26 August 2022

Ex-EnBW-Chef Utz Claassen über die deutsche Energiekrise - „Wir betreiben die dümmste Energiepolitik der Welt“ (Cicero+)

Ex-EnBW-Chef Utz Claassen über die deutsche Energiekrise
-
„Wir betreiben die dümmste Energiepolitik der Welt“ (Cicero+)
Der frühere Energie-Manager Utz Claassen hält die aktuelle deutsche Energiekrise für ein hausgemachtes Problem und sieht die Bundesrepublik als energiepolitischen Geisterfahrer, der im Rest der Welt nur noch Fassungslosigkeit erzeugt. Im Interview spricht Claassen über Waschlappen-Ratschläge, politische Ideologien, die verkorkste Gasumlage – und über die Zukunft des Industriestandorts Deutschland.
INTERVIEW MIT UTZ CLAASSEN am 25. August 2022
Utz Claassen, 59, war von 2003 bis 2007 Vorstandsvorsitzender des Energieversorgers Energie Baden-Württemberg (EnBW) und ist aktuell CEO der Syntellix AG.
Herr Claassen, Sie waren einst Vorstandschef eines der größten deutschen Energieversorger, der EnBW. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass die Bundesrepublik jemals eine derartige Energieknappheit erlebt wie es dieser Tage der Fall ist?
Die konkrete Situation, wie sie jetzt entstanden ist, hätte ich mir nicht vorstellen können. Und die hat sich damals wahrscheinlich auch sonst niemand vorstellen können – schon deshalb, weil sich damals niemand über eine mögliche russische Invasion der Ukraine Gedanken gemacht hat. Aber dass wir dennoch irgendwann in irre Probleme geraten könnten, musste seinerzeit jedem klar sein. Denn die Naturgesetze und die Gesetze des gesunden Menschenverstandes sind durch die deutsche Energiepolitik schon damals mit Füßen getreten worden. Es gibt kaum einen Bereich der politischen Gestaltung, der so sehr der Versachlichung zugänglich wäre, wie die Energiepolitik. Und es gibt kaum einen anderen Bereich, in dem über so viele Jahre und Jahrzehnte hinweg wirklich konsequent die Naturgesetze und die Gesetze der Mathematik, der Logik und des gesunden Menschenverstands verletzt worden sind.
Jetzt schauen alle mit großer Sorge auf den bevorstehenden Herbst und Winter. Es soll weniger geheizt werden, im öffentlichen Raum gehen die Lichter aus. Wie besorgniserregend ist die Situation aus Ihrer Sicht?
Ich maße mir nicht an, in die Gestaltungskompetenz derjenigen einzugreifen, die heute in wirtschaftlicher oder politischer Verantwortung stehen. Eines aber kann ich sagen: Wenn der Ministerpräsident des über Jahrzehnte hinweg ökonomisch relativ erfolgreichsten Bundeslandes allen Ernstes vorschlägt, nicht mehr zu duschen und stattdessen zum Waschlappen zu greifen, dann sind wir in einer Situation angekommen, die außerhalb der früheren Vorstellungskraft liegt. Umso mehr, als er Insiderwissen hat, das Sie und ich nicht haben. Übrigens erreichen Sie mich heute in Singapur – und wenn ich hier auf die nähere Umgebung oder auf den Asean-Bereich schaue, dann gibt es da Länder wie Vietnam, Kambodscha oder Laos, die wir aus unserer europäischen Überheblichkeit heraus immer noch als Entwicklungs- oder Schwellenländer betrachten – wo es aber eine Selbstverständlichkeit ist, dass jeder Mensch ein- oder zwei-, vielleicht auch dreimal täglich duschen kann. Wenn Sie in einem dieser Länder jemandem erzählen, dass in dem einst höchst angesehenen Industrieland namens Bundesrepublik Deutschland heute allen Ernstes ein Ministerpräsident empfiehlt, das Duschen durch den Waschlappen zu ersetzen, dann werden die es entweder nicht glauben oder sich an die Stirn fassen oder nur mitleidig den Kopf schütteln. Ich habe heute Mittag mit einem der führenden Wissenschaftler Singapurs gesprochen, einem Kanadier chinesischen Ursprungs. Der sagte mir, es sei für ihn unfassbar, mit welcher Geschwindigkeit Deutschland zur energiepolitischen Lachnummer der ganzen Welt werden konnte. Weil wir eben tatsächlich die dümmste Energiepolitik der Welt betreiben.
Wie viel an dieser Krise ist tatsächlich eine Folge politischer Fehlentscheidungen in Deutschland, und inwieweit ist es der verminderten Lieferung von Erdgas aus Russland geschuldet?
Ich will vorausschicken, dass die Fehler in der Energiepolitik nicht erst mit der sogenannten Energiewende begonnen haben. Eine ideologisierte und nicht auf Fakten basierte Energiepolitik hat in Deutschland auch vorher schon stattgefunden. Zweitens: Diese vermeintliche Energiewende hat das alles dann völlig ad absurdum getrieben, zumal wir nie den Widerspruch aufgelöst haben zwischen den Oberzielen des Klimaschutzes und des Ausstiegs aus der Kernenergie. Und man kann schlichtweg nicht gleichzeitig der weltweite Klimaschutz-Protagonist und der globale Protagonist beim Ausstieg aus der Kernenergie sein. Das ist ein unauflösbarer Widerspruch, jedenfalls auf kurz- oder mittelfristige Sicht. Und damit zu Ihrer eigentlichen Frage: Diejenigen, die derzeit über die wesentlichen Gaslieferströme bestimmen, sitzen eben nicht in Berlin oder in Düsseldorf. Sondern in Moskau und Sankt Peterburg. Aber dass wir jetzt zitternd dasitzen und Angst haben müssen vor dem, was Putin entscheidet, das müssen wir uns schon selbst anlasten. Weil wir eine Politik betrieben haben, die über viele Jahre nicht auf Diversifikation und Risikominimierung in Sachen Energiebeschaffung gesetzt hat. Sondern ganz stark auf einen einzigen Energieträger, nämlich Gas aus Russland. Und eine solche Situation darf man nie entstehen lassen – völlig unabhängig davon, ob Putin nun unser bester Freund ist oder unser größter Feind. Solch eine Situation entsteht aber, wenn man glaubt, gleichzeitig auf Braunkohle, Steinkohle, Öl und Kernenergie verzichten zu können. Da bleibt dann nämlich außer Gas nichts mehr übrig, um die Grundlastfähigkeit wenigstens halbwegs zu gewährleisten.

Es werden zunehmend Stimmen laut, die auf eine Öffnung der Pipeline Nord Stream 2 drängen. Wäre das überhaupt eine plausible Option?

Es wäre ein taktisches Manövrieren, das an den grundsätzlichen Problemen unserer energiewirtschaftlichen Struktur und auch an der grundsätzlichen Erpressbarkeit gerade im kommenden Winter nichts ändern würde.

Ebenfalls umstritten ist ein Weiterbetrieb von drei deutschen Atomkraftwerken. Besonders die Grünen sträuben sich. Führt überhaupt ein Weg daran vorbei?

Es gibt nichts auf der Welt, was man zwingend tun muss, außer irgendwann zu sterben. Aber mal mit dem Blick des heutigen Tages aus mehr als 10.000 Kilometern Entfernung auf Deutschland muss man sich schon fragen, ob es wirklich einen einzigen Menschen in der Bundesrepublik geben kann, der sinnhafterweise den Streckbetrieb der noch sicher laufenden deutschen Kernkraftwerke in Frage stellt. Zumal auch noch gleichzeitig die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen in Folge eines kalten Winters diskutiert wird, und Herr Kretschmann offenbar ernsthaft das Duschen durch den Waschlappen ersetzen will. Wie man in dieser Situation allen Ernstes eine Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke auch nur in Erwägung ziehen kann, das entzieht sich dem Verständnis jedes auch nur halbwegs sachkundigen neutralen Beobachters.

Gestritten wird auch über das Instrument der Gasumlage, nicht zuletzt, weil auch Gewinn erzielende Energieversorger davon profitieren würden. Was halten Sie von der Gasumlage?

Die Gasumlage ist ein Bürokratiemonster; der Staat entlastet nicht direkt, sondern gibt vor, wie die Kunden entlastet werden sollen. Das ist schon mal ein mehrstufiger Entlastungsprozess. Und dieser Prozess wird auch noch dadurch verkompliziert, dass man meint, vermeintliche soziale Verwerfungen auf dem Wege der Mehrwertsteuersenkung kompensieren zu müssen. Bei einem solchen Denken über drei Ecken ist eigentlich schon völlig klar, dass dieser Mechanismus weder mit Marktwirtschaft noch mit energiepolitischer Vernunft noch mit administrativer Effizienz irgendetwas zu tun haben kann.

Bundeskanzler Scholz und Bundeswirtschaftsminister Habeck waren soeben in Kanada, um die künftige Versorgung mit Wasserstoff zu gewährleisten. Inwiefern ist Wasserstoff ein Energieträger, der die deutsche Energieknappheit künftig verringern kann?

Nach meiner persönlichen Einschätzung ist Wasserstoff generell ein Energieträger der Zukunft. Es ist ja so, dass technologische Substitutionsprozesse nie mit Sicherheit prognostiziert werden können, dass aber jene Länder und Unternehmen gewinnen, die die technologische Substitution am besten antizipieren. Ich persönlich bin und bleibe überzeugt, dass Wasserstoff insbesondere im Automobilbereich der geeignetere Energieträger wäre als etwa die Lithium-Ionen-Batterie – und er deswegen eine große Zukunft haben kann und vermutlich auch haben wird. Das ist zwar auch für mich ein Blick in die Glaskugel, aber es spricht alles dafür, dass unsere Energiewirtschaft sich in Richtung einer Wasserstoffwirtschaft entwickeln wird. Auf kurze Sicht werden wir durch Wasserstoff unsere Energieknappheit aber nicht überwinden können. 

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat in einem Interview mit Cicero soeben behauptet, Deutschland sei noch auf Jahre hinaus auf Gas aus Russland angewiesen. Trifft das zu?

Wenn wir die Abhängigkeit von russischem Gas abmildern und zumindest auf ein sozial und energiepolitisch halbwegs vertretbares Niveau reduzieren wollen, dann geht das. Aber nur, indem alle Optionen genutzt werden, andere Energieträger vernünftig einzusetzen – einschließlich des Weiterbetriebs der laufenden Kernkraftwerke. Michael Kretschmer mag indes damit recht haben, dass ein vollständiges Eliminieren dieser Abhängigkeit so schnell kaum möglich ist und ein etwaiger kompletter Lieferausfall russischen Gases kurz- und auch mittelfristig nicht vollständig kompensiert werden kann.

Inwieweit können Erneuerbare Energien auf absehbare Zeit die Energieversorgung in Deutschland sicherstellen?

Sie können das, indem wir sie grundlastfähig machen. Ihre letztliche Zukunftskraft hat insofern sehr viel zu tun mit Energiespeichern, aber auch mit den Fortschritten bei der Energieeffizienz. Ich selbst habe schon im Jahr 2007 vorgeschlagen, den Ausstieg aus der Kernenergie in der Verfassung als strategisches Ziel festzuschreiben unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Sicherheitspräferenz der deutschen Bürgerinnen und Bürger. Ich habe aber auch gesagt, die Modalitäten eines Atomausstiegs müssen abhängig sein vom Fortschritt beim Ausbau der erneuerbaren Energie, deren Speichermöglichkeiten und bei der Erhöhung der Energieeffizienz. Perspektivisch bin ich immer noch davon überzeugt: Die ideale Energieversorgung der Zukunft wäre eine globale solare Energiewirtschaft, in der wir aber nicht zunächst die Energiegewinnung aus fossilen Energieträgern durch einen übereilten Ausstieg aus der Kernenergie zementieren. Sondern den Weg wählen eines fließenden und direkten Übergangs von Kernenergie in regenerative Energie. Übrigens gilt auch für regenerative Energien, dass wir hier alles ausschöpfen müssen – von der Geothermie über Wasserkraft bis hin zu Wind und Sonne. Sonnenenergie müsste dabei vor allem in Wüstengegenden wie Sahara, Kalahari oder Mojave gewonnen und von dort effizient weltweit in die Verbrauchszentren weitergeleitet werden.

Was bedeutet die aktuelle Energieknappheit eigentlich für den Industriestandort Deutschland?

Die Energieversorgung ist das zentrale Nervensystem einer jeden entwickelten Volkswirtschaft. Wenn man ein solches System beschädigt, kann je nach Schadensgröße alles passieren – vom Kribbeln im kleinen Finger bis zur vollständigen Lähmung.

Die Fragen stellte Alexander Marguier.

Das könnte Sie auch interessieren:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen