26 August 2022

Das große Unwohlsein oder: Der Gefühlsterror eifriger Aktivisten (NZZ)

Das große Unwohlsein oder: Der Gefühlsterror eifriger Aktivisten (NZZ)
Gefühle haben eine eigentümliche Macht. Sie sind nicht anfechtbar. Wer das weiß, der kann sie effektvoll einsetzen: zum Abbruch von Konzerten, zur Verbannung von Frisuren, zur Zensur.
Von Benedict Neff,
Was war eigentlich der Grund für den Abbruch beziehungsweise die Absage eines Reggae-Konzertes in Bern und Zürich? In den vergangenen Wochen wurden viele Artikel zum Thema der kulturellen Aneignung publiziert. Das Problem schienen weisse Musiker zu sein, die Rastafrisuren und im Falle der Band Lauwarm afrikanische Gewänder trugen. Ein Wort, das hingegen fast wie selbstverständlich hingenommen wurde, war: Unwohlsein. Sowohl die Veranstalter in Bern als auch in Zürich benutzten es, um ihr Vorgehen zu begründen. Menschen hätten «Unwohlsein mit der Situation» geäussert, schrieb das Konzertlokal in Bern. Der Veranstalter in Zürich betonte: «Wir haben dieses Konzert nicht wegen seiner Rastas abgesagt, sondern wegen des ausgesprochenen Unwohlseins von unseren Mitmenschen.»
Das Wort erinnerte mich an meine Gymnasiumszeit. Wenn ich der Schule ferngeblieben bin ohne triftigen Grund, schrieb ich in mein Absenzenheft: Unwohlsein. Der Klassenlehrer hat unterschrieben, wenn auch misstrauisch. War Unwohlsein ein akzeptabler Grund, um der Schule fernzubleiben? Absolut. Wie hätte sich der Lehrer anmassen können, den Grad des Unwohlseins zu beurteilen? Was wusste er schon davon, wie es mir wirklich ging? Und wollte er sich auf das Gespräch mit einem gereizten Jugendlichen einlassen?
Gefühle machen unantastbar
Unwohlsein ist ein Gefühl, und Gefühle kann man nicht anfechten. Wenn ich sage: «Ich bin traurig», bedarf es keines Beweises. Es wäre verletzend, wenn jemand sagen würde: «Nein, du bist nicht traurig. Das ist keine Trauer, die du fühlst.» Sich auf seine Gefühle zu berufen, macht einen in mancherlei Hinsicht unantastbar, gibt einem Macht. Wer das weiss, der kann die Gefühle effektvoll einsetzen.
Bewusst oder unbewusst haben die Konzertveranstalter auch mit diesem Begriff operiert. Sie haben sich nicht auf komplizierte politische Erörterungen eingelassen. Stattdessen beriefen sie sich auf Gefühle. Nicht einmal auf ihre eigenen, sondern auf die Gefühle von anderen, die sich angeblich beklagt und sich gekränkt gefühlt haben. Das Motiv für den Konzertabbruch ist aus Sicht der Veranstalter: Empathie. Niemand sollte ausgeschlossen, niemand verletzt werden.
Erklärungen dieser Art häufen sich in jüngster Zeit. Manchmal wirkt es fast so, als würden die Pressestellen einander gegenseitig abschreiben. Diese Woche erklärte der Ravensburger Verlag, das Buch «Der junge Häuptling Winnetou» aus dem Programm zu nehmen. Mit den Winnetou-Titeln habe man «die Gefühle anderer verletzt», hieß es.
Die Gefühls-Profis
Die Gefühlsargumentation ist ein Zeitphänomen. Das Gefühl wird zum Massstab des Handelns, vor allem aber müssen schlechte Gefühle verhindert werden. In Buchverlagen wirken Lektoren, die darauf spezialisiert sind, potenziell verletzende Inhalte aufzuspüren – zerknirscht bekannte Ravensburger, dass die «Sensitivity Reader» im Falle von Winnetou versagt hätten.
In grösseren Theatern begleiten «Intimacy Coachs» Liebesszenen, damit sich alle Beteiligten wohlfühlen. Professoren, die an der Idee von zwei Geschlechtern festhalten, werden wie im Falle der britischen Philosophin Kathleen Stock von Studenten terrorisiert. An der Universität Princeton wollen selbst manche Professoren Klassiker wie Platon und Aristoteles ausmisten, um die Vorherrschaft des weissen Mannes zu bekämpfen. Triggerwarnungen vor Filmen versuchen die Konfrontation mit verstörenden Inhalten abzudämpfen. Weisse Schauspieler dürfen keine nicht-weissen Figuren spielen («Whitewashing»). Und keine Frauen. Heterosexuelle Schauspieler erklären, keine homosexuellen Figuren mehr spielen zu können. Tom Hanks: «Das Publikum würde den Mangel an Authentizität nicht mehr akzeptieren.»

Sensibilität in der Sprache

Frau- oder Mannsein wird zur Frage des subjektiven Gefühls. Gendersensible Sprache breitet sich aus. Die Sprache macht überhaupt deutlicher denn je, in welchem Lager man ist. Die Verwendung von Wörtern wie «Flüchtlinge» und «Behinderte» ist – beabsichtigt oder nicht – zu einem politischen Statement geworden wie der Genuss von Cola und Weinen aus dem Napa Valley. Wäre man ernsthaft sensibilisiert, würde man all das unterlassen.

Zu den Aristokraten in der empfindsamen Gesellschaft werden die Hochsensiblen. 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung, deren Nervenkostüm noch einmal filigraner ist. Allergien nehmen zu, Laktoseintoleranz, Anfälligkeit auf Gluten, Lärm, Sonne, Strahlen aller Art. Die Tendenz einer fortschreitenden Sensibilisierung liesse sich beliebig weiter dokumentieren. Die deutsche Philosophin Svenja Flasspöhler hat im vergangenen Jahr mit «Sensibel» ein Kompendium dieser Phänomene veröffentlicht.

Der Wunsch, nichts zu sein

Aber wo führt das alles hin? Flasspöhler schreibt: «Je gleichberechtigter Gesellschaften sind, desto sensibilisierter werden sie für noch bestehende Ungerechtigkeiten und damit verbundene Verletzungen.» Was heute sensibel ist, kann schon morgen unsensibel sein. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut wiederum glaubt, die westliche Zivilisation sei vom Antirassismus so besessen, dass sie nur noch an ihrer Selbstauflösung arbeite: «Der Wunsch, in einem realen Dasein zu überleben, wandelt sich in einen Willen, nichts zu sein, um nie wieder auszugrenzen, niemanden mehr zu misshandeln.»

Das mag melodramatisch klingen, ist aber konsequent gedacht. Die Konzertveranstalter in Bern und Zürich und der Ravensburger Verlag wollen niemanden verletzen. Das erreichen sie nur, wenn sie niemand mehr sind und für nichts mehr stehen. Dann gibt es keine Reibung, keinen Schmerz mehr. Jeder Standpunkt, jede Meinung hingegen bedeutet Auseinandersetzung, potenzielles Unwohlsein. Dass Menschen Schmerzen vermeiden wollen, ist verständlich. Die absolute Schmerzvermeidung ist aber unmöglich. Der Schmerz, das Unwohlsein sind dem Leben inhärent.

Tatsächlich scheinen die Zensur-Aktivisten auch kein taugliches Gegenmodell zu propagieren. Sie wollen, dass sich der Westen fremde Kulturen nicht aneignet, sie wollen allerdings auch keine Renationalisierung. Ein anderer – ein Indianer, ein Rastafari, ein Ghetto-Rapper – darf man nicht sein, Kulturen vermischen ist verboten, hinter der Schweizer Fahne soll man sich aber auch nicht versammeln. Deshalb lautet der unausgesprochene Auftrag: Sei nichts.

Die Grenzen der Empathie

Dabei hat die gewachsene Sensibilisierung die Zivilisation laufend verbessert. Viele Errungenschaften sind erschreckend jung: Erst 1971 erhielten Frauen das Stimmrecht in der Schweiz. Erst seit 1992 ist Vergewaltigung in einer Ehe strafbar und erst seit 2004 ein Delikt, das auch von Amtes wegen geahndet wird. Die Sensibilisierung einer Gesellschaft ist nie abgeschlossen, und das ist auch gut so. Allerdings erleben wir gerade Sensibilisierungs-Exzesse. Dass diese bei mir zu empathischen Reaktionen führen würden, könnte ich bisher nicht feststellen. Das Unwohlsein, das manche angesichts weisser Männer mit Rastafrisuren fühlen, löst vielmehr Befremden und Ablehnung aus. Das Verständnis ist ungefähr so gross wie für eine Person, die sich unwohl fühlt, wenn ein Schweizer mit kosovarischen Wurzeln für die Nationalmannschaft aufläuft. Null.

Im Grunde handelt es sich bei Cancel-Culture-Aktivisten um eine infantile Bewegung. Ehrlicherweise müssen wir diesen Aktivisten sagen: Unwohlsein gehört zum Leben, ein gewisses Unwohlsein muss man auch aushalten können. Die Vorstellung, dass wir uns gegenseitig ständig gute Gefühle geben, entspricht nicht dem Dasein. Manche Leute fühlen sich unwohl in Gegenwart von Hunden und Katzen, andere in Gegenwart von Männern oder Frauen. Manche Leute mögen es nicht, wenn an einem Ort viele Fremde sind. Andere fühlen sich im Gegenteil eher unwohl, wenn das Umfeld nicht multikulturell ist. Unwohlsein muss man ernst nehmen. Aber das heisst nicht, dass die Quellen des Unwohlseins einfach beseitigt werden können.

Wo die Gefühle beginnen, endet das Recht nicht

Erwachsenwerden bedeutet auch zu lernen, mit dem Unwohlsein umzugehen. Nicht aus jedem Unwohlsein ein Drama zu machen. Gelegentlich auszuweichen. Wer Großveranstaltungen hasst, geht während der Zürcher Street Parade besser in die Berge. Ralf Höcker, der als Anwalt Leute vertritt, die von Cancel-Culture-Aktivisten gemobbt werden, sagte kürzlich in dieser Zeitung: «Unsere Rechte enden nicht da, wo die Gefühle anderer beginnen, und sie enden schon gar nicht da, wo verletzte Gefühle nur vorgetäuscht werden, um so ein Totschlagargument zu gewinnen. Unsere Rechte enden erst da, wo die Rechte anderer beginnen.»

Wie aber ist das Paradox zu erklären, dass sich die aktivistischen Zensoren doch immer wieder durchsetzen? Obschon sie eine kleine Minderheit sind, deren Unwohlsein oft nur durch Vermittlung an die Öffentlichkeit dringt? Weshalb funktioniert die Einschüchterung eben doch?

«Die Komplizen der Zensur-Aktivisten»

Vermutlich sind die Gefühle schlagkräftiger als die wackligen Theoriegerüste zur kulturellen Aneignung. Die Konfrontation damit, bei anderen Menschen aufgrund von Äußerlichkeiten oder Handlungen Unwohlsein auszulösen, dürfte die wenigsten kaltlassen. So merkwürdig der Vorwurf auch sein mag. Die meisten Menschen möchten bei anderen keine schlechten Gefühle auslösen, und viele möchten sich auch nicht exponieren. Wer heute mit Rastas herumläuft, steht nach all den Diskussionen im Schaufenster. Wer sein Kind als Indianer an die Fasnacht schickt, setzt es womöglich den Anfeindungen anderer Kinder oder Eltern aus. Also vermeidet man es lieber, man weicht aus und schickt die Tochter als Baum an den Kinderumzug.

So entfalten die Fanatiker mit ihren Gefühlen eine Macht. Hinzu kommt ein breites linkes Milieu, das das Unwohlsein angesichts kultureller Aneignung in dieser Rigorosität zwar nicht teilt, aber der Diskussion ausweicht. Das Hauptproblem seien demnach nicht die Zensur-Vorfälle, sondern ihre Skandalisierung durch die Medien. Diese Relativisten sind die Komplizen der Zensur-Aktivisten.

Wer vermisst das Indianerkostüm?

Die Befürchtung, dass das Unwohlsein immer wirkmächtiger wird, ist deshalb nicht so abstrus. Die Idee einer freien Geschlechtswahl, die allein auf dem Gefühl basiert und noch amtlich beglaubigt wird, hätten vor zwanzig Jahren wohl die meisten für einen Witz gehalten. Auch die Gendersprache hielt man lange für eine Spinnerei linguistischer Seminare. Diese Naivität ist verflogen. Eher schaut man in diese Zeitung und fragt sich: Wird sie dereinst auch mit Genderstern erscheinen?

Wird jemand die verfilzten Haare vermissen und die Indianerkostüme? Vielleicht fast niemand. Der Punkt aber ist, dass die freie Entfaltung, die Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks schleichend abnehmen. Denn in Wahrheit ist das Projekt der Hypersensiblen Gleichförmigkeit und Gleichmachung. Wenn alles gleich ist, gibt es auch keinen Anstoss mehr, keine Erregung.

Eine Gesellschaft funktioniert aber nicht nur durch Empathie, sondern auch durch Widerstandskraft. Deshalb sollten wir das verbreitete Unwohlsein etwas strenger beurteilen als mein damaliger Lehrer. Denn das Gefühl wird zunehmend zur Legitimation von Zensur missbraucht.

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