18 August 2022

Gefahr eines erneuten Wirtschaftseinbruchs - Gas für Deutschland? Fehlanzeige! (Cicero+)

Gefahr eines erneuten Wirtschaftseinbruchs
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Gas für Deutschland? Fehlanzeige! (Cicero+)
Bis zum Jahr 2024 besteht keine Chance, die russischen Gaslieferungen komplett zu ersetzen. Daher ist die einzige Möglichkeit, Russland dazu zu bewegen, die vereinbarten Mengen weiterhin zu liefern. Denn wenn uns im Winter das Gas ausgeht, wird das erneut einen massiven Einbruch der deutschen Wirtschaftsleistung bedeuten, den wir uns nach der Corona-Krise nicht leisten können.
VON STEFAN LIEBING am 11. August 2022
Wohl keine Frage ist derzeit so entscheidend für den Wohlstand in Deutschland wie die Sicherung unserer Gasversorgung. Ob nun sechs oder zehn Prozent Schrumpfung des BIP zu erwarten sind, wie verschiedene Studien errechnen, ob ein solcher Einbruch nun „handhabbar“ ist, wie etwa die Ökonomen Rüdiger Bachmann und Moritz Schularick sagen, oder nicht: Wenn uns im Winter das Gas ausgeht, wird das erneut einen massiven Einbruch der deutschen Wirtschaftsleistung bedeuten, den wir uns nach der Corona-Krise nicht leisten können.
Wenn private Haushalte von Abschaltungen ausgenommen sein sollen, werden Industrie und Gewerbe zwischen 30 und 50 Prozent ihres bisherigen Gasbedarfs sparen müssen. Das wird dazu führen, dass innerhalb weniger Tage die Chemieindustrie, die Automobilbranche oder der Maschinenbau schließen müssen. Wenn Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) „Volksaufstände“ fürchtet, ist das wohl übertrieben. Aber wenn Millionen Menschen von heute auf morgen in Kurzarbeit müssen, die leeren Sozialkassen durch Staatsgelder auf Pump verstärkt werden müssen und entsprechend mit weiterer Steigerung der Inflation zu rechnen ist, dann scheinen zumindest Demonstrationen und wütende Arbeitnehmer ein plausibles Szenario.
Einsparvorschläge der Bundesregierung sind ratlos
Alternativen zu russischem Gas gibt es nur begrenzt. Unser nach Russland zweitgrößter Lieferant Norwegen versucht die Mengen zu steigern. Mit den Niederlanden laufen Gespräche, die wegen hoher Erdbebengefahr geplante Schließung der Produktion aus dem Groningen-Feld zu verschieben. Beides wird bei weitem nicht ausreichen, die ursprünglich einmal rund 55 Milliarden Kubikmeter jährlicher russischer Lieferungen zu ersetzen, selbst wenn die Lücke inzwischen auf circa 40 Milliarden Kubikmeter zurückgegangen ist.
Dafür kommen nur Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG) aus weiter entfernten Lieferländern in Frage. Es ist daher auch nicht verkehrt, dass sich die Bundesregierung um den Bau neuer Importkapazitäten für LNG gekümmert hat. Selbst bei allen Bemühungen, Vereinfachungen der Genehmigungsverfahren und Aussetzen der Bürgerbeteiligung werden aber keinesfalls ausreichend Importkapazitäten vor 2024/2025 zur Verfügung stehen. 
Bis dahin besteht keine Chance, die russischen Gaslieferungen komplett zu ersetzen. Der Winter wird nicht ohne gewaltige Blessuren für die deutsche Wirtschaft abgehen. Tatsächlich ist kurzfristig die einzige (theoretische) Möglichkeit, Russland dazu zu bewegen, die vereinbarten Mengen weiterhin zu liefern. Auch die einigermaßen ratlos wirkenden Einsparvorschläge der Bundesregierung werden an dieser Tatsache nichts ändern. Mittelfristig hingegen kann vor allem LNG einen wichtigen Beitrag leisten. Aber gerade beim Einkauf von LNG aus neuen Lieferländern geht nichts voran. Außer Zeitungsschlagzeilen über eine Katar-Reise von Minister Habeck hat die Bundesregierung noch immer nichts vorzuweisen.
Großteil der Mengen ist langfristig verkauft

Das hat vor allem mit der Tatsache zu tun, dass der LNG-Markt traditionell auf sehr langfristigen Kundenbeziehungen basiert. Neue LNG-Verflüssigungsanlagen in Produzentenländern gehören zu den größten Infrastrukturinvestitionen überhaupt. Eine moderne Anlage kann bis zu 20 Milliarden Dollar kosten. Ein solches Projekt – noch dazu häufig in instabilen Risikoländern – wird von den Banken nur dann finanziert, wenn bei Baubeginn bereits 80 bis 90 Prozent der erwarteten Produktionsmengen für die Lebensdauer des Projekts verkauft sind. Es ist daher üblich und notwendig, dass Gasabnehmer Verträge von 20 Jahren Laufzeit und mehr zeichnen. Damit für beide Seiten der Preis planbar ist, wird in der Regel der LNG-Preis als Funktion des Rohölpreises monatlich neu kalkuliert.

Weltweit werden jährlich rund 500 Milliarden Kubikmeter Gas in Form von LNG erzeugt. Davon stammen rund 50 Milliarden aus Russland. Der verfügbare Markt beträgt also circa 450 Milliarden Kubikmeter. Weil der Energieaufwand des Transports und die Transportverluste zu groß wären, sind zudem vor allem asiatische Lieferländer als Quellen für Deutschland praktisch ausgeschlossen. Da zudem der Großteil der Mengen langfristig verkauft ist, bleibt ein Markt von maximal 45-90 Milliarden Kubikmeter für alle Kunden weltweit, die am Spotmarkt gehandelt und kurzfristig aufgekauft werden können. Politische Beziehungen helfen dabei nicht. In diesem klar strukturierten Markt erhält derjenige Käufer den Zuschlag, der den höchsten Preis bezahlt. Konkurrent ist dabei nicht zuletzt Japan, das daran gewohnt ist, auch in Friedenszeiten oft den doppelten Preis für Gas zu bezahlen, der in Europa üblich ist.

Planbare Versorgung mit Gast sieht anders aus

Daraus ergeben sich auch die Gründe, warum eine Reise des Wirtschaftsministers nach Katar von Anfang an zum Scheitern verurteilt war: Um in neue Verflüssigungsanlagen investieren zu können, benötigt die dortige Regierung wie alle anderen auch die Zusage langfristiger Abnahmen. Zwanzigjährige Verträge werden aber die privaten Energieversorger aus Deutschland nicht zeichnen können, weil sie als vergleichsweise kleine Händler diese Preis- und Mengenrisiken nicht ohne Unterstützung in die Bücher nehmen können. Und auch für kurzfristige Spotmengen aus Katar wäre eine Politikerreise nicht notwendig gewesen: Die Handelsgesellschaften der deutschen Gasimporteure sind mit den Verfahren vertraut, in einzelnen Verkaufsverfahren Gasmengen am Spotmarkt in Afrika oder dem Nahen Osten zu kaufen. Den Zuschlag werden sie allerdings nur erhalten, wenn sie bei jeder einzelnen Transaktion den höchsten Preis bieten. Planbare Versorgung mit Gas für Deutschland sieht anders aus.

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Italien hat einen anderen Weg gewählt und scheint damit erfolgreich. Die Regierung ist gemeinsam mit ENI zu den afrikanischen Produzentenländern gereist, wo einige Verflüssigungsanlagen noch freie Mengen haben. Auch hier wird es in vielen Fällen noch ein oder zwei Jahre dauern, bis substantielle Exporte zur Verfügung stehen. Italien hat dennoch bereits in Angola und im Kongo, in Ägypten und Algerien Vereinbarungen abgeschlossen und Deutschland damit diese Mengen vor der Nase weggeschnappt. Senegal und Nigeria hätten noch Möglichkeiten, zumindest in zwei Jahren zu liefern. Angebote dazu liegen auf dem Tisch. Konkrete Gespräche mit Deutschland? Bislang Fehlanzeige.

Nichts könnte wichtiger sein für die Wirtschaft

Was wäre also zu tun? Ganz offensichtlich herrscht bei der Beschaffung von langfristigen LNG-Lieferungen gleichzeitig Politik- und Marktversagen. Die Interessen der Energieversorger bestehen darin, ihren Handelsgewinn zu maximieren und dabei Risiken von überschaubarer Höhe und Dauer einzugehen. Es besteht kein Anreiz, durch den Abschluss von riskanteren Langfristverträgen Versorgungssicherheit zu gewährleisten, weil die Versorgungssicherheit Deutschlands nicht vergütet wird. So zu agieren, ist nicht nur rational, sondern sogar die gesetzliche Pflicht von Händlern. Insofern müsste die Bundesregierung hier eingreifen und entweder den privaten Unternehmen einen Teil dieser Risiken abnehmen, beispielsweise durch Bürgschaften und Garantien, oder aber selbst als Vertragspartner auftreten.

Bei der Auswahl der Lieferländer muss vor allem eine Rolle spielen, wie schnell die Partner größere Mengen regelmäßig bereitstellen können. Die USA und Afrika sind dafür die vielversprechendsten Regionen. Anders als Katar hat der Bundeswirtschaftsminister Afrika bislang nicht besucht und die USA nur einmal Anfang März, als Deutschland noch nicht einmal Klarheit hatte, ob hier LNG-Terminals gebaut werden und ab wann. Diese Abwesenheit von wichtigen Märkten zu ändern, wäre ein erster Schritt hin zu einer erfolgversprechenden Gasbeschaffungspolitik. Nichts könnte derzeit wichtiger sein für die deutsche Wirtschaft.

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