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Strukturell-rassistischer Antirassismus (Cicero+)
Strukturell-rassistischer Antirassismus (Cicero+)
Rassismus bedeutete ursprünglich einmal, Unterschiede zwischen
Menschengruppen hierarchisch zu bewerten und daraus Nachteile für eine
bestimmte Gruppe abzuleiten - was bewusste Absicht voraussetzt. Anhänger
der These vom „strukturellen Rassismus“ behaupten hingegen, dass weiße
Menschen aufgrund ihrer Sozialisation gar nicht anders können, als
Rassisten zu sein - und argumentieren damit selbst rassistisch. Teil 1
einer neuen Cicero-Serie zu den Auswüchsen der woken Ideologie.
VON MATHIAS BRODKORB am 30. August 2022
Man sollte eigentlich meinen, dass nach Jahrzehnten kritischer Rassismusforschung einigermaßen klar sein müsste, was das ist: Rassismus.
Aber davon kann keine Rede sein. Grund dafür ist ein Paradigmenwechsel
in der kritischen Rassismusforschung, der sich „struktureller Rassismus“
nennt. Dessen Konsequenz soll es angeblich sein, dass nur Weiße nicht
nur Rassisten sein können, sondern vielmehr sein müssen, und dass nur
Nicht-Weiße deren Opfer sind. Der neueste Schrei der kritischen
Antirassisten ist es also, dass sie selbst in rassistischen Kategorien
denken – und es nicht einmal bemerken.
Vor ein paar Jahrzehnten sah das noch ganz anders aus. Im Jahre 1982 definierte der tunesisch-französische Soziologe Albert Memmi
Rassismus in seinem einflussreichen Buch „Le racisme. Description,
définition, traitement“ noch als einen Dreischritt: Es gehe beim
Rassismus 1.) darum, gruppenbezogene Unterschiede zwischen Menschen zu
definieren, 2.) diese Unterschiede im Sinne einer Hierarchie zu bewerten
und 3.) aus dieser Bewertung Vorteile für die eigene Gruppe und
Nachteile für die anderen abzuleiten.
Memmi war fest davon überzeugt, dass alle drei Schritte durchlaufen
werden müssen, um überhaupt von „Rassismus“ sprechen zu können. Die
bloße Unterscheidung von Menschengruppen anhand ihres äußeren
Erscheinungsbildes jedenfalls zählte er nicht zum Phänomenbereich
„Rassismus“: „Das Hervorheben eines wie immer gearteten Unterschieds ist
kein Rassismus, selbst dann nicht, wenn dieser Unterschied zweifelhaft
ist. Das Hervorkehren eines nicht existierenden Unterschieds ist kein
Vergehen, sondern ein Irrtum oder eine Dummheit.“
Heute hätte Memmi mit dieser Position schlechte Karten. Dies gilt
spätestens seit der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen
Gesellschaft in Jena. Im Jahre 2019 wurde von führenden deutschen
Zoologen und Evolutionsforschern die „Jenaer Erklärung“ verabschiedet.
Die Botschaft: Das Festhalten an äußeren Unterschieden zwischen
Menschengruppen sei nicht eine Voraussetzung des Rassismus, wie noch
Memmi behauptete. Es verhalte sich vielmehr genau umgekehrt: Das Konzept
der menschlichen „Rassen“ sei als eine Rechtfertigungsideologie das
Ergebnis des Rassismus – also der Absicht, andere Menschen für
minderwertig zu erklären und sie schlecht zu behandeln. Eine nähere, gar
„zoologische“ Begründung hierfür lieferten die Forscher nicht. Wer
dennoch am Begriff der Rasse im Sinne äußerer Unterschiede von
Menschengruppen festhält, muss dann zwangsläufig des Rassismus
bezichtigt werden. Der Rasse-Begriff wäre bloß noch der Rauch, der auf
das Feuer namens „Rassismus“ folgt – und es anzeigt.
In Sachen „struktureller Rassismus“ geht es aber um etwas ganz
anderes, und insofern befinden sich auch die Autoren der „Jenaer
Erklärung“ leider nicht ganz auf der Höhe der Zeit, obwohl sie dem
Zeitgeist doch ganz offenbar hinterherzuhecheln suchten. Bei Memmi – und
zahlreichen anderen Rassismusforschern – ist „Rassismus“ ein
subjektiver Akt, bei dem auf das Denken das Handeln folgt. Ohne
rassistische Intention des Rassisten also auch kein Rassismus: Der
Rassist ist es, der Unterschiede feststellt, sie hierarchisch bewertet
und anschließend „Privilegien“ – wie Memmi sich ausdrückt – für sich und
seine Gruppe errichten oder verteidigen will. Etwas, was „rassistisch“
aussehen mag, muss daher gar nicht unbedingt rassistisch sein.
Die subjektivistische Konzeption von Rassismus nimmt damit jenen
theoretischen Unterschied in sich auf, der auch in der Rechtsprechung
von fundamentaler Bedeutung ist: ob ein Übel durch einen Täter wirklich
gewollt war (Vorsatz) oder bloß Ergebnis einer Unachtsamkeit ist
(Fahrlässigkeit). Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit liegen im
Strafrecht nicht nur mitunter mehrere Jahre, sondern auch moralische
Abgründe.
Die Vertreter der Theorie des „strukturellen Rassismus“ wollen von
derartigen Differenzierungen gar nichts wissen. Für sie ist Rassismus
kein subjektiver Akt, sondern ein objektives Geschehen. Nichts, was
Menschen bewusst produzieren, sondern was „Strukturen“ unbewusst mit
Menschen machen. Eine über Jahrhunderte gewachsene Kulturgeschichte, in
die rassistische Praktiken und Überzeugungen eingebaut sind, soll so
über Sozialisationsprozesse mit Notwendigkeit immer neue Träger
rassistischer Akte hervorbringen. Selbst die Rassisten erscheinen vor
diesem Hintergrund in gewisser Weise als Opfer des Rassismus als
Struktur. Es handelt sich um eine Form des Marxismus in
rassismuskritischem Gewande.
Mit der Abkoppelung des Rassismusvorwurfs von der Absicht der
Subjekte wird der Rassismus-Begriff indes uferlos und harmlos zugleich.
Welche Blüten das treibt, zeigt die Erfolgsautorin Alice Hasters.
Sie gesteht ein, dass „nur wenige Menschen Rassisten“ wären, wenn man
Rassismus traditionell als „Denkweise begreift, die ausschließlich
bewusst und mit böser Absicht erfolgt“. Da aber die statistische Zahl
der Rassisten in Deutschland hoch bleiben muss, wird der
Rassismusbegriff einfach so ausgeweitet, dass weiterhin möglichst viele
unter ihn fallen.
Der Gründungsimpuls der Theorie vom „strukturellen Rassismus“ war durchaus plausibel
Die unvermeidbare Folge: Plötzlich gelten Menschen als Rassisten, die
von der Theorie des „strukturellen Rassismus“ noch nie etwas gehört
haben und die empört sind, wenn man sie als Rassisten tituliert. Alice
Hasters indes kann die Aufregung gar nicht verstehen: „Wenn ich jemanden
rassistisch nenne, dann hört dieser Mensch meist nicht, was ich ihm
oder ihr sage. Was er oder sie hört, ist: ‚Du bist ein schlechter
Mensch. Du bist böse. Du bist ein Nazi.’“ Man müsse nur den richtigen
Begriff von „Rassismus“ voraussetzen, dann sei es auch nicht
zwangsläufig eine Beleidigung, als „Rassist“ bezeichnet zu werden.
Freilich funktioniert das nur, wenn man ausblendet, dass es der
Rassismus der Nazis war, der in die Gaskammern von Auschwitz führte –
und dass „Rassismus“ im politischen Diskurs eine moralisch aufgeladene
Ausschlussvokabel ist. Eine Form von Rassismus ist es für Hasters dabei
bereits, wenn Menschen Menschengruppen anhand ihrer äußeren Merkmale
voneinander unterscheiden.
Dabei war der Gründungsimpuls der Theorie vom „strukturellen
Rassismus“ durchaus plausibel. Zurück geht sie auf den amerikanischen
Bürgerrechtler und späteren akademischen Lehrer der amerikanischen
Juristin Kimberlé Crenshaw, Derrick Bell.
In den 1960er-Jahren half der junge Jurist im Rahmen der
Bürgerrechtsbewegung Schwarzen dabei, die Rassentrennung in
amerikanischen Schulen mit Hilfe von Gerichtsurteilen zu beseitigen. Das
war aber nicht das Ende der schulischen Rassentrennung, sondern der Auslöser ihrer Neuerfindung.
Um sich der gemeinsamen Beschulung dennoch zu entziehen, entstanden
im Süden der Vereinigten Staaten immer mehr Privatschulen für Weiße. Die
Rassentrennung wurde fortan nicht mehr auf rechtlichem, sondern auf
sozialem Wege realisiert. Es ist diese Erfahrung, die Bell nachhaltig
geprägt und überaus pessimistisch gemacht hat: „Racism is an integral,
permanent and indestructible component of this society“, schrieb er in
seinem wohl einflussreichsten Buch „Faces at the Bottom of the Well“
(1982). Jeder Versuch, den tief in der Gesellschaft strukturell
verankerten Rassismus zu beseitigen, würde nur zu Ausweichbewegungen der
rassistischen Mehrheitsgesellschaft führen. Selbst in der Wahl Barack Obamas
konnte er kein ermutigendes Zeichen, sondern nichts anderes als die
anhaltende „hostility and alienation toward black people“ sehen. Bell
verstarb, bevor Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten wurde und das Imperium tatsächlich wieder einmal zurückschlug.
Man muss sich daher vor Augen führen, dass die Theorie vom
„strukturellen Rassismus“ keine Allgemeingültigkeit für sich
beanspruchen kann, sondern als Widerstandsbewegung einer durch und durch
rassifizierten amerikanischen Gesellschaft verstanden werden muss. Sie
ist nicht in erster Linie eine Theorie mit Wahrheitsanspruch, sondern
ein Kampfinstrument gegen die ungerechtfertigte Benachteiligung
Nicht-Weißer.
Beifall der Schuldstolz-Antifaschisten
Die bisweilen bestehende Diskrepanz zwischen rechtlichem Zustand und
gesellschaftlicher Wirklichkeit: Das ist ihr eigentlicher Nährboden.
Aber die Ungleichzeitigkeit zwischen rechtlicher Regelung und sozialer
Realität gilt nicht nur für Umstände in Sachen Rassismus. Es ist der
gesellschaftliche Normalfall und daher kein guter Grund, eine besondere
Theorie zu erfinden. Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit
vermindert daher nicht die Bedeutung von Gesetzen, sondern untermalt
umgekehrt ihre Notwendigkeit. Wenn wir bereits in der besten aller
Welten lebten, bräuchte es die rechtlichen Normen ja gar nicht.
Problematisch und selbstwidersprüchlich wird die Theorie vom
„strukturellen Rassismus“ aber in genau dem Moment, in dem sie in
rassismuskritischer Absicht selbst in eine Form des Rassismus umschlägt.
Wie das geht, hat jüngst die amerikanische Bestseller-Autorin Robin
DiAngelo in ihrem Buch „Wir müssen über Rassismus sprechen“
(2020) vorgemacht. Was bei Derrick Bell bereits vor genau vier
Jahrzehnten angelegt war, nämlich die angeblich unaufhebbare Spaltung
westlicher Gesellschaften in die weißen Privilegierten und ihre
nicht-weißen Opfer, baut DiAngelo unter dem tosenden Beifall der
Schuldstolz-Antifaschisten zu einer Metaphysik mit religiösen Zügen aus.
Auch sie begreift in strukturalistischer Tradition Menschen nicht als
eigenverantwortliche Lebewesen, sondern als durch Strukturen bestimmte
Spielbälle der Geschichte. Jeder Mensch erscheint ihr genau genommen als
nichts anderes als die Geschichte seiner Sozialisation – mit für den
Themenkomplex Rassismus verheerenden Konsequenzen: „Eine rassismusfreie
Erziehung ist unmöglich, weil Rassismus ein in Kultur und Institutionen
verankertes Gesellschaftssystem ist. In dieses System werden wir
hineingeboren und haben keinen Einfluss darauf, wie es uns prägt.“ Alle
Menschen schauten notwendig durch eine „Rassenbrille“ und könnten diese
niemals absetzen. Niemand.
Allerdings fallen die Sehstärken dieser „Rassenbrille“ höchst
unterschiedlich aus. Bedingt durch die lange Geschichte des Westens habe
sich die „Rasse“ der Weißen nämlich strategische Vorteile erarbeitet
(white supremacy) und die „Menschen of Colour“ (MoCs), wie es in der
deutschen Übersetzung putzigerweise heißt, dauerhaft an den Rand
gedrängt. Bis heute würden „Weiße“ von rassistischen
Ungleichbehandlungen profitieren, die ihnen als solche durch den
determinierenden Effekt der rassistischen Strukturen gar nicht bewusst
seien. Oder im Klartext formuliert: Alle Weißen können nicht nur,
sondern müssen notwendig samt und sonders Rassisten sein – und alle
Nicht-Weißen mit derselben Notwendigkeit ihre Opfer. Weil Rassist wie
Opfer allerdings Opfer des strukturellen Rassismus bleiben, rückt der
Nicht-Weiße zum Opfer zweiter Ordnung auf.
Weiße sollen sich zu ihrer „Rassenbefangenheit“ bekennen
Ganz unverhohlen konstruiert DiAngelo damit Menschengruppen anhand
„ethnischer Zuschreibungen“. Nach den Kriterien von Alice Hasters würde
sie schon das zu einer Rassistin machen. Aber sie geht noch einen
Schritt weiter, indem sie mit diesen äußerlichen Merkmalen hierarchische
Wertungen und entsprechende gesellschaftliche Konsequenzen verbindet.
Selbst nach den Kriterien Albert Memmis wäre DiAngelo damit als
Rassistin zu klassifizieren.
Das Heilmittel, das alle Nicht-MoCs zur Heilung schlucken sollen, ist
dabei gewöhnungsbedürftig voraufklärerisch. Die Weißen sollten nach
DiAngelo einfach mehr „Rassenbewusstsein“ wagen, sich zu ihrer
„Rassenbefangenheit“ bekennen und die unberechtigte Bevorzugung durch
die Weltgeschichte schamvoll eingestehen. Da man dem Rassismus aufgrund
seiner strukturell prägenden Gewalt angeblich niemals entrinnen kann,
wiederaufersteht so die ewige „weiße Rasse“ – aber diesmal von links.
Aber diese Form des Antirassismus ist nicht nur in Wahrheit eine Form
des Rückfalls in die Welt des Rassismus, sondern auch noch skurril
selbstwidersprüchlich. Wenn es denn wahr sein soll, dass man die
„Rassenbrille“ niemals absetzen und der rassistischen Erziehung niemals
entkommen kann, wie genau ist es dann der Weißen DiAngelo eigentlich
gelungen, das Verstricktsein in die eigene weiße Überlegenheit (white
supremacy) zu überwinden und den strukturellen Rassismus der Weißen zu
entschleiern?
Ganz einfach: DiAngelo verdient ihr Geld unter anderem mit
Schuldstolz-Seminaren für Weiße, die ihr schlechtes Gewissen und ihre
Geldbörse erleichtern wollen – bestimmt auch nicht immer ganz zu
unrecht. Und da muss man zu Kompromissen bereit sein. Oder wie Groucho
Marx zu sagen pflegte: „Dies sind meine Prinzipien. Falls sie ihnen
nicht gefallen, habe ich noch andere.“
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