04 August 2022

Überakademisierung - Abstieg durch Bildung (Spiegel)

Überakademisierung - Abstieg durch Bildung (Spiegel)
Eine Kolumne von Nikolaus Blome, 01.08.2022
Deutschland fehlen Handwerker und Facharbeiter. Die vergleichende Literaturwissenschaft ist wichtig – aber nicht im Kampf gegen den Klimawandel oder Putin.
Ich kenne Hans Peter Wollseifer nicht persönlich, aber er muss ein mutiger Mann sein, denn er hat sich gerade die komplette Gerechtigkeitsindustrie an den Hals geholt. Als Handwerkspräsident hat Herr Wollseifer eine »Bildungswende« gefordert, indes nicht so eine, wie sie immer gefordert wird, damit auch noch die andere Hälfte eines Geburtsjahrgangs nach dem 18. Geburtstag studieren geht. Herr Wollseifer hat gesagt, dass im Handwerk eine Viertelmillion Fachkräfte fehlen. Daraus folgert er: »Die Überakademisierung ist ein Irrweg.«
»Überakademisierung stoppen«, das ist für bestimmte Biotope schlimmer als »Atomkraftwerke länger laufen lassen« oder Schweinenackensteak zu essen. Es hinterfragt den Nachkriegs-Imperativ vom Aufstieg durch Bildung. »Überakademisierung stoppen« ist eine Kriegserklärung.
Aufstieg durch Bildung meint in aller Regel nicht eine Lehre bei »Gas, Wasser, Scheiße«, wie das hoch ehrbare Sanitärhandwerk auch genannt wird. Aufstieg durch Bildung meint, gerade auch unter Linken, dass Kinder einen höheren Bildungsabschluss erreichen sollen als ihre Eltern, mithin, dass sie Abitur machen und möglichst studieren. Das Ziel war über Jahrzehnte alle Ehren und manch staatlichen Eingriff wert, mit Ausnahme allerdings der Einser-Inflation auf manchen Zeugnissen und der weiträumigen Abschaffung der Hauptschule, weil allein ihr Name stigmatisiere.
Nun aber stellen wir fest, dass drängendete Zukunftsaufgaben des Landes oder gar des Planeten nicht fristgerecht zu leisten sind, wenn es in Deutschland zu wenig Klempner und andere Gewerke der handfesteren Art gibt. Eine (noch) höhere Abitur- oder Studentenquote wird jedenfalls bei Minister Habecks Projekt von Millionen Wärmepumpen statt Gas- oder Ölheizungen nicht viel helfen, ebenso wenig bei den ganzen Windrädern oder der Reparatur von Straßen, Brücken und Netzen. Das alles nämlich ist Handwerk, weil es nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen gemacht wird. Kurz gesagt: Die vergleichende Literaturwissenschaft ist wichtig. Aber nicht für das Erreichen der Klimaziele oder den Sieg über Putin.
Solange es genug Junge gab, konnte man beides haben: die Aufstiegserzählung der wachsenden Abiturquote und die Handwerksmeister ihre Lehrlinge. Jetzt gehen Deutschland die Jungen aus, und wir müssen uns entscheiden. Selbst die »taz« schreibt, dass es auch »soziale Mobilität nach unten« brauche, wenn nur so gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse abzudecken seien. Solche Sätze kannte ich bislang nur von mir selber.
Politiker wie Gewerkschafter singen zwar sonntags gern das Lob des dualen Ausbildungssystems, vulgo: von Lehre und Berufsschule. Doch was für sie zählt und woran sie fast ausschließlich gemessen werden, ist der Aufstieg in der Gesellschaft. Dieser wird nicht zuletzt an der Zahl von Abiturienten und Studienanfänger gemessen. Lehrlingsmangel, Wachstumsbremse, Investitionsstau im Klimaschutz – alles egal, abgerechnet wird nach Akademisierung.
»Akademikerkinder in die Produktion«, kontert nun links-launig die »taz«. Das jedoch würde nach gegenwärtiger Lesart Abstieg bedeuten, und nach bisherigem Verständnis wäre die Gesellschaft dadurch weniger gut und gerecht. Woran man erkennt: Dieses bisherige Verständnis wird immer mehr zur bloßen Zahlenschieberei. Akademisierung ist kein Wert an sich. In den europäischen Ländern, die sehr hohe Studentenquoten und sehr  hohe Jugendarbeitslosenquoten gleichermaßen aufweisen, hat sich das übrigens längst erwiesen.
Von einfacher Arbeit, auch »ungelernt« genannt, will ich hier gar nicht groß reden. Die ist so dermaßen unten durch bei den offiziellen Stellen, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil lieber Tausende Mitarbeiter als Flughafenpersonal aus der Türkei holen lässt, als unter hiesigen Arbeitslosen druckvoll Werbung für diese Arbeit zu machen. Auch im SPIEGEL-Interview mit der neuen Chefin der Bundesagentur für Arbeit geht es um allerlei , aber nicht um die Frage, warum mehrere Hunderttausend freier Stellen für Ungelernte nicht aus der Gruppe der 2,3 Millionen Arbeitslosen zu besetzen sind. Wenn es sich bei den 2,3 Millionen ausschließlich um vormalige Facharbeiter handeln sollte, will ich nichts gesagt haben. Dann allerdings müssten mit ihnen die mehreren
Hunderttausend freien Stellen für Facharbeiter besetzt werden können, was jedoch nicht geschieht, weil es an Weiterbildung der Arbeitslosen fehle. Wie man es dreht und wendet, irgendetwas funktioniert da nicht.
Ganz klar: Bildung ist das Tor zum Leben, jede Aufstiegsgeschichte bedeutet einen Sieg des Einzelnen und eine Ehre für das ganze Land. Wir sind der idealen Gesellschaft nahe, wenn jeder und jede aus dem eigenen Leben machen darf, was er will und kann. Wahr ist aber auch: Es gibt menschliches Leben ohne Abi oder Studium, und vielleicht können es manche ganz normalen Menschen einfach auch nicht mehr hören, was sie bildungsmäßig gefälligst alles aus sich und ihrem Leben machen sollen, um Anerkennung im juste milieu zu finden. Diejenigen mit Abi und Studium wiederum sollten erkennen, dass unser Wohl und Wehe in der nächsten Zeit weniger an ihresgleichen hängen könnte als daran, dass nicht mehr ganz so viele ihrem Bildungs-Beispiel folgen, sondern ein Handwerk erlernen. In dieser Frage die Interessen der Einzelnen und der Allgemeinheit zu versöhnen, ist ein kompliziertes Ding. Doch in Sachen Akademisierung droht der Aufstieg der Einzelnen einen Abstieg des Ganzen auszulösen.

PS. Ich kann sie schon hören, die Entgegnungen und Fragen, ob unsere drei Kinder denn etwa eine Lehre gemacht hätten. Nein, haben sie nicht, sondern studiert. Aber mal ehrlich, was ändert das für die Fragen, die hier aufgeworfen sind?

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