Zürich, 40 Jahre später. Wieder sorgt eine unbekannte Krankheit für Unsicherheit. Wieder sind fast ausschliesslich Männer betroffen, die Sex mit Männern haben (MSM). Diesmal halten sich die Medien zunächst damit zurück, die Krankheit mit dieser Gruppe in Verbindung zu bringen. Doch mit der Zunahme der Fälle wächst die Verunsicherung. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) lanciert eine Präventionskampagne, die sich explizit an die MSM-Community richtet. Die Aids-Hilfe Schweiz warnt vor einer erneuten Stigmatisierung.
Und: Die Krankheit zieht weitere Kreise. Sind zunächst vor allem Männer mit mehreren Sexualpartnern betroffen, betrifft die Krankheit zunehmend auch solche mit wenigen Sexualkontakten.
Obwohl die Krankheit – die Affenpocken – nur in den seltensten Fällen tödlich und eine Impfung dagegen vorhanden, wenn auch hierzulande noch nicht verfügbar ist, erinnert ihr Ausbruch zum Teil doch an den Beginn der Aids-Epidemie vor 40 Jahren.
«Auf den ersten Blick sind die Parallelen nicht von der Hand zu weisen», sagt Andreas Lehner, Geschäftsführer der Aids-Hilfe Schweiz. «Dennoch sollte man vorsichtig damit sein, sie zu stark zu betonen.» Es ist ein schmaler Grat zwischen Aufklärung dank einem griffigen Vergleich – und dem Schüren von Angst vor einem Krankheitsausbruch, der sich in entscheidenden Punkten von der Aids-Epidemie unterscheidet.
Wann ist der Vergleich mit Aids also sinnvoll? Und was können die Betroffenen selbst damit anfangen?
Medizinisch sehr unterschiedlich
Anruf bei Benjamin Hampel, Arzt und Co-Leiter von Checkpoint Zürich, einer medizinischen Beratungsstelle für queere Menschen. Hampel hat bereits über siebzig Personen mit Affenpocken betreut. Er sagt: «Manche Patienten haben schon das Gefühl: 40 Jahre später passiert hier wieder etwas Ähnliches – und wir werden wieder ignoriert. Gerade wer älter ist und den Aids-Ausbruch selbst erlebt hat, sagt zu mir: Das erinnert mich an damals.»
Auch die im internationalen Vergleich langsame Impfstoffzulassung in der Schweiz erinnere manche an die zögerliche Reaktion der Behörden zu Beginn der Aids-Epidemie.
Gefühlt gibt es also für manche Betroffene durchaus Ähnlichkeiten zwischen dem Ausbruch der beiden Krankheiten. Hampel betont jedoch, dort höre die Vergleichbarkeit auch schon wieder auf. Medizinisch seien die Krankheiten grundverschieden. «Das ist heute ein ganz anderes Virus als damals.»
Tatsächlich unterscheiden sich bei Affenpocken und Aids so gut wie alle zentralen Krankheitsmerkmale: Die Affenpockenviren greifen den Körper auf andere Art an, die Krankheit verläuft deutlich schneller und in der Regel milder, und die Gefahr, an ihr zu sterben, ist um ein Vielfaches geringer. Selbst die Übertragung funktioniert anders: Bei Aids läuft sie nur über Blut oder sexuellen Kontakt, bei den Affenpocken vor allem über das Sekret der für die Krankheit typischen Pusteln. Ob auch Blut und Samen infektiös sind, ist derzeit noch unklar.
Und, besonders wichtig: Bei den Affenpocken sind Betroffene viel weniger lange ansteckend. Wenn die letzten der für die Erkrankung typischen Läsionen verheilt sind, besteht in der Regel keine Gefahr mehr.
Angst vor Stigmatisierung
Affenpocken und Aids sind also medizinisch kaum vergleichbar. Aber wie steht es mit den sozialen Auswirkungen der beiden Krankheiten? Es besteht schliesslich eine reale Angst vor Stigmatisierung.
Als der Kanton Zürich Infizierte noch zu einer Isolation zwang, wollten viele Betroffene sich gar nicht erst testen lassen, wie verschiedene Beratungsstellen gegenüber der NZZ berichten. Dies aus Angst, sich bei einem positiven Test gegenüber Arbeitgebern und Familie outen zu müssen.
«Wenn ein positiver Test ein ungewolltes Outing bedeutet, löst das Ängste vor Stigmatisierung und Diskriminierung aus», sagt Andreas Lehner von der Aids-Hilfe Schweiz. Deshalb begrüsst er wie viele andere Fachleute die Aufhebung der Isolationspflicht durch den Kanton, die vor gut einem Monat erfolgte. Damals wurde beschlossen, den Betroffenen nicht mehr das Daheimbleiben zu verordnen, da eine Übertragung ohne engen Körperkontakt sehr unwahrscheinlich sei.
«Es war sinnvoll, die Isolationspflicht aufzuheben», findet auch Dominique Braun, der als Oberarzt die Sexual-Health-Sprechstunde des Universitätsspitals Zürich leitet. «Viele Betroffene wollten sich deshalb davor nicht testen lassen – und konnten so auch keine Hilfe erhalten.»
Wenn die Angst vor Stigmatisierung die richtige Behandlung erschwert, dann erinnert das an den Ausbruch von Aids. Betroffene riskierten damals soziale Isolation, wenn sie offen zu ihrer Krankheit standen.
Dennoch war auch, was die soziale Dimension des Ausbruchs anging, vieles anders als heute bei den Affenpocken.
Andere Ansteckungsorte
Anruf bei André Seidenberg, Arzt und ein Zürcher Pionier bei der Behandlung von Aids-Kranken. Seidenberg sagt: «Damals waren auch viele Drogenabhängige betroffen – das ist heute völlig anders.» Dass die Ansteckung mit den Affenpocken nicht wie bei Aids über Blut oder Sexualverkehr erfolgt, sieht er als den zentralen Unterschied.
«Man kann sich in anderen sozialen Situationen mit direkten Hautkontakten anstecken, sogar auf der Tanzfläche», sagt Seidenberg. Das bedeute, dass auch in der öffentlichen Wahrnehmung ganz andere Ansteckungsherde mit der Krankheit verbunden würden.
Eine Parallele zwischen damals und heute sieht Seidenberg jedoch: «Die Krankheit ist besonders eng mit der Intimsphäre der Betroffenen verbunden.» Wenn sie offen über ihre Krankheit sprechen, steht für sie viel auf dem Spiel – nicht nur medizinisch.
Der Vergleich mit Aids kann also durchaus dabei helfen, einige Aspekte der Erfahrungen von Betroffenen zu verstehen – gerade was die Angst vor Stigmatisierung oder den Frust über das lange Warten auf die Impfung angeht. In vielen – besonders medizinischen – Punkten ist der Ausbruch der Affenpocken allerdings anders gelagert als jener von Aids.
Dort läuft ein Vergleich Gefahr, eher zu Panik als zu Aufklärung beizutragen.
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