Überakademisierung - Abstieg durch Bildung (Spiegel)
Eine Kolumne von Nikolaus Blome, 01.08.2022
Deutschland fehlen Handwerker und
Facharbeiter. Die vergleichende Literaturwissenschaft ist wichtig – aber
nicht im Kampf gegen den Klimawandel oder Putin.
Ich kenne Hans Peter Wollseifer nicht persönlich, aber er muss ein
mutiger Mann sein, denn er hat sich gerade die komplette
Gerechtigkeitsindustrie an den Hals geholt. Als Handwerkspräsident hat
Herr Wollseifer eine »Bildungswende« gefordert, indes nicht so eine, wie
sie immer gefordert wird, damit auch noch die andere Hälfte eines
Geburtsjahrgangs nach dem 18. Geburtstag studieren geht. Herr Wollseifer
hat gesagt, dass im Handwerk eine Viertelmillion Fachkräfte fehlen.
Daraus folgert er: »Die Überakademisierung ist ein Irrweg.«
Ȇberakademisierung
stoppen«, das ist für bestimmte Biotope schlimmer als »Atomkraftwerke
länger laufen lassen« oder Schweinenackensteak zu essen. Es hinterfragt
den Nachkriegs-Imperativ vom Aufstieg durch Bildung. Ȇberakademisierung
stoppen« ist eine Kriegserklärung.
Aufstieg durch Bildung meint in
aller Regel nicht eine Lehre bei »Gas, Wasser, Scheiße«, wie das hoch
ehrbare Sanitärhandwerk auch genannt wird. Aufstieg durch Bildung meint,
gerade auch unter Linken, dass Kinder einen höheren Bildungsabschluss
erreichen sollen als ihre Eltern, mithin, dass sie Abitur machen und
möglichst studieren. Das Ziel war über Jahrzehnte alle Ehren und manch
staatlichen Eingriff wert, mit Ausnahme allerdings der Einser-Inflation
auf manchen Zeugnissen und der weiträumigen Abschaffung der Hauptschule,
weil allein ihr Name stigmatisiere.
Nun aber stellen wir fest, dass
drängendete Zukunftsaufgaben des Landes oder gar des Planeten nicht
fristgerecht zu leisten sind, wenn es in Deutschland zu wenig Klempner
und andere Gewerke der handfesteren Art gibt. Eine (noch) höhere Abitur-
oder Studentenquote wird jedenfalls bei Minister Habecks Projekt von
Millionen Wärmepumpen statt Gas- oder Ölheizungen nicht viel helfen,
ebenso wenig bei den ganzen Windrädern oder der Reparatur von Straßen,
Brücken und Netzen. Das alles nämlich ist Handwerk, weil es nicht nur
mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen gemacht wird. Kurz gesagt: Die
vergleichende Literaturwissenschaft ist wichtig. Aber nicht für das
Erreichen der Klimaziele oder den Sieg über Putin.
Solange es genug
Junge gab, konnte man beides haben: die Aufstiegserzählung der
wachsenden Abiturquote und die Handwerksmeister ihre Lehrlinge. Jetzt
gehen Deutschland die Jungen aus, und wir müssen uns entscheiden. Selbst
die »taz« schreibt, dass es auch »soziale Mobilität nach unten«
brauche, wenn nur so gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse abzudecken
seien. Solche Sätze kannte ich bislang nur von mir selber.
Politiker
wie Gewerkschafter singen zwar sonntags gern das Lob des dualen
Ausbildungssystems, vulgo: von Lehre und Berufsschule. Doch was für sie
zählt und woran sie fast ausschließlich gemessen werden, ist der
Aufstieg in der Gesellschaft. Dieser wird nicht zuletzt an der Zahl von
Abiturienten und Studienanfänger gemessen. Lehrlingsmangel,
Wachstumsbremse, Investitionsstau im Klimaschutz – alles egal,
abgerechnet wird nach Akademisierung.
»Akademikerkinder in die
Produktion«, kontert nun links-launig die »taz«. Das jedoch würde nach
gegenwärtiger Lesart Abstieg bedeuten, und nach bisherigem Verständnis
wäre die Gesellschaft dadurch weniger gut und gerecht. Woran man
erkennt: Dieses bisherige Verständnis wird immer mehr zur bloßen
Zahlenschieberei. Akademisierung ist kein Wert an sich. In den
europäischen Ländern, die sehr hohe Studentenquoten und sehr hohe Jugendarbeitslosenquoten gleichermaßen aufweisen, hat sich das übrigens
längst erwiesen.
Von einfacher Arbeit, auch »ungelernt« genannt, will
ich hier gar nicht groß reden. Die ist so dermaßen unten durch bei den
offiziellen Stellen, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil lieber
Tausende Mitarbeiter als Flughafenpersonal aus der Türkei holen lässt,
als unter hiesigen Arbeitslosen druckvoll Werbung für diese Arbeit zu
machen. Auch im SPIEGEL-Interview mit der neuen Chefin der Bundesagentur
für Arbeit geht es um allerlei , aber nicht um die Frage, warum mehrere
Hunderttausend freier Stellen für Ungelernte nicht aus der Gruppe der
2,3 Millionen Arbeitslosen zu besetzen sind. Wenn es sich bei den 2,3 Millionen ausschließlich um vormalige Facharbeiter handeln sollte, will ich nichts gesagt haben. Dann allerdings müssten mit ihnen die mehreren
Hunderttausend freien Stellen für Facharbeiter besetzt werden können, was jedoch nicht geschieht, weil es an Weiterbildung der Arbeitslosen fehle. Wie man es dreht und wendet, irgendetwas funktioniert da nicht.
Ganz
klar: Bildung ist das Tor zum Leben, jede Aufstiegsgeschichte bedeutet
einen Sieg des Einzelnen und eine Ehre für das ganze Land. Wir sind der
idealen Gesellschaft nahe, wenn jeder und jede aus dem eigenen Leben
machen darf, was er will und kann. Wahr ist aber auch: Es gibt
menschliches Leben ohne Abi oder Studium, und vielleicht können es
manche ganz normalen Menschen einfach auch nicht mehr hören, was sie
bildungsmäßig gefälligst alles aus sich und ihrem Leben machen sollen,
um Anerkennung im juste milieu zu finden. Diejenigen mit Abi und Studium
wiederum sollten erkennen, dass unser Wohl und Wehe in der nächsten
Zeit weniger an ihresgleichen hängen könnte als daran, dass nicht mehr
ganz so viele ihrem Bildungs-Beispiel folgen, sondern ein Handwerk
erlernen. In dieser Frage die Interessen der Einzelnen und der
Allgemeinheit zu versöhnen, ist ein kompliziertes Ding. Doch in Sachen
Akademisierung droht der Aufstieg der Einzelnen einen Abstieg des Ganzen
auszulösen.
PS. Ich kann sie schon hören, die Entgegnungen und
Fragen, ob unsere drei Kinder denn etwa eine Lehre gemacht hätten. Nein,
haben sie nicht, sondern studiert. Aber mal ehrlich, was ändert das für
die Fragen, die hier aufgeworfen sind?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen