine politische Agenda. Ich beriet auch schon einen grünen Abgeordneten, der wegen absurder Vorwürfe an den Pranger gestellt wurde. Ich vertrete absolut und ausnahmslos jeden, der ungerechtfertigt gecancelt werden soll. Es ist allerdings schon so, dass wir im Moment vor allem Mandanten gegen Angriffe aus der linken Blase verteidigen, weil es dazu viel häufiger kommt.

Wurden Sie selber schon gecancelt?

Es gab solche Versuche. Man ist an mein Umfeld herangetreten und hat gesagt: Diese Kanzlei vertritt ja alle möglichen bösen Figuren, von Recep Tayyip Erdogan bis zur AfD. Distanziert euch von denen. Ich habe die Angriffe abgewehrt mit den Strategien, die ich auch für meine Mandanten anwende.

Sie waren Sprecher der Werteunion, des konservativen Flügels der CDU/CSU. Anfang 2020 sind Sie zurückgetreten mit der Begründung, Sie stünden unter massivem Druck. Warum haben Sie dem Druck nicht standgehalten, wie Sie es anderen raten?

Sie haben sogar recht. Aber das Thema ist sehr persönlich.

Warum?

Fragen Sie mich in 10 oder 15 Jahren nochmals.

Ralf Höcker ist Medienanwalt in Köln. Er vertrat schon den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den Wetterfachmann Jörg Kachelmann, das Model Heidi Klum, die AfD sowie weitere deutsche Parteien.

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