07 August 2022

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer: Die Welt in der Krise

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer: 

Die Welt in der Krise
Corona, Krieg, Inflation, Klimawandel, Energienotstand – die Welt hat momentan mit einigen starken Turbulenzen zu kämpfen. Das Ergebnis ist Chaos auf globaler Ebene. Woher kommt dieser Ordnungsverlust? Eine Analyse von Joschka Fischer vom 02.08.2022.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es in den letzten 75 Jahren jemals eine derart massive Kumulation größerer und kleinerer Schocks gegeben hätte. Die Welt hat heute mit einem sich verschärfenden Klimawandel, einer Pandemie, größeren Kriegen, einer steigenden Inflation, Störungen des internationalen Handels und der Versorgungsketten sowie einer akuten Nahrungsmittel- und Energieknappheit zu kämpfen.

Ein erheblicher Teil dieser Turbulenzen ist auf neue (und erneute) Rivalitäten zwischen den Großmächten zurückzuführen. Dies hatte unübersehbare und chaotische Folgen, die in Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ihren Höhepunkt fanden.

Man muss kein Untergangsprophet sein, um vorauszusehen, dass dieser Konflikt nur ein Akt in einer längeren Tragödie sein wird.

In Ostasien droht der Anspruch Chinas auf Taiwan ebenfalls zu einer militärischen Eskalation zu führen. Und im Nahen Osten könnte das laufende iranische Atomprogramm nur allzu leicht einen größeren militärischen Konflikt auslösen.

Kurz gesagt, wir sind Zeugen des Endes der Pax Americana, die nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 70 Jahre lang die Grundlage der internationalen Beziehungen bildete. Nachdem die Vereinigten Staaten aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts als Sieger hervorgegangen waren, gewannen sie auch den darauf folgenden Kalten Krieg. In dieser Zeit garantierten sie Frieden und Stabilität in Europa - das 1945 weitgehend zerstört worden war - und legten den Grundstein für neue multilaterale Handels- und Völkerrechtssysteme unter dem Dach der Vereinten Nationen, deren Mitgliederzahl sich infolge der Entkolonialisierung erweiterte. Doch mit dem Aufstieg Chinas und anderer Länder ist die Pax Americana - die gewiss nicht perfekt war - einer stärkeren multipolaren Realität gewichen.

Insbesondere seit Beginn dieses Jahrhunderts befindet sich die Weltwirtschaft in einem grundlegenden technologischen Wandel. Die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz führen zu einer radikalen Umstrukturierung der führenden Volkswirtschaften und zu einer globalen Neugewichtung der politischen Macht.

Seit der Finanzkrise von 2008 sind die globalen Verhältnisse noch chaotischer geworden und haben fatale Fehler in den westlichen Annahmen offenbart.

Europa hat sich der Illusion hingegeben, dass eine Energiepartnerschaft mit Russland Frieden und Stabilität auf dem Kontinent sichern würde. Und die US-amerikanischen Staats- und Regierungschefs glaubten fälschlicherweise, dass die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation und andere multilaterale Vereinbarungen unweigerlich zu einer Demokratisierung des Landes führen würde.

In beiden Fällen waren die westlichen Politiker blind für die strategischen Absichten und Ziele der russischen und chinesischen Führung. Sie waren so sehr von der universellen Attraktivität ihres eigenen Zivilisationsmodells überzeugt, dass sie die politischen Folgen der von ihnen akzeptierten wirtschaftlichen Abhängigkeiten nicht voraussehen konnten.

Die Rechnung für diese Naivität ist jetzt fällig und sie wird hoch sein.

China hat sich schnell zu einem technologischen Rivalen des Westens und insbesondere der USA entwickelt, was die Sowjetunion selbst auf dem Höhepunkt des "Sputnik-Schocks" nicht behaupten konnte. Es bleibt abzuwarten, wohin diese neue Phase des systemischen globalen Wettbewerbs führen wird, aber man kann mit Sicherheit sagen, dass China eine harte Nuss sein wird, die es zu knacken gilt. Darüber hinaus wird der neue Großmächte-Wettbewerb unter völlig neuen globalen Bedingungen ausgetragen werden. COVID-19 und der Klimawandel haben das globale wirtschaftliche und politische Kalkül grundlegend verändert und werden dies auch weiterhin tun.

Wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Treibhausgasemissionen in dem notwendigen Tempo zu reduzieren, um die globale Erwärmung einzudämmen, steuert sie auf eine Ära irreversibler und potenziell unkontrollierbarer globaler Krisen zu. Schlimmer noch, aufgrund der neuen globalen Wettbewerbsdynamik werden die Großmächte auf eine verstärkte Konfrontation zusteuern, obwohl die Herausforderungen, vor denen wir stehen, eine engere Zusammenarbeit erfordern. Dies ist die wahre Tragödie des Krieges des russischen Präsidenten Wladimir Putin:

Abgesehen von der mutwilligen Zerstörung und dem unsäglichen menschlichen Leid kostet die Ukraine-Krise die Menschheit wertvolle Zeit, die sie nicht hat.

Eine letzte Krise sollte hier noch erwähnt werden. Inmitten all des globalen Chaos haben die USA auch tiefe innenpolitische Probleme, die ihre Zukunft als stabile, funktionierende Demokratie infrage stellen. Am 6. Januar 2021 gab es den ersten Putschversuch in der Geschichte des Landes. Wie der Ausschuss des Repräsentantenhauses gezeigt hat, versuchte Donald Trump die Wahl 2020 zu kippen, indem er die Wahlbeamten der Bundesstaaten einschüchterte, "gefälschte" Wahlvorschläge für das Wahlkollegium arrangierte und schließlich einen gewalttätigen Mob zum Sturm auf das US-Kapitol anstachelte. Wird sich die amerikanische Demokratie als widerstandsfähig genug erweisen, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert, oder wird Trump oder eine Trump-ähnliche Figur dort Erfolg haben, wo der "Probelauf" vom 6. Januar gescheitert ist?

Diese Frage wird entscheidend sein, nicht nur für die USA und ihre Demokratie, sondern auch für ihre Verbündeten und die Zukunft der Menschheit im weiteren Sinne. Die Präsidentschaftswahlen 2024 könnten die ersten sein, die direkte zivilisatorische und planetarische Konsequenzen haben.

Es ist kein Zufall, dass das Schicksal der Welt im 21. Jahrhundert in der ältesten Demokratie und in dem Land entschieden wird, das die internationale Ordnung in den letzten 75 Jahren getragen hat.

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