31 August 2022

Der Wokeness-Wahn, Teil 1 - Strukturell-rassistischer Antirassismus (Cicero+)

Der Wokeness-Wahn, Teil 1
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Strukturell-rassistischer Antirassismus (Cicero+)
Rassismus bedeutete ursprünglich einmal, Unterschiede zwischen Menschengruppen hierarchisch zu bewerten und daraus Nachteile für eine bestimmte Gruppe abzuleiten - was bewusste Absicht voraussetzt. Anhänger der These vom „strukturellen Rassismus“ behaupten hingegen, dass weiße Menschen aufgrund ihrer Sozialisation gar nicht anders können, als Rassisten zu sein - und argumentieren damit selbst rassistisch. Teil 1 einer neuen Cicero-Serie zu den Auswüchsen der woken Ideologie.
VON MATHIAS BRODKORB am 30. August 2022
Man sollte eigentlich meinen, dass nach Jahrzehnten kritischer Rassismusforschung einigermaßen klar sein müsste, was das ist: Rassismus. Aber davon kann keine Rede sein. Grund dafür ist ein Paradigmenwechsel in der kritischen Rassismusforschung, der sich „struktureller Rassismus“ nennt. Dessen Konsequenz soll es angeblich sein, dass nur Weiße nicht nur Rassisten sein können, sondern vielmehr sein müssen, und dass nur Nicht-Weiße deren Opfer sind. Der neueste Schrei der kritischen Antirassisten ist es also, dass sie selbst in rassistischen Kategorien denken – und es nicht einmal bemerken.
 
Vor ein paar Jahrzehnten sah das noch ganz anders aus. Im Jahre 1982 definierte der tunesisch-französische Soziologe Albert Memmi Rassismus in seinem einflussreichen Buch „Le racisme. Description, définition, traitement“ noch als einen Dreischritt: Es gehe beim Rassismus 1.) darum, gruppenbezogene Unterschiede zwischen Menschen zu definieren, 2.) diese Unterschiede im Sinne einer Hierarchie zu bewerten und 3.) aus dieser Bewertung Vorteile für die eigene Gruppe und Nachteile für die anderen abzuleiten.
 
Memmi war fest davon überzeugt, dass alle drei Schritte durchlaufen werden müssen, um überhaupt von „Rassismus“ sprechen zu können. Die bloße Unterscheidung von Menschengruppen anhand ihres äußeren Erscheinungsbildes jedenfalls zählte er nicht zum Phänomenbereich „Rassismus“: „Das Hervorheben eines wie immer gearteten Unterschieds ist kein Rassismus, selbst dann nicht, wenn dieser Unterschied zweifelhaft ist. Das Hervorkehren eines nicht existierenden Unterschieds ist kein Vergehen, sondern ein Irrtum oder eine Dummheit.“
 
Heute hätte Memmi mit dieser Position schlechte Karten. Dies gilt spätestens seit der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Jena. Im Jahre 2019 wurde von führenden deutschen Zoologen und Evolutionsforschern die „Jenaer Erklärung“ verabschiedet. Die Botschaft: Das Festhalten an äußeren Unterschieden zwischen Menschengruppen sei nicht eine Voraussetzung des Rassismus, wie noch Memmi behauptete. Es verhalte sich vielmehr genau umgekehrt: Das Konzept der menschlichen „Rassen“ sei als eine Rechtfertigungsideologie das Ergebnis des Rassismus – also der Absicht, andere Menschen für minderwertig zu erklären und sie schlecht zu behandeln. Eine nähere, gar „zoologische“ Begründung hierfür lieferten die Forscher nicht. Wer dennoch am Begriff der Rasse im Sinne äußerer Unterschiede von Menschengruppen festhält, muss dann zwangsläufig des Rassismus bezichtigt werden. Der Rasse-Begriff wäre bloß noch der Rauch, der auf das Feuer namens „Rassismus“ folgt – und es anzeigt.
 
Ohne rassistische Intention kein Rassismus
In Sachen „struktureller Rassismus“ geht es aber um etwas ganz anderes, und insofern befinden sich auch die Autoren der „Jenaer Erklärung“ leider nicht ganz auf der Höhe der Zeit, obwohl sie dem Zeitgeist doch ganz offenbar hinterherzuhecheln suchten. Bei Memmi – und zahlreichen anderen Rassismusforschern – ist „Rassismus“ ein subjektiver Akt, bei dem auf das Denken das Handeln folgt. Ohne rassistische Intention des Rassisten also auch kein Rassismus: Der Rassist ist es, der Unterschiede feststellt, sie hierarchisch bewertet und anschließend „Privilegien“ – wie Memmi sich ausdrückt – für sich und seine Gruppe errichten oder verteidigen will. Etwas, was „rassistisch“ aussehen mag, muss daher gar nicht unbedingt rassistisch sein.
 
Die subjektivistische Konzeption von Rassismus nimmt damit jenen theoretischen Unterschied in sich auf, der auch in der Rechtsprechung von fundamentaler Bedeutung ist: ob ein Übel durch einen Täter wirklich gewollt war (Vorsatz) oder bloß Ergebnis einer Unachtsamkeit ist (Fahrlässigkeit). Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit liegen im Strafrecht nicht nur mitunter mehrere Jahre, sondern auch moralische Abgründe.
 
Die Vertreter der Theorie des „strukturellen Rassismus“ wollen von derartigen Differenzierungen gar nichts wissen. Für sie ist Rassismus kein subjektiver Akt, sondern ein objektives Geschehen. Nichts, was Menschen bewusst produzieren, sondern was „Strukturen“ unbewusst mit Menschen machen. Eine über Jahrhunderte gewachsene Kulturgeschichte, in die rassistische Praktiken und Überzeugungen eingebaut sind, soll so über Sozialisationsprozesse mit Notwendigkeit immer neue Träger rassistischer Akte hervorbringen. Selbst die Rassisten erscheinen vor diesem Hintergrund in gewisser Weise als Opfer des Rassismus als Struktur. Es handelt sich um eine Form des Marxismus in rassismuskritischem Gewande.
 
Mit der Abkoppelung des Rassismusvorwurfs von der Absicht der Subjekte wird der Rassismus-Begriff indes uferlos und harmlos zugleich. Welche Blüten das treibt, zeigt die Erfolgsautorin Alice Hasters. Sie gesteht ein, dass „nur wenige Menschen Rassisten“ wären, wenn man Rassismus traditionell als „Denkweise begreift, die ausschließlich bewusst und mit böser Absicht erfolgt“. Da aber die statistische Zahl der Rassisten in Deutschland hoch bleiben muss, wird der Rassismusbegriff einfach so ausgeweitet, dass weiterhin möglichst viele unter ihn fallen.
 
Der Gründungsimpuls der Theorie vom „strukturellen Rassismus“ war durchaus plausibel
Die unvermeidbare Folge: Plötzlich gelten Menschen als Rassisten, die von der Theorie des „strukturellen Rassismus“ noch nie etwas gehört haben und die empört sind, wenn man sie als Rassisten tituliert. Alice Hasters indes kann die Aufregung gar nicht verstehen: „Wenn ich jemanden rassistisch nenne, dann hört dieser Mensch meist nicht, was ich ihm oder ihr sage. Was er oder sie hört, ist: ‚Du bist ein schlechter Mensch. Du bist böse. Du bist ein Nazi.’“ Man müsse nur den richtigen Begriff von „Rassismus“ voraussetzen, dann sei es auch nicht zwangsläufig eine Beleidigung, als „Rassist“ bezeichnet zu werden. Freilich funktioniert das nur, wenn man ausblendet, dass es der Rassismus der Nazis war, der in die Gaskammern von Auschwitz führte – und dass „Rassismus“ im politischen Diskurs eine moralisch aufgeladene Ausschlussvokabel ist. Eine Form von Rassismus ist es für Hasters dabei bereits, wenn Menschen Menschengruppen anhand ihrer äußeren Merkmale voneinander unterscheiden.
 
Dabei war der Gründungsimpuls der Theorie vom „strukturellen Rassismus“ durchaus plausibel. Zurück geht sie auf den amerikanischen Bürgerrechtler und späteren akademischen Lehrer der amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, Derrick Bell. In den 1960er-Jahren half der junge Jurist im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung Schwarzen dabei, die Rassentrennung in amerikanischen Schulen mit Hilfe von Gerichtsurteilen zu beseitigen. Das war aber nicht das Ende der schulischen Rassentrennung, sondern der Auslöser ihrer Neuerfindung.
 
Um sich der gemeinsamen Beschulung dennoch zu entziehen, entstanden im Süden der Vereinigten Staaten immer mehr Privatschulen für Weiße. Die Rassentrennung wurde fortan nicht mehr auf rechtlichem, sondern auf sozialem Wege realisiert. Es ist diese Erfahrung, die Bell nachhaltig geprägt und überaus pessimistisch gemacht hat: „Racism is an integral, permanent and indestructible component of this society“, schrieb er in seinem wohl einflussreichsten Buch „Faces at the Bottom of the Well“ (1982). Jeder Versuch, den tief in der Gesellschaft strukturell verankerten Rassismus zu beseitigen, würde nur zu Ausweichbewegungen der rassistischen Mehrheitsgesellschaft führen. Selbst in der Wahl Barack Obamas konnte er kein ermutigendes Zeichen, sondern nichts anderes als die anhaltende „hostility and alienation toward black people“ sehen. Bell verstarb, bevor Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten wurde und das Imperium tatsächlich wieder einmal zurückschlug.
 
Man muss sich daher vor Augen führen, dass die Theorie vom „strukturellen Rassismus“ keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann, sondern als Widerstandsbewegung einer durch und durch rassifizierten amerikanischen Gesellschaft verstanden werden muss. Sie ist nicht in erster Linie eine Theorie mit Wahrheitsanspruch, sondern ein Kampfinstrument gegen die ungerechtfertigte Benachteiligung Nicht-Weißer.
 
Beifall der Schuldstolz-Antifaschisten
Die bisweilen bestehende Diskrepanz zwischen rechtlichem Zustand und gesellschaftlicher Wirklichkeit: Das ist ihr eigentlicher Nährboden. Aber die Ungleichzeitigkeit zwischen rechtlicher Regelung und sozialer Realität gilt nicht nur für Umstände in Sachen Rassismus. Es ist der gesellschaftliche Normalfall und daher kein guter Grund, eine besondere Theorie zu erfinden. Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit vermindert daher nicht die Bedeutung von Gesetzen, sondern untermalt umgekehrt ihre Notwendigkeit. Wenn wir bereits in der besten aller Welten lebten, bräuchte es die rechtlichen Normen ja gar nicht.
 
Problematisch und selbstwidersprüchlich wird die Theorie vom „strukturellen Rassismus“ aber in genau dem Moment, in dem sie in rassismuskritischer Absicht selbst in eine Form des Rassismus umschlägt. Wie das geht, hat jüngst die amerikanische Bestseller-Autorin Robin DiAngelo in ihrem Buch „Wir müssen über Rassismus sprechen“ (2020) vorgemacht. Was bei Derrick Bell bereits vor genau vier Jahrzehnten angelegt war, nämlich die angeblich unaufhebbare Spaltung westlicher Gesellschaften in die weißen Privilegierten und ihre nicht-weißen Opfer, baut DiAngelo unter dem tosenden Beifall der Schuldstolz-Antifaschisten zu einer Metaphysik mit religiösen Zügen aus.
 
Auch sie begreift in strukturalistischer Tradition Menschen nicht als eigenverantwortliche Lebewesen, sondern als durch Strukturen bestimmte Spielbälle der Geschichte. Jeder Mensch erscheint ihr genau genommen als nichts anderes als die Geschichte seiner Sozialisation – mit für den Themenkomplex Rassismus verheerenden Konsequenzen: „Eine rassismusfreie Erziehung ist unmöglich, weil Rassismus ein in Kultur und Institutionen verankertes Gesellschaftssystem ist. In dieses System werden wir hineingeboren und haben keinen Einfluss darauf, wie es uns prägt.“ Alle Menschen schauten notwendig durch eine „Rassenbrille“ und könnten diese niemals absetzen. Niemand.
 
Allerdings fallen die Sehstärken dieser „Rassenbrille“ höchst unterschiedlich aus. Bedingt durch die lange Geschichte des Westens habe sich die „Rasse“ der Weißen nämlich strategische Vorteile erarbeitet (white supremacy) und die „Menschen of Colour“ (MoCs), wie es in der deutschen Übersetzung putzigerweise heißt, dauerhaft an den Rand gedrängt. Bis heute würden „Weiße“ von rassistischen Ungleichbehandlungen profitieren, die ihnen als solche durch den determinierenden Effekt der rassistischen Strukturen gar nicht bewusst seien. Oder im Klartext formuliert: Alle Weißen können nicht nur, sondern müssen notwendig samt und sonders Rassisten sein – und alle Nicht-Weißen mit derselben Notwendigkeit ihre Opfer. Weil Rassist wie Opfer allerdings Opfer des strukturellen Rassismus bleiben, rückt der Nicht-Weiße zum Opfer zweiter Ordnung auf.
 
Weiße sollen sich zu ihrer „Rassenbefangenheit“ bekennen
Ganz unverhohlen konstruiert DiAngelo damit Menschengruppen anhand „ethnischer Zuschreibungen“. Nach den Kriterien von Alice Hasters würde sie schon das zu einer Rassistin machen. Aber sie geht noch einen Schritt weiter, indem sie mit diesen äußerlichen Merkmalen hierarchische Wertungen und entsprechende gesellschaftliche Konsequenzen verbindet. Selbst nach den Kriterien Albert Memmis wäre DiAngelo damit als Rassistin zu klassifizieren.
Das Heilmittel, das alle Nicht-MoCs zur Heilung schlucken sollen, ist dabei gewöhnungsbedürftig voraufklärerisch. Die Weißen sollten nach DiAngelo einfach mehr „Rassenbewusstsein“ wagen, sich zu ihrer „Rassenbefangenheit“ bekennen und die unberechtigte Bevorzugung durch die Weltgeschichte schamvoll eingestehen. Da man dem Rassismus aufgrund seiner strukturell prägenden Gewalt angeblich niemals entrinnen kann, wiederaufersteht so die ewige „weiße Rasse“ – aber diesmal von links.
 
Aber diese Form des Antirassismus ist nicht nur in Wahrheit eine Form des Rückfalls in die Welt des Rassismus, sondern auch noch skurril selbstwidersprüchlich. Wenn es denn wahr sein soll, dass man die „Rassenbrille“ niemals absetzen und der rassistischen Erziehung niemals entkommen kann, wie genau ist es dann der Weißen DiAngelo eigentlich gelungen, das Verstricktsein in die eigene weiße Überlegenheit (white supremacy) zu überwinden und den strukturellen Rassismus der Weißen zu entschleiern?
 
Ganz einfach: DiAngelo verdient ihr Geld unter anderem mit Schuldstolz-Seminaren für Weiße, die ihr schlechtes Gewissen und ihre Geldbörse erleichtern wollen – bestimmt auch nicht immer ganz zu unrecht. Und da muss man zu Kompromissen bereit sein. Oder wie Groucho Marx zu sagen pflegte: „Dies sind meine Prinzipien. Falls sie ihnen nicht gefallen, habe ich noch andere.“

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