Deutschland hat einen robusten Rechtsstaat, den niemand in Zweifel zieht. Auch von offensichtlichem Wahlbetrug kann keine Rede sein. Dennoch ging es am 26. September 2021 um mehr als die vielbeschriebene Berliner Wurstigkeit. Nur noch einmal zur Vergegenwärtigung: Die Wahlpannen sind auf 25 000 Seiten protokolliert, die das Berliner Verfassungsgericht derzeit auswertet. In vielen Wahllokalen konnten die Bürger noch abstimmen, als sich Olaf Scholz in der «Elefantenrunde» bereits zum neuen Bundeskanzler erklärte.
Wahlzettel fehlten, waren vertauscht oder wurden einfach kopiert und unbeaufsichtigt von einem Wahllokal zum nächsten getragen. 73 Wahllokale waren vorübergehend wegen fehlender Wahlunterlagen geschlossen. In vielen Wahllokalen stimmte die Zahl der eingeworfenen Wahlzettel nicht mit der Zahl der ausgegebenen Wahlunterlagen überein. Dass es keinen Wahlbetrug gab, ist wohl eher Zufall. Denn wenn jemand hätte manipulieren wollen, hätte es kaum einfacher sein können.
Kompetenzwirrwarr und Doppelstrukturen
Dabei sind die Probleme vielschichtig, weswegen sich Experten mit Ratschlägen für die Zukunft so schwertun. Am Kompetenzwirrwarr zeigt sich das eigentliche Dilemma. Über die Gültigkeit der Bundestagswahl entscheidet der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages, der aus Abgeordneten zusammengesetzt ist. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus sind es aber nicht die Abgeordneten, die über Wahlpannen entscheiden, sondern das Landesverfassungsgericht. Solche Doppelstrukturen sind von ihrer Logik her schwer zu erklären und erst recht nicht effizient.
Bundeswahlleiter Thiel verlangte eine Neuwahl zum Bundestag in sechs von zwölf Berliner Wahlkreisen. 1,3 Millionen Menschen wären damit nochmals zur Abstimmung gerufen. Diesem Vorschlag schloss sich auch die CDU an. «Es handelt sich in der Tat um systemisches Versagen in Berlin von einem ungeheuren Ausmass. Das dürfte noch viel grösser sein als das, was nachzuweisen ist, weil die Niederschriften der Wahlvorstände gar nicht vorliegen oder unvollständig oder fehlerhaft sind», sagt der CDU-Obmann im Wahlprüfungsausschuss, Patrick Schnieder. Insgesamt müsse in mehr als 1200 Wahllokalen eine Neuwahl erfolgen, also in dreimal so vielen Wahllokalen, wie es die Ampelkoalition vorschlägt.
Bundeswahlleiter Thiel verwies bei einer Anhörung im Mai im Wahlprüfungsausschuss im Bundestag darauf, dass sein Einspruch gegen das Ergebnis einer Bundestagswahl der erste in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen sei. «Ich frage Sie, was muss sonst noch passieren, dass wir Wahlen als nicht optimal gelaufen oder rechtswidrig oder wiederholungsfähig ansehen», sagte er zu den anwesenden Abgeordneten. Dazu muss man wissen: Die Position des Bundeswahlleiters gleicht einem «König ohne Land». Er selbst hat kaum Aufklärungsmöglichkeiten, sein Einspruch ist nicht bindend. Der Bundeswahlleiter ist in Deutschland auch und in erster Linie Präsident des Statistischen Bundesamtes (Destatis).
Die Ampelkoalition im Wahlprüfungsausschuss hält dagegen eine wie von Thiel geforderte Neuwahl für unnötig. Ihre Stichworte heissen «Mandatsrelevanz» und «Verhältnismässigkeit einer Wahlwiederholung». Dabei ist es überhaupt nicht quantifizierbar, wie viele Menschen nicht wählen konnten und wie viele Stimmen durch falsche oder nicht ausgehändigte Wahlzettel verlorengegangen sind.
Ein Interessenkonflikt der Abgeordneten?
Viel entscheidender für viele Abgeordnete sind dabei offenbar die möglichen Konsequenzen, die ihre Fraktion zu tragen hätte. Mehrere Berliner Abgeordnete von SPD, CDU und FDP, die über die Landeslisten ihrer Parteien in den Bundestag gekommen sind, müssten um ihren Job zittern. Laut einer Berechnung beim Bundeswahlleiter wären bei einer wiederholten Abstimmung bis zu acht Mandate bedroht. Die Linkspartei könnte – zumindest theoretisch – ganz aus dem Bundestag fliegen. Ihren Einzug verdankt sie drei gewonnenen Wahlkreisen, zwei davon in Berlin.
Es stellt sich die prinzipielle Frage: Gibt es womöglich einen Interessenkonflikt, wenn Abgeordnete über Mandate entscheiden und nicht unabhängige Gerichte? In vielen anderen Ländern ist Letzteres gängige Praxis, wodurch zumindest die Transparenz steigt. Auf Landesebene wird in Berlin dieser Weg gegangen. Auch gegen die Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses kann vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt werden. Doch solche Verfahren ziehen sich in die Länge. Dann neigt sich die Legislaturperiode womöglich ihrem Ende entgegen, und der nächste Wahlkampf naht.
Warum also die Aufregung? Das Wahlrecht ist die tragende Säule einer Demokratie. Und bei einer Wahl ist jede Stimme gleich viel wert. Kein anderes universelles Grundrecht besteht so eindeutig den Praxistest.
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