Es werden zunehmend Stimmen laut, die auf eine Öffnung der Pipeline Nord Stream 2 drängen. Wäre das überhaupt eine plausible Option?
Es wäre ein taktisches Manövrieren, das an den grundsätzlichen Problemen unserer energiewirtschaftlichen Struktur und auch an der grundsätzlichen Erpressbarkeit gerade im kommenden Winter nichts ändern würde.
Ebenfalls umstritten ist ein Weiterbetrieb von drei deutschen Atomkraftwerken. Besonders die Grünen sträuben sich. Führt überhaupt ein Weg daran vorbei?
Es gibt nichts auf der Welt, was man zwingend tun muss, außer irgendwann zu sterben. Aber mal mit dem Blick des heutigen Tages aus mehr als 10.000 Kilometern Entfernung auf Deutschland muss man sich schon fragen, ob es wirklich einen einzigen Menschen in der Bundesrepublik geben kann, der sinnhafterweise den Streckbetrieb der noch sicher laufenden deutschen Kernkraftwerke in Frage stellt. Zumal auch noch gleichzeitig die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen in Folge eines kalten Winters diskutiert wird, und Herr Kretschmann offenbar ernsthaft das Duschen durch den Waschlappen ersetzen will. Wie man in dieser Situation allen Ernstes eine Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke auch nur in Erwägung ziehen kann, das entzieht sich dem Verständnis jedes auch nur halbwegs sachkundigen neutralen Beobachters.
Gestritten wird auch über das Instrument der Gasumlage, nicht zuletzt, weil auch Gewinn erzielende Energieversorger davon profitieren würden. Was halten Sie von der Gasumlage?
Die Gasumlage ist ein Bürokratiemonster; der Staat entlastet nicht direkt, sondern gibt vor, wie die Kunden entlastet werden sollen. Das ist schon mal ein mehrstufiger Entlastungsprozess. Und dieser Prozess wird auch noch dadurch verkompliziert, dass man meint, vermeintliche soziale Verwerfungen auf dem Wege der Mehrwertsteuersenkung kompensieren zu müssen. Bei einem solchen Denken über drei Ecken ist eigentlich schon völlig klar, dass dieser Mechanismus weder mit Marktwirtschaft noch mit energiepolitischer Vernunft noch mit administrativer Effizienz irgendetwas zu tun haben kann.
Bundeskanzler Scholz und Bundeswirtschaftsminister Habeck waren soeben in Kanada, um die künftige Versorgung mit Wasserstoff zu gewährleisten. Inwiefern ist Wasserstoff ein Energieträger, der die deutsche Energieknappheit künftig verringern kann?
Nach meiner persönlichen Einschätzung ist Wasserstoff generell ein Energieträger der Zukunft. Es ist ja so, dass technologische Substitutionsprozesse nie mit Sicherheit prognostiziert werden können, dass aber jene Länder und Unternehmen gewinnen, die die technologische Substitution am besten antizipieren. Ich persönlich bin und bleibe überzeugt, dass Wasserstoff insbesondere im Automobilbereich der geeignetere Energieträger wäre als etwa die Lithium-Ionen-Batterie – und er deswegen eine große Zukunft haben kann und vermutlich auch haben wird. Das ist zwar auch für mich ein Blick in die Glaskugel, aber es spricht alles dafür, dass unsere Energiewirtschaft sich in Richtung einer Wasserstoffwirtschaft entwickeln wird. Auf kurze Sicht werden wir durch Wasserstoff unsere Energieknappheit aber nicht überwinden können.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat in einem Interview mit Cicero soeben behauptet, Deutschland sei noch auf Jahre hinaus auf Gas aus Russland angewiesen. Trifft das zu?
Wenn wir die Abhängigkeit von russischem Gas abmildern und zumindest auf ein sozial und energiepolitisch halbwegs vertretbares Niveau reduzieren wollen, dann geht das. Aber nur, indem alle Optionen genutzt werden, andere Energieträger vernünftig einzusetzen – einschließlich des Weiterbetriebs der laufenden Kernkraftwerke. Michael Kretschmer mag indes damit recht haben, dass ein vollständiges Eliminieren dieser Abhängigkeit so schnell kaum möglich ist und ein etwaiger kompletter Lieferausfall russischen Gases kurz- und auch mittelfristig nicht vollständig kompensiert werden kann.
Inwieweit können Erneuerbare Energien auf absehbare Zeit die Energieversorgung in Deutschland sicherstellen?
Sie können das, indem wir sie grundlastfähig machen. Ihre letztliche Zukunftskraft hat insofern sehr viel zu tun mit Energiespeichern, aber auch mit den Fortschritten bei der Energieeffizienz. Ich selbst habe schon im Jahr 2007 vorgeschlagen, den Ausstieg aus der Kernenergie in der Verfassung als strategisches Ziel festzuschreiben unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Sicherheitspräferenz der deutschen Bürgerinnen und Bürger. Ich habe aber auch gesagt, die Modalitäten eines Atomausstiegs müssen abhängig sein vom Fortschritt beim Ausbau der erneuerbaren Energie, deren Speichermöglichkeiten und bei der Erhöhung der Energieeffizienz. Perspektivisch bin ich immer noch davon überzeugt: Die ideale Energieversorgung der Zukunft wäre eine globale solare Energiewirtschaft, in der wir aber nicht zunächst die Energiegewinnung aus fossilen Energieträgern durch einen übereilten Ausstieg aus der Kernenergie zementieren. Sondern den Weg wählen eines fließenden und direkten Übergangs von Kernenergie in regenerative Energie. Übrigens gilt auch für regenerative Energien, dass wir hier alles ausschöpfen müssen – von der Geothermie über Wasserkraft bis hin zu Wind und Sonne. Sonnenenergie müsste dabei vor allem in Wüstengegenden wie Sahara, Kalahari oder Mojave gewonnen und von dort effizient weltweit in die Verbrauchszentren weitergeleitet werden.
Was bedeutet die aktuelle Energieknappheit eigentlich für den Industriestandort Deutschland?
Die Energieversorgung ist das zentrale Nervensystem einer jeden entwickelten Volkswirtschaft. Wenn man ein solches System beschädigt, kann je nach Schadensgröße alles passieren – vom Kribbeln im kleinen Finger bis zur vollständigen Lähmung.
Die Fragen stellte Alexander Marguier.
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